Israel wird von Terrorwelle der Einzeltäter in Panik versetzt
Die Mauern und die Überwachung haben zu einer Veränderung der Strategie geführt, die Mehrheit der Israelis befürwortet, Angreifer sofort zu erschießen
In Israel ist eine offene Gewaltwelle ausgebrochen. Der Terror hat sich verändert, aber das Risiko für die Menschen in Israel wahrscheinlich noch unvorhersehbarer gemacht. Seit einiger Zeit setzen Araber Autos und Messer ein, um plötzlich in eine Menge zu fahren, aus dem fahrenden Auto zu schießen oder Menschen mit Messern anzugreifen. Hatten zuvor vermutlich gut vorbereitete und von Organisationen vorbereitete Selbstmordanschläge mit Bombengurten oder auch Raketen aus dem Gaza-Streifen für Terror gesorgt, so scheint nun der von Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAP) zuerst propagierte "Open Source Jihad" (Was erwartet die islamistischen Märtyrer oder Terroristen?) in Israel um sich zugreifen.
Das Konzept war eine Reaktion auf zunehmende Überwachung und Reisekontrollen und besteht daraus, dass Einzelne in einem Land ("home grown") ohne direkte Verbindung zu einer Gruppe und auch ohne Ausbildung, aber angeregt durch über das Internet verbreitete Handlungsanweisungen mit ihren Mitteln Terroranschläge auf beliebige "ungläubige" Menschen in diesem Land begehen, um so den Dschihad der islamistischen Terroristen zu unterstützen und deren Gegner zu ängstigen.
Es ist eine Art Individualisierung oder Atomisierung des Terrorismus, bei dem es nicht einmal mehr ein virtuelles Netzwerk gibt, sondern nur noch anonyme Verbindungen und virale Ansteckungen. Die Taten gleichen den Amokläufen, die vor allem in den USA, aber auch in anderen westlichen Ländern begangen werden (USA: Das Land der Amokläufe und Massenschießereien). Zudem scheint es bei beiden Anschlagsformen um ein finales Aufmerksamkeitsspektakel zu gehen, dessen Ziel auch darin besteht, dass der Täter andere Menschen mit in seinen eigenen Tod mitreißt. Die grausamen Videos des Islamischen Staats dürften dazu beigetragen haben, das Morden zur gewöhnlichen Handlung werden zu lassen.
Dass diese Art des Terrorismus in Israel einen günstigen Boden findet, resultiert nicht nur aus dem sich zuspitzenden Konflikt zwischen Palästinensern und der israelischen Regierung, für den eine Lösung immer aussichtsloser zu sein scheint, da es keine Schritte mehr zu einer Zwei-Staaten-Lösung und zur Beendigung des Siedlungsbaus in den besetzten Gebieten gibt. Zudem verfällt der Einfluss der großen Gruppen der Fatah und der Hamas. Und Israel hat wohl die Idee, zu einer gated nation zu werden, um Terroristen von außen, aber auch unerwünschte Flüchtlinge abzuwehren, am weitesten getrieben.
Mit dem Iron Dome können mittlerweile die meisten Raketen abgewehrt werden, während die Mauer zum Westjordanland und die Sperranlage zum Gazastreifen ein heimliches Eindringen deutlich erschwert haben, seit 2008 haben keine Selbstmordanschläge in Israel stattgefunden. Die neue Sicherheit gegen die bekannten Terrorstrategien führt aber eben auch zu neuen Strategien, die selbst mit allen polizeistaatliche Maßnahmen kaum zu verhindern sind, weil einfach nur Menschen aufgerufen werden, Terroranschläge zu begehen. Das israelische Außenministerium spricht von einer "Welle des Terrorismus", die im September nach den Auseinandersetzungen am Tempelberg begonnen hat und in der zuletzt fast täglich Angriffe in Israel und im Westjordanland gab. Nach einer Liste sind seit Beginn des Jahres bis 8. November 92 Angriffe mit Messern begangen worden.
Am 1. Oktober starben Eitam und seine Frau Naama im Kugelhagel, als sie mit dem Auto und ihren vier Kindern unterwegs waren. Am 3. Oktober kam es zu dem ersten Messerangriff. Ein Palästinenser griff eine Gruppe von Israelis, die wohl ein beliebiges Ziel war, an und stach mit dem Messer um sich, wobei er zwei Menschen tötete und eine Frau mit ihrem Baby verletzte. Die Polizei erschoss den Angreifer. Wie bei Amokläufen scheinen die Taten Nachahmer anzustecken, wozu auch die mediale Aufmerksamkeit beiträgt. Je größer die Wirkung und je einfacher die Tat, desto eher wird es Nachahmer geben, die ihr Leben mit einer in ihren Augen vermutlich "sinnvollen" Tat beschließen wollen. Am 13. Oktober griffen zwei Männer mit einer Schusswaffe und einem Messer einen Bus an, übernahmen das Steuer, rammten den Bus in eine Menschenmenge und begannen zu schießen und zu stechen. Zwei Israelis wurden getötet, 15 verletzt, einer der Angreifer wurde erschossen, der andere konnte festgenommen werden.
Die vorerst letzten Mordanschläge ereigneten sich etwa am Samstag, wo eine junge Frau mit einem Messer auf einen Israeli einstach und diesen verletzte, in einer Shopping Mall wurde ein Israeli durch einen Angreifer verletzt und ein Palästinenser mit einem Messer auf einen israelischen Soldaten einstach, diesen verletzte und mit dessen Gewehr in eine Wohnung eindrang, wo eine junge Frau gerade heimkam. Sie konnte fliehen, die Polizei erschoss den Angreifer. Und am Montag wurde eine 23jährige palästinensische Frau im Westjordanland von Wachsoldaten an einem Kontrollpunkt erschossen, nachdem sie sich ihnen mit einem Messer genähert hatte. In einem später gefundenen Abschiedsbrief hatte sie geschrieben, sie könne nicht mehr ertragen, was sie sehen müsse. Sie sterbe "in Verteidigung meines Heimatlandes und der jungen Männer und Frauen".
Die Palästinenser sind zunehmend verzweifelt, die Israelis geängstigt von der allgegenwärtigen Gefahr. Abgeordnete forderten bereits, dass jeder, der israelische Soldaten oder Zivilisten bedroht, sofort erschossen werden sollte. In einer Telefonumfrage, für die 600 Israelis am 28. und 29. Oktober befragt wurden, stellte sich heraus, dass 57 Prozent Angst haben, dass sie selbst oder eine für sie wichtige Person zum Ziel eines Angriffes werden könnte, allerdings hätten 64 Prozent ihre Gewohnheiten nicht verändert. Angst bestimmt aber das Leben der arabischen Bevölkerung noch stärker. 78 Prozent sagten, sie würden fürchten, zum Opfer zu werden, 53 Prozent hätten bereits ihre täglichen Gewohnheiten geändert.
Wenig verwunderlich fordern die jüdischen Israelis eine härtere Bestrafung. 80 Prozent begrüßen es, wenn die Häuser von Palästinensern zerstört werden, wenn ein Familienmitglied einen Angriff ausgeführt hat. Dabei wird freilich mit unterschiedlichem Maß gemessen. Wenn ein jüdischer Israeli einen Angriff ausgeführt hat, dann sind nur 53 Prozent für die Zerstörung von dessen Haus. 70 Prozent der jüdischen Israelis glauben, dass die Terroristen zu wenig streng bestraft werden, 60 Prozent der arabischen Israelis sind hingegen der Meinung, sie würden zu streng bestraft.
Die Mehrheit der jüdischen Israelis ist mittlerweile strikt und will kurzen Prozess machen. 53 Prozent sagen, dass "jeder Palästinenser, der einen Terrorangriff gegen Juden ausgeführt hat, sofort getötet werden sollte".
Der israelische Verteidigungsminister Moshe Ya'alon sagte gestern, dass die Angriffe weiter gehen könnten. Alle Angriffe seien von Einzeltätern begangen worden. Hamas und andere Organisationen würden versuchen, Schießereien und Bombenanschläge in Israel und im Westjordanland zu organisieren, aber seien gescheitert, weil Israels Geheimdienste und Militär dies verhindert hätten. Übrig blieben deswegen die Einzeltäter.