"Is Donald Trump a Manchurian Candidate?"

Screenshot Michael Walter

Zur Renaissance der politischen Paranoia

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Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Richard Hofstadter attestierte 1963 in seinem zum Klassiker avancierten Vortrag "The Paranoid Style in American Politics" seinem Land einen geschichtlich tief verwurzelten Hang zum politischen Verschwörungsdenken. Der dominante zeitgenössische "paranoide Stil", der sich Hofstadter zufolge bis weit ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt, wo wahlweise Illuminaten, Freimaurer oder Jesuiten als finstere Konspiranten fungierten, spiegelte sich für ihn vor allem in der antikommunistischen Verschwörungshysterie wider. Diese fand einige Jahre zuvor in der sogenannten McCarthy-Ära ihren Höhepunkt.

Seit einigen Jahren, insbesondere seit der Annexion der Krim durch Russland, scheint dieser Denkstil im politischen und medialen Diskurs des Westens eine Renaissance in Gestalt eines ausgeprägten antirussischen Verschwörungsdenkens zu erfahren. Nicht nur die geopolitischen Vorzeichen haben sich dabei seit Hofstadters Vortrag verändert. Während er den Ort der politischen Paranoia vor allem bei den "radical rights" sah, hat sich das derzeitige Verschwörungsdenken offenkundig auch auf das linksliberal-progressive Lager ausgedehnt oder gar verlagert.

Augenscheinlichstes Zeugnis davon legt die nun schon mehreren Monaten schwelende Debatte um das konspirative Wirken Russlands im Kontext der US-Wahlen und der Präsidentschaft von Donald Trump ab.

Schon im Wahlkampf wurden angesichts der von Wikileaks veröffentlichten Emails unter anderem von Hillary Clintons Wahlkampfmanager John Podesta Vorwürfe laut, dass russische Hacker hinter den Veröffentlichungen steckten. Die Vorwürfe aus Clintons Wahlkampfteam reichten gar so weit, die Plattform Wikileaks generell als einen "propagandistischen Arm" Putins zu brandmarken.

Richtig in Schwung kam der Diskurs um eine mögliche russische Intervention allerdings erst, nachdem die Washington Post und die New York Times eine "geheime Einschätzung" des CIA zitierten, nach der es handfeste Belege für den vermuteten russischen Eingriff in den US-Wahlkampf geben solle. Diese Nachricht führte trotz einer - übrigens bis zum heutigen Tage - relativ vagen Informationslage, rasch zu einer alarmistischen, bisweilen schrillen Debatte in Politik und Medien, die die Einschätzung der CIA seitdem mehr oder weniger als Faktenwissen betrachten. So sprach etwa der Republikaner John Weaver auf Twitter von einer "9/11-Cyberattacke" oder davon, dass Russland eine "Pearl Harbor-Cyberattacke" durchgeführt habe, um ihre bevorzugte Person ins Weiße Haus zu bringen. Auch der liberale TV-Moderator Keith Olbermann griff auf eine martialische militärische Rhetorik zurück und sah seine Nation gar als Opfer eines - noch - "unblutigen Coup".

We are at war with Russia, or perhaps more correctly we have lost a war with Russia without a battle. We are no longer a sovereign nation, we are no longer a democracy, we are no longer a free people, we are the victims of a bloodless coup - so far a bloodless coup.

Keith Olbermann

Seit der Inauguration Trumps hat die Debatte, forciert durch Demokraten und liberale Medien, eine etwas andere Richtung eingeschlagen. Man konzentriert sich seitdem stärker auf dir Frage, ob Trump und Vertreter seiner Administration womöglich selbst aktiv in die russischen Operationen involviert waren oder gar noch sind. Die Aufmerksamkeit richtet sich hierbei vor allem auf als heikel erachtete vergangene Kontakte zwischen der Trump-Administration und russischen Vertretern.

Überall lauert die russische Subversion

Nachdem im Zuge dieser Debatte der Nationale Sicherheitsberater Michael Flynn Mitte Februar aufgrund eines Telefongesprächs vor dem Amtsantritt Trumps mit einem russischen Vertreter, zu dem er falsche Angaben machte, seinen Hut nehmen musste, steht aktuell Justizminister Jeff Sessions am Pranger. Diesem wird vorgeworfen, in seiner Anhörung im Senat Kontakte mit russischen Repräsentanten verschwiegen zu haben. Konkret geht es um zwei Treffen mit dem russischen Botschafter Sergej Kisljak im Jahr 2016, die im Rahmen seiner Funktion als Senator stattgefunden haben.

Davon abgesehen, ob der Justizminister den Senat nun tatsächlich belogen hat oder nicht, ist es verblüffend, welche interpretatorischen Phantasien diese in der Sache eher unspektakulären Begegnungen aktuell freisetzen. So wird vielsagend z.B. von CNN mit Bezug auf angebliche Geheimdiensterkenntnisse angeführt, dass es sich bei Kisljak um einen der russischen Topspionen und Agentenrekrutierer in Washington handele. Nicht minder vielsagend werfen verschiedene Medien, wie z.B. die Online-Newsseite Vox die Frage auf, wieso sich ein ehemaliger "russischer Falke" wie Sessions nach seinem Eintritt in Trumps "Umlaufbahn" plötzlich in einen, wie man hierzulande gerne zu sagen pflegt, "Russlandversteher" verwandelt habe:

But it also raises a set of broader and more explosive questions: What changed for Jeff Sessions when he entered Trump’s orbit that turned him from a Russia hawk into someone eager to do business with the Kremlin? And what does all this coziness between Trump administration surrogates and Moscow mean for US policy, the election, and the country?

Vox

Es sind eben solche Beiträge, die unweigerlich an Hofstadters Diagnose der politischen Paranoia und an das Klima der 1950er Jahre erinnern: Folgt man der amerikanischen Debatte, so scheint in jedem Winkel, hinter jeder Oberfläche die russische Subversion zu lauern - wenn man nur genau genug dahinter blickt. Dies geschieht dabei nicht nur mit Worten. Am augenscheinlichsten materialisiert sich dieser neue Denkstil in der Bildpolitik, mit der man die verborgenen subversiven Umtriebe der Russen sichtbar zu machen sucht, und der sich selbst renommierte und traditionell unaufgeregte Medien wie der New Yorker bedienen.

Ein Artikel des Politmagazins ist mit einem Bildaufmacher illustriert, in dem in Anlehnung an Science-Fiction-Filme wie Independence Day in düsterem Schwarz vor einem blutroten Hintergrund zu sehen ist, wie die auf dem Kopf stehende ikonische russische Basilius-Kathedrale über dem Weißen Haus steht und einen Laserstrahl darauf richtet. Das Bild soll dabei den textlich transportierten Umstand visualisieren, dass Russland sich im großflächigen Krieg gegen westliche Institutionen und Bündnisse befinde.

Online-Medien als zentrales Schlachtfeld

Eine Sichtweise, die keineswegs nur auf die USA beschränkt ist. Die erörterten Verschwörungsimaginationen reihen sich nahtlos ein in eine mittlerweile kaum mehr überschaubare Zahl von politischen und medialen Diskursbeiträgen in der westlichen Welt, die omnipräsente russische konspirative Umtriebe am Werk sehen. Kaum ein politisches Großereignis der letzten Zeit, das nicht in irgendeiner Weise als von den russischen Konspiratoren beeinflusst gesehen wird. Beispiele gibt es zuhauf. So warnten zahlreiche Medienbeiträge nach dem britischen "Brexit"-Votum davor - meist garniert mit einem Bild des diabolisch dreinblickenden Putin -, dass Russland nun den "Zerfall Europas" erhoffe und aktiv vorantreibe.

Generell wird in diesem Zusammenhang immer wieder die Sorge laut, dass Putin die westlichen Gesellschaften destabilisieren wolle und zu diesem Zwecke ein Netzwerk mit europafeindlichen Populisten gebildet habe. Hierfür wird auch gerne auf die Flüchtlingskrise verwiesen, die Putin angeblich strategisch zu nutzen sucht, um die EU zu spalten oder doch zumindest Angela Merkel durch verdeckte Operationen vom Regierungssessel zu stürzen.

In Deutschland scheint man angesichts dieser Befunde besonders besorgt. So fürchten Politiker, Journalisten und Wissenschaftler auch hinsichtlich der anstehenden Bundestagswahlen gravierende Einflussversuche. Susan Stewart entwirft für die "Stiftung Wirtschaft und Politik" in einem Beitrag mit dem Titel "Russland lanciert eine facettenreiche Kampagne zur Diskreditierung Deutschlands" ein mögliches zukünftiges Szenario, in dem Russland etwa über die Einflussnahme auf Russlanddeutsche, AFD und anderen populistischen Gruppierungen versucht, die Wiederwahl Angela Merkels zu verhindern.

Auch die Bundespolitik ist sich offenkundig dieser zukünftigen Gefahr bewusst. So warnte etwa der FDP-Vorsitzende Christian Lindner vor einiger Zeit: "Es ist schon jetzt absehbar, dass von Russland gesteuerte Online-Medien Fehldeutungen und Falschinformationen verbreiten. Das ist die Spitze des Eisbergs. Damit soll unser Land destabilisiert und die AfD gestärkt werden."

Rückenwind erhalten solche Prognosen auch aus der EU. Jüngst bescheinigten EU-Experten laut ZEIT, dass Deutschland und die Kanzlerin besonders im Fokus der "aggressiven Propaganda" des Kremls stehe. Als zentrales Schlachtfeld werden dabei die Online-Medien betrachtet, die Putin nach Ansicht einiger Journalisten schon seit Jahren klar im Visier hat. Bereits im Juni 2014 wies beispielsweise die Süddeutsche Zeitung in einem Artikel mit dem Titel "Putins Trolle" auf Grundlage einer Datenanalyse darauf, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Nutzerkommentare zu Online-Artikeln von vom Kreml gesteuerten "Trollen" verfasst worden sei, um die öffentliche Meinung in Deutschland zu beeinflussen.

Es wird deutlich: Nicht nur in den USA, auch in Europa und Deutschland wähnt man sich im Fadenkreuz von Russland, das den Kontinent mit Propaganda, Fake News und Desinformationskampagnen überzieht. Dabei finden sich auch bildpolitisch augenscheinliche Parallelen zur USA. Auf der Titelseite der ZEIT vom 23. Februar, um ein einschlägiges Beispiel zu nennen, ist ein Bild des Bundestags zu sehen, über den ein halbtransparentes Fadenkreuz gelegt und das mit der Inschrift "Deutschland im Visier" versehen ist. Selbstredend, wie durch Begleittext und die dazugehörigen Artikel expliziert wird, ist davon auszugehen, dass es ein russischer Vertreter ist, der durch das Fadenkreuz blickt: Mit Cyberangriffen, die, wie die ZEIT betont, auch auf infrastrukturelle Bereiche wie Wasser- und Stromversorgung zielen könnten, strebe der Kreml die fundamentale Zersetzung des Alltagslebens in Deutschland an:

Es geht darum, das Vertrauen der Bürger zu erschüttern: in die Sicherheit des Landes, in die Stabilität des täglichen Lebens, in die Integrität von Personen und Institutionen. Ein alles zersetzender Verdacht soll sich ausbreiten, die Demokratie schwächen - und jene stärken, deren politisches Geschäft die Angst ist. Ein destabilisiertes Deutschland in einer zerstrittenen Europäischen Union wäre schwach gegenüber Russland.

Die Zeit
Screenshot Michael Walter

Gut möglich, dass sich die ZEIT bei ihren dystopischen Phantasien von bereits vermeldeten angeblichen russischen Destabilisierungsoperationen solcher Natur inspirieren ließ. Ende Dezember letzten Jahres berichtete die Washington Post unter Berufung auf anonyme US-Beamte von einer vermeintlichen russischen Cyperoperation auf ein Stromnetz im Bundesstaat Vermont. Wenige Tage später musste die Zeitung jedoch eingestehen, dass es sich bei dem vermeintlichen Hackerangriff wohl doch nur um einen Störung gehandelt habe, die durch den Yahoo-Account eines Mitarbeiters verursacht wurde. Zudem sei nur ein Laptop betroffen gewesen, der laut Stromversorger überhaupt nicht an die Stromnetze angeschlossen war.

Auf der andere Seite des Atlantiks reichte Spiegel Online eine einzige an den litauischen Parlamentspräsidenten adressierte Email, in der behauptet wurde, deutsche Soldaten hätten ein 15 Jahre alte Mädchen vergewaltigt, um daraus, ebenfalls unter Berufung auf anonyme Quellen, einen großangelegten Desinformationsangriff auf die Nato-Ostflanke in Litauen zu machen und in einem reißerischen Artikel zu titeln: "Russland attackiert Bundeswehr mit Fake-News-Kampagne". Auch hier musste der Spiegel kurz danach ein wenig zurückrudern (eine kritische Aufarbeitung findet sich auf Übermedien).

Die dargelegten Manifestationen politischer Paranoia im Sinne Hofstadters stehen in einer langen Tradition des Verschwörungsdenkens der westlichen Welt. Die Verbindungslinien sind offensichtlich. Vergleicht man die derzeitigen Diskursbeiträge zu den verschwörerischen russischen Umtrieben, finden sich erstaunliche Strukturhomologien zum antikommunistischen Verschwörungsdenken, das Hofstadter vor mehr als 40 Jahren bereits beschrieben hat: Seien es nun die bipolare Freund-Feind-Unterscheidung, die sprachliche und visuelle Fokussierung auf die übermächtige, sinistre Figur Vladimir Putin oder die Unterstellung des Einsatzes konspirativer Techniken zur Manipulation der Massen. Der Anschluss an diese tradierten kollektiven Deutungsmuster erzeugt die Wirkmächtigkeit der aktuellen verschwörungstheoretischen "Phantasie", die jedes noch so verwegene oder abwegige Verschwörungsszenario bezüglich Russlands als plausibel erscheinen lässt.

Wie eng bisweilen der gegenwärtige politische Stil an die antikommunistische Nachkriegsideologie anschließt, machen die zahlreichen Bezüge und Anspielungen auf den Spielfilm "The Manchurian Candidate" (deutsch: "Botschafter der Angst") von John Frankenheimer aus dem Jahr 1962 deutlich. Der Film, der mehr oder weniger ironisch die McCarthy-Ära reflektiert, dreht sich um einen hochdekorierten Soldaten, der aus dem Korea-Krieg in die USA zurückkehrt. Wie sich im Laufe der Handlung herausstellt, wurde er während seiner Zeit in Korea von düsteren Kommunisten einer Gehirnwäsche unterzogen und zum Mörder konditioniert, um es den Kommunisten zu ermöglichen, das politische System in den USA zu unterwandern und zu zerstören.

Unter der umfangreichen Riege an Zeitungen und Magazinen, die Trump angesichts seiner vermeintlich russophilen Haltung als einen modernen "Manchurian Candidate" betrachten, finden sich, um nur ein paar Beispiele anzuführen, so einflussreiche und renommierte Medien wie der Guardian, Vanity Fair, Salon, Huffington Post, The Hill oder die New York Times.

Ungeachtet solch bemerkenswerter Zeugnisse von Verschwörungsphantasie sucht man derzeit erstaunlicherweise den Vorwurf des Verschwörungstheoretischen in den Leitmedien vergeblich, der bezüglich der "postfaktischen" Äußerungen von Trump und Co. meist schnell zur Hand ist. Dies verweist darauf, dass die Zuschreibung "Verschwörungstheorie" sich weniger an bestimmten Denkstilen orientiert, sondern daran, ob bestimmte Deutungsmuster einen orthodoxen oder heterodoxen Status im politischen und massenmedialen Feld einnehmen (Anton et al.).

Um es abschließend noch einmal die kritische Stoßrichtung dieses Beitrages explizit zu machen: Es geht hier selbstredend weder um eine Apologie russischer Politik noch um die Behauptung, es gäbe keinerlei Einflussversuche von dieser Seite. Diese Annahme wäre geradezu naiv. Vielmehr ist davon auszugehen, dass strategische Manöver dieser Couleur prinzipiell zum gängigen strategischen Repertoire der Interessenpolitik von Nationalstaaten gehören - und sich eben nicht auf autoritär geführte Staaten wie Russland beschränken. Sowohl die NSA-Affäre, die derzeit aus dem kollektiven Gedächtnis geradezu verschwunden zu sein scheint, als auch die aktuellen Wikileaks zu den Überwachungsmethoden der CIA geben hiervon beredtes Zeugnis. Es geht hier vielmehr um eine Kritik an einem widersprüchlichen, postfaktischen und bisweilen gar paranoiden Denkstil im Sinne Richard Hofstadters, der sich zunehmend Geltung verschafft im derzeitigen politischen Diskurs des "Westens" - und dem sich zunehmend auch solche Akteure unterwerfen, die sich selbst als progressiv verstehen.

Literatur Andreas Anton, Michael Schetsche, Michael K. Walter (Hrsg.) (2013): Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens. Wiesbaden: Springer VS.