Iran und Afghanistan
Vom Unterschied zwischen Wahlfälschung und Wahlfälschung
Für Hamid Karsai, dem die absolute Mehrheit bei den afghanischen Präsidentschaftswahlen zugesprochen wird, gehört der ihm vorgeworfene Wahlbetrug zu einer entstehenden Demokratie. Die deutsche Regierung bemüht sich, die noch im Lauf befindliche Wahl als abgeschlossen zu betrachten, um vor der Bundestagswahl über Rückzugsstrategien aus dem demokratisch befriedeten Afghanistan verhandeln zu können. Dabei zeigt sich im Vergleich mit den Reaktionen auf die wahrscheinliche Wahlfälschung im Iran eine Doppelmoral.
Unter hohem Sicherheitsaufgebot wurden am 20. August 2009 die Wahllokale für die afghanische Präsidentschaftswahl geöffnet. Bei den von den Taliban angekündigten Auseinandersetzungen kam es zu mehr als 50 Toten. Am ersten Tag nach den Wahlen in Afghanistan beanspruchten sowohl der Amtsinhaber Hamid Karsai, als auch sein Opponent Abdullah Abdullah den Wahlsieg für sich und beschuldigten einander des Wahlbetrugs.
In den Wochen nach der Wahl erschien es zunächst so, als würde das Ergebnis der Wahlen nicht ausreichen, um den neuen Amtsinhaber im ersten Wahlgang herauszustellen. Dann schnellte der Anteil der Stimmen für Hamid Karsai nach und nach in die Höhe. In ähnlichem Ausmaß häuften sich die Beschwerden über Wahlfälschungen, von denen die Phantomwahllokale, die dazu dienten, Karsai Stimmen zu verschaffen, nur die bizarrsten Auswüchse darstellen. Obwohl diese Vorgänge dokumentiert werden, halten sich sowohl die Politik als auch die Presse entschieden bedeckt.
Nun hat das „Unabhängige Wahlkomitee“ (IEC) verkündet, dass Karsai bei über 90 Prozent der ausgezählten Stimmen mit 54,1 Prozentpunkten gegenüber seinem stärksten Kontrahenten Abdullah Abdullah (28,3 Prozent) vorne liegt. Mit der somit erreichten absoluten Mehrheit wäre ein zweiter Urnengang, der zur Legetimierung der Wahlen beitragen könnte, überflüssig.
Gleichzeitig mit der Proklamation dieser Zahlen hat die von der UN eingesetzte „Wahlbeschwerdestelle“ (ECC) angekündigt, dass ein Teil der Stimmen wieder ausgezählt werden soll. Seit dem Wahltag gingen bei der ECC 2.375 Beschwerden über Manipulationen ein, von denen 726 als Beschwerden der Kategorie A bezeichnet werden, die den Ausgang der Wahl beeinflussen können.
Insbesondere das Lager Hamid Karsais steht hierbei massiv in der Kritik. Bis zur Überprüfung der Beschwerden darf auch kein amtliches Wahlergebnis verkündet werden. Zunächst wurde angeordnet, Ergebnisse von 600 der 26.000 Wahllokale von der Zählung auszuschließen, was bedeutet, dass maximal 360.000 von 4,5 Millionen Stimmen nicht gezählt werden. Auch sollen Wahlbezirke, in denen mehr als das mögliche Maximum der 600 Stimmen gezählt wurden oder in denen mehr als 95 Prozent der Stimmen auf einen Kandidaten entfallen, überprüft werden. Damit würde die absolute Mehrheit Karsais, der ca. 1,4 Millionen Stimmen Vorsprung vor Abdullah Abdullah hat, nicht angetastet. Dieser bezeichnet die Ergebnisse der von Karsai gelobten Wahlkommission als einen „tragischen Witz“.
Ob es genügt, die Wahllokale herauszurechnen, bei denen es zu Unregelmäßigkeiten gekommen ist, darf jedoch in Frage gestellt werden, da es denkbar ist, dass – um nur ein Szenario zu nennen – insbesondere dort manipuliert wurde, wo ein Stimmenplus für die Opposition erwartet wurde. In diesem Falle würde der Verzicht darauf, diese Stimmen zu zählen, wiederum Vorteile für das Lager Karsai bedeuten. Darüber hinaus besteht auch die Möglichkeit, dass die Manipulationen sich als weitaus massiver herausstellen werden, als bisher angegeben wurde. Dies legt zumindest ein Bericht der New York Times nahe.
Aber selbst wenn es möglich wäre, bei den verbleibenden Stimmen einen Wahlsieger festzustellen, so wäre damit das generelle Problem der Glaubwürdigkeit der Wahlen noch nicht gelöst. Dass die Wähler trotz Androhung von Gewalt von Seiten der Taliban zur Urne gingen, wurde von den westlichen Medien als ein Exporterfolg der demokratischen Regierungsform gefeiert. Die Bilder von afghanischen Wählern, die ihren geschwärzten Finger in die Kameras hielten, obwohl die Taliban ankündigten, ihnen eben diese abzuschneiden, gingen um die Welt.
Während das Interesse an der demokratischen Beteiligung in einigen Ländern schwindet, wurde lobend anerkannt, dass in der neugeschaffenen Demokratie Menschen ihr Leben einsetzen, um über ihren künftigen Präsidenten zu entscheiden. Dass die afghanische Regierung dabei Informationen über die Bedrohung durch Wahlgegner zurückhielt, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen und dem Prozess mehr Glaubwürdigkeit zu vermitteln, wird weniger stark betont. Wenn nun tatsächlich Interesse daran bestehen sollte, mit der Einführung von Wahlen in Afghanistan Werbung für das Projekt der Demokratie zu machen, so müsste unter anderem gefragt werden, ob sich Karsai nicht als möglicher Kandidat disqualifiziert hat, wenn er für den ihm vorgeworfenen Wahlbetrug in großem Stil verantwortlich zeichnen sollte.
Zweilerlei demokratischer Maßstab
Hält man sich vor Augen, wie vor nur wenigen Monaten auf die vermutlich manipulierten Wahlen im Iran reagiert wurde, fallen deutliche Unterschiede auf. Obwohl aufgrund einer weitgehenden Zensur durch die iranische Regierung der Wahlbetrug nicht derart einfach zu belegen war, wie nun in Afghanistan, waren die Stimmen, die die Wahl anzweifelten, deutlicher. So äußerte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf einer Pressekonferenz vom 19. Juni 2009 folgendermaßen, nachdem sich Ajatollah Ali Chamenei in einer Freitagspredigt Ende Juni hinter Ahmadinedschad stellte:
Die heutige Rede von Chamenei war aus meiner Sicht eher enttäuschend. Aus meiner Sicht kommt es jetzt darauf an, dass die Einsprüche, die bezüglich des Wahlverlaufs gemacht wurden, auch wirklich untersucht und richtig betrachtet werden. Wir setzen darauf, dass dies im Sinne der Gerechtigkeit im Iran in den nächsten Tagen möglich sein wird.
Angela Merkel
Auf der gleichen Pressekonferenz folgte ihr Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) mit den folgenden Worten:
Ich habe großen Respekt vor den mutigen Menschen im Iran, die seit einer Woche fast jeden Tag zu Zehntausenden, zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, um für ihre Überzeugungen und für ein ehrliches Wahlergebnis zu kämpfen.
Frank-Walter Steinmeier
In beiden Positionen zeigt sich, wie auch im überwiegenden Teil der westlichen Presse, eine Unterstützung der Proteste gegen Ahmadinedschads Vorgehen bei der Wahl. Dies mag vor dem Hintergrund der gewaltsamen Unterdrückung der Proteste von Regierungsseite, die nicht übergangen werden darf, verständlich erscheinen. Dennoch wurde in diesen und weiteren Äußerungen deutlich, dass mit dem deutlichen Signal an die iranische Opposition nicht nur der Gerechtigkeit gefördert werden sollte, sondern dass hierin auch eine Chance gesehen wurde, den ohnehin in der Kritik stehenden Präsidenten Ahmadinedschad zu schwächen. Mit dem Gesagten soll weder die Wahl noch das Vorgehen der iranischen Politik gegen jegliche Form von Kritik gerechtfertigt werden, sondern bloß das Auge darauf gerichtet werden, inwiefern sich moralische Standards mit den Interessen verschieben.
Über eine formale Erfüllung der Kriterien einer demokratischen Wahl hinaus scheint zur Zeit wenig Interesse daran zu bestehen, dass die Wahlen in Afghanistan demokratischen Standards entsprechen. So stellte der US-Präsident Obama am 21. August in einer Pressemitteilung über die afghanische Wahl fest: „This was an important step forward in the Afghan people’s effort to take control of their future, even as violent extremists are trying to stand in their way.“ Er betonte auch, dass er vom Mut und der Würde der Afghanen angetan gewesen sei, die angesichts von Einschüchterungen gewählt hätten, wobei er feststellt: „The United States did not support any candidate in this election.“
In der gegenwärtig verhaltenen Kritik an den Wahlen in Afghanistan wird dem Interesse daran gefolgt, die Lage im Land stabil zu halten. Während bei der Kritik an den Wahlen im Iran eine Destabilisierung des Landes gerne in Kauf genommen wurde, scheint in Afghanistan nicht allzu sehr darauf Rücksicht genommen zu werden, wie glaubwürdig die Wahl erscheint. Dies kann jedoch auf längere Sicht die Stabilität im Lande beeinträchtigen, wenn nicht nur die afghanische Regierung in der Bevölkerung angezweifelt wird, sondern das Verhalten derselben auf die demokratische Regierungsform zurückgeführt wird. Deswegen ist es mehr als bedenklich, dass Hamid Karsais Wahlmanipulationen als selbstverständlichen Bestandteil einer jungen Demokratie darstellt.
Man hebt hervor, was politisch opportun ist
Weit ab davon, derartige Aussagen oder den Wahlprozess in Frage zu stellen, wird die Wahl in Afghanistan von der deutschen Bundeskanzlerin als bereits abgeschlossen dargestellt. In einer Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Merkel zu den aktuellen Ereignissen in Afghanistan vom 8. September 2009 zeigt sich die Bemühung, einen demokratischen Fortschritt in Afghanistan festzustellen:
Wir verschließen dabei vor den Unzulänglichkeiten im Umfeld der Wahlen nicht die Augen. Die Überprüfung durch die Wahlbeschwerdekommission ist außerordentlich wichtig. Aber dass es – im Unterschied zu vielen anderen Staaten – eine solche Instanz gibt, zeigt den demokratischen Fortschritt, den wir in Afghanistan schon sehen können.
Angela Merkel
Wenn, so schwingt hier mit, die Demokratie in Afghanistan mehr und mehr Fuß fasst, dann kann sich Deutschland nach und nach aus dem Land zurückziehen. Dabei wird deutlich, dass der noch laufende Prozess der Wahlen schon als abgeschlossen behandelt wird, damit der neuen Regierung so schnell wie möglich mehr Verantwortung aufgelastet werden kann:
Ich bin mit Staatspräsident Sarkozy und Premierminister Brown der Auffassung, dass jetzt, nach der zweiten Präsidentschaftswahl, der richtige Moment ist, um gemeinsam mit der neuen afghanischen Führung am Ende dieses Jahres festzulegen, wie diese Verantwortungsübernahme messbar geschehen kann.
Angela Merkel
Dass es zu einem zweiten Wahlgang kommen könnte, wodurch der Ausgang der Wahlen auf mehrere Monate hinweg unsicher bleibt, wird vor den Wahlen in Deutschland nicht in Erwägung gezogen. Die Möglichkeit einer Neuwahl oder eines zweiten Wahlgangs nach einer wiederholten Auszählung der Stimmen könnte die Verkündung eines Wahlsiegers noch um einige Monate hinauszögern. Ob sich bis dahin die politische Lage im Lande beruhigt haben wird, ist noch nicht abzusehen. Die Zeichen sprechen bisher dagegen.
Eine Verzögerung der Wahlen würde die ohnehin wachsende Unruhe in Afghanistan und den Bedarf nach einer stärkeren Beteiligung der Verbündeten verstärken. Dies würde das unpopuläre Thema in Deutschland jedoch in ein unangenehmes Licht rücken. Damit zeigt sich nach der kritisierten Anforderung des Luftangriffes auf die entführten Tanker, die zu etlichen zivilen Opfern geführt hat, dass die Bundesregierung mit der angedeuteten Vorbereitung einer Exit-Strategie zu sehr in die eigenen Bedürfnisse verstrickt scheint, um auf den Prozess der Demokratisierung in Afghanistan Rücksicht nehmen zu können.