Is the future just the past in reverse?

HafenCity Hamburg. Bild: Reinhard Kraasch. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Die Stadt, die Architektur - und der Zahn der Zeit

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Zum Verhältnis von Zeit und Raum hat Karl Valentin einmal hintersinnig angemerkt: "Ich weiß nicht, war's gestern, war's vorgestern, oder war's im vierten Stock?" Die Kategorie Zeit offenbart sich in unserer Lebenswelt auf unprätentiöse Weise so allgegenwärtig, dass man sie zu ignorieren geneigt ist. Ihre (Aus)Wirkungen indes bekommt - über kurz oder lang - jeder zu spüren.

Und zwar nicht nur, indem wir vom nächtlichen Autoverkehr um den Schlaf gebracht werden. Oder uns um 23.45 Uhr an der Tanke noch einen Sixpack kaufen können. Der Wandel der Zeitstrukturen, wie er etwa in der Ausdifferenzierung der Arbeitszeiten nach Dauer und Lage, in veränderten Lebensgewohnheiten oder der Veränderung der Ladenöffnungszeiten zum Ausdruck kommt, gewinnt unter den Bedingungen der Globalisierung generell an Dynamik. Das hat erhebliche Auswirkungen - und die offenbaren sich zuerst in den Städten.

Bereits in den 1930er Jahren wurde von Ernst Bloch der Begriff der Ungleichzeitigkeit zur Beschreibung der widersprüchlichen Wirklichkeit kapitalistischer Gesellschaften in die Diskussion eingebracht. Er verweist auf die Koexistenz verschiedener Zeiten in einer Gegenwart, auf Wirkweisen unerledigter Vergangenheit und verhinderter Zukunft, auf Widersprüche in und zwischen den gesellschaftlichen Verhältnissen. Solche Tendenzen sind indes nicht geringer geworden: Ortszeit wird um Echtzeit ergänzt; Kommunikationstechnologien machen die Gleichzeitigkeit zu einer weltweiten Erfahrung. Die Globalisierung lässt die Entfernung zwischen den verschiedenen Lebenswelten schrumpfen. Am konkreten Ort häuft sich indes das Kontrafaktische: Wachstum und Schrumpfung vollziehen sich heute kleinräumig neben- und ineinander. Zur selben Zeit und in der gleichen Stadt expandieren Gewerbe und Wohnen gen Suburbia, während in der City Gebäude leerstehen und Flächen brachfallen.

Effizienz ist Zeit

Die jüngeren Großprojekte - heißen sie nun HafenCity Hamburg, Ackermannbögen, Europäische Zentral Bank oder Dresdner Neumarkt - markieren auch eine Grenzerfahrung. Wie auch immer deren Fassaden aussehen mögen: Ziel sind hocheffiziente Strukturen, flexibel nutzbare Flächen, die hohe Mieten erwirtschaften und in immer kürzeren Spannen umgeschlagen werden können. So kommt es nicht von Ungefähr, dass die Investoren idealtypisch unter Baukultur bloß die Einheit von Baugenehmigung, Festpreis, Abnahme und Vollvermietung verstehen.

Die Kategorie "Zeit" scheint dabei zunehmend eine aktiv eigenständige Rolle zu übernehmen. Bereits die Industrialisierung verkoppelte Produktion, Transport, Verteilung und Verbrauch der Güter auf der Grundlage des Prinzips der abstrakten Zeit. Sie sorgte für eine Beschleunigung von der Produktion bis zum Konsum durch den Einsatz von Zeitverkürzungsmaschinen und -techniken. Sie forderte alle Beteiligten zu einem neuen Umgang mit der Zeit auf: Zu ihrer wirtschaftlichen Nutzung. Und sie führte zur Bewirtschaftung der Zeit, die zu einem anerkannt ökonomischen Faktor wurde.

Seit Ende des 19. Jahrhunderts bildet "Effizienz" einen gesellschaftlichen Schlüsselbegriff, dessen entscheidender Gradmesser die Uhr ist. Implizit steckt dahinter die Aufforderung, die Zeit optimal zu nutzen, schneller zu arbeiten und schneller zu leben. Geschwindigkeit und Tempo formten - zumindest bis vor kurzem - auch den Privathaushalt nach ihren Regeln. Die Hausfrau musste sich bei ihrer Arbeit von Zeitnehmern über die Schulter blicken lassen, die Wohnungseinrichtung wurde nach zeitökonomischen Gesichtspunkten zusammengestellt, indem der Wohnungsgrundriss als zeitsparende Wohnmaschine konzipiert wurde.

Die Frankfurter Küche von 1926 (Bild aus Zeitschrift "Das neue Frankfurt"5/1926-1927)

So berühmt wie berüchtigt ist in diesem Zusamenhang die "Frankfurter Küche", die nach tayloristischem Vorbild aufgrund aufwendiger Messungen aller erdenklichen Arbeitsvorgänge entworfen war. Auf gerade einmal sechs Quadratmetern war alles so angeordnet, dass eine durchschnittlich gewachsene Frau sämtliche Küchenarbeiten mit einem Minimum an Zeit- und Kraftaufwand erledigen konnte, aber eben auch nur Küchenarbeiten und nur die durchschnittlich gewachsene Frau. Im Medium einer vermeintlich fortschrittlichen Programmatik, die Mühe und Last der Hausarbeit verringern wollte, wurde zugleich die Rolle der Frau als emsige Hausfrau festgeschrieben. Ein helfender Mann war in dieser Küche nicht vorgesehen, er hatte buchstäblich keinen Platz.

Bruno Taut, ein der namhaftesten Vertreter des Neuen Bauens, hat die zugrunde liegende fordistische Logik schon damals auf den Punkt gebracht:

Jeder Winkel wird in seiner Bestimmung vollkommen festgelegt, dass also ein Wohnzimmer immer zum Wohnen und Schlafkabinen zum Schlafen und für nichts anderes bestimmt sind. (...) nach Art eines Ingenieurs, der die Normalfamilie mit drei Kindern als den Betrieb ansieht, für den er die Maschinen und die Fabrik konstruiert.

Aus dem Funktionalismus abgeleitete Analyse- und Planungstechnik

Zwar gelten beim Wohnen heute wohl andere Paradigmen, nicht aber beim Verkehr: Eine möglichst schnelle Raumüberwindung durch beschleunigte Transportmittel gilt nach wie vor als Leitlinie moderner Verkehrspolitik. Beschleunigung wird in unserer Gesellschaft mit ökonomischem Fortschritt, technischer Modernisierung und räumlicher Unabhängigkeit gleichgesetzt; sie ist ein Wert. Die technisch-ökonomische Rationalität in der Mobilitätsplanung betrachtet Zeit und Raum als Ressourcen, deren effiziente Bewirtschaftung durch Verkehrstechnik gewährleistet wird.

Dem Prinzip der Beschleunigung wohnt indes ein Kardinalproblem inne. Denn die durch Motorisierung und Ausbau der Straßennetze erhöhte individuelle Beweglichkeit hat, wie zahlreiche Untersuchungen ergaben, kaum zur Einsparung von Reisezeit und zu größeren Freiheitsspielräumen geführt, sondern zur Ausdehnung der Entfernungen zwischen den verschiedenen Bereichen des täglichen Lebens. Das Paradigma der "Beschleunigung" trägt mithin nicht der tatsächlichen Vielfalt städtischer Mobilitätsbedürfnisse Rechnung. Sie wirkt in vielerlei Hinsicht sogar kontraproduktiv, indem das Machtgefälle zwischen Langsamen und Schnellen wächst. Mobilität unter den Maßgaben technisch-ökonomischer Effizienzkriterien zu buchstabieren, ist problematisch, wenn es um die Verknüpfung von eher kurzen Wegen geht, die die unterschiedlichen Orte des Lebensalltags zusammen führt.

Was sich urbanistisch durchsetzte - und nach wie vor gilt -, ist eine aus dem Funktionalismus abgeleitete Analyse- und Planungstechnik. Sie ermöglichte und beförderte die Herausbildung unserer heutigen Siedlungsstruktur. Und das einzelne Haus wurde zum Bestandteil der Megamaschine Stadt, die durch ihre vielfältigen Ver- und Entsorgungstechnologien den Haushalt von zahlreichen Arbeiten entlastete, aber um den Preis einer immer stärkeren Belastung der natürlichen Umwelt.

Die Dauerhaftigkeit der Städte ist unlösbar verbunden mit ständiger Veränderung und Entwicklung

Und dennoch - oder gerade deshalb - stellt Stadt eine Ansammlung von Räumen dar, in denen Geschichte und Geschichten eingelagert sind: Offensichtliche und verborgene, vertraute und mit Aufregung zu entdeckende. Diese unbekannte und unsichtbare Dimension der Zeit betrifft nun nicht nur Gebrauchswert und Stimmung, sondern die Wahrnehmung überhaupt; wie es der nigerianische Schriftsteller Chris Abani einmal formulierte:

Sie haben mal eine Untersuchung gemacht: Leute, die hier lebten, wurden gebeten, die Stadt zu zeichnen, in der sie zu Hause sind. Die korrektesten Zeichnungen stammten von jenen, die am kürzesten da waren, ungefähr fünf Jahre. Nach zehn Jahren zeichneten die Leute ihre täglichen Wege und Abkürzungen, die nichts mehr mit einem maßstabsgetreuen Stadtplan zu tun hatten. Nach zwanzig Jahren hatte ihr Stadtbild nichts mehr zu tun mit irgendetwas außerhalb ihrer eigenen Vorstellung.

Weshalb man gut beraten ist, einmal mit anderen Augen auf den Urbanismus zu blicken. So problematisch die Analogie mit einem natürlichen Organismus auch sein mag, so sehr gibt es doch Ähnlichkeiten, die das Verständnis von Stadt erleichtern. Lebende Organismen erneuern z.B. permanent einen Teil ihrer Zellen, aber niemals alle gleichzeitig und selten an einer Stelle konzentriert. In Rhythmen von 5 bis 15 Jahren müssen zum Beispiel Gebäude renoviert werden, um als Baubestand aufrechterhalten zu werden. Geschäftsbauten, Produktionsanlagen und Infrastrukturen haben charakteristische Investitions- und Lebenszyklen, die eingehalten sein wollen, wenn ihre Art der Raumnutzung auf Dauer sichergestellt werden soll. Auch bei Städten lässt sich ein permanenter "zellularer" Erneuerungsprozess feststellen. Komplexe biologische und menschliche Systeme haben Ähnlichkeiten in der Trägheit des Systemverhaltens gegen plötzliche Veränderungen.

Selbst in der drängenden Ökonomie der Zeit schwingt - in einer Art gegenläufigen Pendelschwung - die Ahnung davon mit, dass die Beständigkeit der gewohnten Räume um die Menschen herum das Aushalten von sozialen und anderen Veränderung abfedert, wenn nicht gar ermöglicht. Überspitzt ausgedrückt: Je schneller der Wandel der Arbeits- und Lebensweisen, um so wichtiger scheint die Trägheit der alten Routinen und Formen als mentales Gegengewicht zu sein. Wenn die Zeitachse aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft keine sichere Orientierung mehr bietet, sucht man den Fortschritt im Bewahren.

Dies ist mehr als bloß konservative Befindlichkeit: Atmosphäre baut sich gerade in der Dimension städtischer Phänomene nur über lange Prozesse auf. Und Architektur ist, wie es der renommierte Theoretiker Karsten Harries formuliert, "nicht nur um den domestizierenden Raum herum. Sie ist auch eine große Schutzmaßnahme gegen den Terror der Zeit." Insofern artikuliert Architektur tatsächlich auch Zeit; sie gibt dem unermesslichen, ortlosen und unendlichen Raum ihr auf Erfahrung beruhendes menschliches Maß und Bedeutung, und sie verhilft auch der endlosen natürlichen Zeit zu ihrem menschlichen Maßstab.

Doch dass das Nachdenken darüber bei Produzenten und Verbrauchern zu kurz kommt, kann selbst ein durchweg positiv besetzter Begriff wie "Patina" nicht verschleiern. Meist dient er als Metapher für die Spuren, die die Zeit einem Bauwerk einschreibt. Sieht man einmal genauer hin, dann offenbart sich jedoch ein Widerspruch in unserer Rezeption von Alterungsprozessen: Kupferdächer mit Grünspan, ausgetretene Stufen in ehrwürdigen Treppenhäusern, von häufigem Gebrauch blank geriebene Bronzegriffe: all das trägt den Schein von Beständigkeit und "guter alter Zeit". Bröckelnder Putz, blätternde Farbe, rostige Träger: das signalisiert Endlichkeit, Vergeblichkeit und Verfall.

So platt aber ist die Sache nicht. Stadtveränderung ist mühevolle Detailarbeit, ein sanftes Steuern von Prozessen, die am besten gleichsam von selbst laufen; zumal die Einwirkungsmöglichkeiten auf große Prozesse gering sind. Gerade die inhärente Koppelung von stabilen und instabilen Prozessen ist es ja, was Städte einerseits zu höchst dauerhaften und andererseits zu brodelnd lebendigen Gebilden macht.

Städte gehören zu den beständigsten gesellschaftlichen Strukturen überhaupt. Ihre Dauerhaftigkeit ist aber unlösbar verbunden mit ständiger Veränderung und Entwicklung. Denn je umfassender die Planung, je konsequenter die Utopie, desto größer sei die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Ungeplante durchsetzt - am Ende, so lässt sich prophezeien, dringt immer das Gras durch die Ritzen des Betons. Für die Stadtentwicklung heute muss wie in der Kunst gelten: Es gibt nichts Schlimmeres, als es gut gemeint zu haben.

The future is the past in reverse, hat Vladimir Nabokov einmal formuliert, und so werden auf die formwerdende Zukunft unserer Städte häufig die Retrovisionen einer "guten Vergangenheit" projiziert. Demgegenüber wäre heute mehr Demut vor den Eigenlogiken städtischer Entwicklung, mehr Gelassenheit und Normalität einzufordern. Aber auch ein Bewusstsein bezüglich der relativen Begrenztheit und zeitlichen Bedingtheit von "Planung" zu kultivieren. Ohnehin wird man einräumen müssen, dass der Rhythmus einer belebten Stadt von Ungleichzeitigkeit geprägt ist. Hier funktioniert nichts nach einem zentralen Zeitregime. Wie überhaupt gilt, dass eine Stadt nur dann lebendig ist, wenn man darauf hoffen darf, dass nicht alles nach Plan verläuft. Denn die tatsächlich urbane Stadt lebt wesentlich von der beständigen Erwartung, dass alles, was ist, auch anders sein könnte.