Interstellares Artefakt aus ferner Vergangenheit?
Seite 3: Herkunft und Flugbahn
Als die ersten Berechnungen vorlagen, mit denen die Herkunft des Objekts ermittelt werden sollte, deutete alles darauf hin, dass es mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 26 Kilometer pro Sekunde aus Richtung des Sternbilds Leier gekommen war und somit aus dem Wega-System stammen könnte. Allerdings hätte 'Oumuamua bei diesem Tempo 300.000 Jahre benötigt, um die 25 Lichtjahre Distanz zur Erde zu überbrücken. In kosmischer Vorzeit jedoch befand sich die Wega an einer ganz anderen Stelle im Raum. Kein Wunder demnach, dass andere Astronomen den Herkunftsort des kosmischen Nomaden in das erdnächste Sternsystem verorteten: in das Dreifachsystem Alpha-Centauri. Andere wiederum sahen die bis zu 280 Lichtjahre entfernte Carina-Columba-Sternansammlung als Ursprungsort.
Mitte September dieses Jahres präsentierte das Team um Coryn Bailer-Jones im "The Astronomical Journal" weitere vier potentielle Heimatsterne, die allesamt Zwergsterne sind. Unter Auswertung von Datenmaterial von rund 1,3 Milliarden Sternen, welche die ESA-Mission Gaia zuvor gesammelt hatte, konnten die Astronomen die Flugbahn von 'Oumuamua bis 6,3 Millionen Jahre zurückzuverfolgen. Der fremde hochbetagte Besucher, den Bailer-Jones und ihr Team als "ungewöhnlichen Kometen" bezeichneten, hatte demnach eine lange Reise hinter sich.
Seine Odyssee durch den materiearmen interstellaren Raum endete (vorübergehend), als er Anfang September 2017 senkrecht zur Bahnebene der Planeten in das Sonnensystem eintauchte. Er umflog die Sonne in einer Entfernung von 37,6 Millionen Kilometern und erreichte dabei eine Geschwindigkeit von 87,3 Kilometer pro Sekunde.
Die solare Schwerkraft bewirkte eine signifikante kurvenartige Richtungsänderung von 'Oumuamua, der ihn schnurstracks auf Erdkurs brachte. Dabei bewegte sich der Körper während seiner Erdpassage entlang der Sonne, wohin die Fernrohre der automatischen Himmelsdurchmusterung nicht blicken konnten. So richtig in Szene setzte sich der interstellare Besucher erst im vergangenen Dezember.
Zu geringe Abbremsung
Wie Beobachtungen mit dem VLT und dem Weltraumobservatorium Hubble ergaben, entfernte sich das Gebilde schneller von der Sonne als erwartet. Die gemessene Zunahme an Geschwindigkeit war zwar sehr klein und 'Oumuamua verlangsamte sich messbar durch den Zug der Sonne, aber eben nicht so schnell wie von der Himmelsmechanik vorausgesagt.
Normalerweise werden Kometen in der Regel gravitationsbedingt in Sonnennähe beschleunigt. In dieser Phase kommt dann noch ein weiterer Beschleunigungsfaktor hinzu. Denn durch die Hitzeeinwirkung der Sonne kommt es zu der für Kometen charakteristischen Schweifausbildung. Der Körper setzt Gase frei, die wie ein kleines Raketentriebwerk wirken. Erst mit zunehmender Entfernung zur Sonne verliert die Beschleunigung an Intensität. Der Körper wird - immer noch vom Schwerefeld des Sterns eingeholt - mit zunehmender Entfernung abgebremst.
Doch im Dezember 2017 war diese Abbremsung schlichtweg zu gering, die Geschwindigkeit von 'Oumuamua einfach noch zu groß. Da andere Himmelskörper nicht in einem gravitativen Einflussbereich waren, wurde die Kometenthese immer fragwürdiger. Vor allem deshalb, weil Astronomen rund um den Globus selbst mit den besten zur Verfügung stehenden Instrumenten bei 'Oumuamua zu keinem Zeitpunkt während seiner solaren Visite Ausgasungen oder eine ausgedehnte Hülle aus Staub und Gas (Koma) ausmachen konnten. "Wir haben keinen Staub, keine Koma und erst recht nicht einen Schweif gesehen, was sicher ungewöhnlich ist", konstatierte Karen Meech (et al.) von der University in Hawaii kurz vor Weihnachten 2017 in dem Wissenschaftsmagazin "Nature" nüchtern.
Der Vorstoß
Eingedenk dieser Anomalien nahmen sich Abraham Loeb vom Harvard Smithsonian Center for Astrophysics in Cambridge (USA) und Shmuel Bialy die vorliegenden Daten erneut vor und berechneten unter Berücksichtigung folgender Fragestellung alles noch einmal durch: "Wenn keine Kometen-Aktivität vorlag, was hat dann die beobachtete nicht-gravitative Beschleunigung verursacht?", schreiben beide in dem Paper "Could Solar Radiation pressure explain 'Oumulamua's peculiar acceleration?" (s.u.), das auf dem Pre-Print-Server arXiv am 6. November publiziert wurde und weltweit für Schlagzeilen sorgte.
Im Resümee ihres knapp fünfseitigen Aufsatzes liefern die Wissenschaftler die Antwort gleich mit, die ebenso kühn wie faszinierend ist. "Wir haben gezeigt, dass die beobachtete nicht-gravitative Beschleunigung von 'Oumuamua mit dem Strahlungsdruck der Sonne erklärt werden kann", schreibt das Forscher-Duo.
Damit ein Objekt wie 'Oumuamua den schwachen Druck der Sonnenstrahlung überhaupt nutzen und an Geschwindigkeit gewinnen kann, müsse es selbst sehr dünn sein. Es müsste eine Dicke von zirka 0,3 bis 0,9 Millimetern und einen Radius von 20 Metern haben. Nur ein Sonnensegler käme hierfür in Frage, der den Strahlungsdruck des jeweiligen Sterns nutzend, je nach Konstruktion enorm an Fahrt aufnehmen kann, erklären die Autoren der Studie.
Kosmische Sonnensegler (bzw. auch Licht- oder Solarsegler) müssen im Gegensatz zu den historisch hölzernen Bezwingern der sieben Weltmeere nicht gegen Wellen, Wind und Wetter ankämpfen. Angetrieben werden sie durch den Lichtdruck der Sonne. Treffen die von der Sonne ausgesandten Photonen auf die Bespannung des Seglers, erreicht das Leichtbauraumschiff durch den Rückstoß sukzessive eine hohe Geschwindigkeit. Ähnlich wie bei einem Segelschiff, das mit dem Wind fährt, muss sich eine segelnde Raumsonde am Stand der Sonne orientieren, von der die antreibenden Lichtstrahlen ausgehen.
Laut deren Berechnungen könnte eine filigrane und dünne Folie dieser Machart problemlos eine Reisestrecke von 16.000 Lichtjahren meistern, ohne Schiffbruch zu erleiden. Sie könnte das zu erwartende Bombardement interstellarer Partikel schadlos überstehen und auch den zerrenden Gezeitenkräften trotzen. Daraus folgern sie in ihrem Fachaufsatz:
Ziehen wir eine künstliche Herkunft in Betracht, wäre eine Möglichkeit, dass 'Oumuamua ein Lichtsegel ist, das im interstellaren Raum als Überrest eines fortschrittlichen technologischen Geräts treibt. Lichtsegel mit ähnlichen Dimensionen wurden bereits von unserer eigenen Zivilisation konzipiert und entwickelt, wie etwa das IKARUS-Projekt oder die Starshot-Initiative. Die Lichtsegel-Technologie könnte vielfach als Transportmittel zwischen einzelnen Planeten oder Sternensystemen genutzt werden.
Dass 'Oumuamua wie viele solare Kometen und Asteroiden vom D-Typ eine rote Oberfläche habe, widerspräche nicht der These vom künstlichen Ursprung, weil die Oberfläche von 'Oumuamua während seiner Reise durchs All selbst mit genug interstellaren Staub in Berührung gekommen sei. Beide Wissenschaftler halten auch die Erklärung ihrer Kollegen für unzureichend, wonach die verzögerte Abbremsung von 'Oumuamua sehr kleine, feine unsichtbare Partikeln verursacht hätten. Laut Theorie sollten diese sich von der Oberfläche des Kometen gelöst haben, als dieser sich der Sonne näherte. Dabei wurde ein Rückstoß erzeugt, aber kein Schweif.
Doch für Loeb und Bialy hat sich das Objekt zu keinem Zeitpunkt wie ein klassischer Komet verhalten. Für das "artifizielle Szenario" spräche eben doch die vollkommene Abwesenheit der Koma und des Schweifes bei und um 'Oumuamua. "Niemand hat bei 'Oumuamua einen Schweif gesehen", verdeutlichte Loeb. Außerdem hätte eine Ausgasung die Rotationsgeschwindigkeit von Oumuamua verändert, was jedoch nicht beobachtet wurde. Angesichts dieser Daten verwundert es nicht, dass beide Forscher noch einen Schritt weiter gehen, der stark an Freitas' SETA-Ansatz erinnert:
Ein anderes, weitaus exotischeres Szenarium ist, dass 'Oumuamua vielleicht eine voll funktionstüchtige Raumsonde ist, die von einer außerirdischen Zivilisation absichtlich zur Erde oder ihrer näheren Umgebung gesandt wurde.