Israelkritik oder Antisemitismus?

Seite 3: Was ist Antisemitismus?

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Offensichtlich gibt es immer noch Schwierigkeiten beim Erkennen von Antisemitismus. In der Vorstellung vieler Menschen existiert ausschließlich der klassische Antisemitismus, wie er sich vor allem im Nationalsozialismus gezeigt hat, also ein rassistischer Antisemitismus. Wenn man lediglich diese, heute kaum noch verbreitete, Form im Kopf hat, wird man tatsächlich auch wenig Antisemitismus entdecken, bzw. dann ständig eine Antisemitismuskeule und einen Maulkorb herbeiphantasieren, wenn sekundärer Antisemitismus oder israelbezogener Antisemitismus in Form des Antizionismus gemeint sind.

Im modernen Sprachgebrauch meint der Begriff Antisemitismus, die Gesamtheit judenfeindlicher Äußerungen, Tendenzen, Ressentiments, Haltungen und Handlungen unabhängig von ihren religiösen, rassistischen, sozialen oder sonstigen Motiven.

Wolfgang Benz

Wolfgang Benz macht vier Grundphänomene des Antisemitismus aus:

Erstens der christliche Antijudaismus, die religiös motivierte, aber auch kulturell, sozial und ökonomisch determinierte Form des Ressentiments gegen Juden vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Zweitens der scheinbar wissenschaftlich, anthropologisch und biologistisch argumentierende Rassenantisemitismus, der im 19. Jahrhundert entstand und im Holocaust mündete. Die dritte Version des Vorbehalts, Judenfeindschaft nach dem Holocaust, ist aktuell. […] Dieses, das dritte, Phänomen der Judenfeindschaft, speist sich aus Gefühlen der Scham und Schuldabwehr: Nicht trotz, sondern wegen Auschwitz werden Ressentiments gegen Juden mobilisiert.

Wolfgang Benz

Das vierte Phänomen ist der Antizionismus. "Diese vier Grundphänomene - religiöser Antijudaismus, Rassenantisemitismus, sekundärer Antisemitismus und Antizionismus - bilden den Rahmen aller Betrachtung von Judenfeindschaft.1

Und Benz ergänzt: "Nicht alles ist Antisemitismus, was als verbale Entgleisung, als unsensibles Verhalten, als Taktlosigkeit, als Ahnungslosigkeit gegenüber jüdischen Empfindungen und Empfindsamkeiten daher kommt. Aber vieles ist nicht so harmlos, wie es erscheinen soll."2

Der sekundäre Antisemitismus wendet sich gegen "eine kritische Reflexion der Vergangenheit und die "Moralkeule" Auschwitz".3 Die "Paulskirchen-Rede" von Martin Walser kann hier exemplarisch herangezogen werden.4 Die Tabubrecher inszenieren sich als Kämpfer für die Meinungsfreiheit.5 Der sekundäre Antisemitismus sieht die "Juden als unangenehme Mahner und Erinnerer an die Verbrechen des NS […], die einer "Normalisierung" Deutschlands im Weg stünden und daher das "positive Nationalbewusstsein" stören".6

Der Antisemitismus, der unter dem Deckmantel des Antizionismus bzw. der Israelkritik daher kommt, steht hier im Mittelpunkt. Samuel Salzborn nennt die Kernbestandteile des antizionistischen Antisemitismus, wie sie in der Arbeitsdefinition der Europäischen Union genannt sind:

  • "Das Abstreiten des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen.
  • Die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet und verlangt wird.
  • Das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen (z.B. der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordlegende), um Israel oder die Israelis zu beschreiben.
  • Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten.
  • Das Bestreben, alle Juden kollektiv für Handlungen des Staates Israel verantwortlich zu machen."

Dieser Minimalkonsens wurde von Natan Sharansky zum so genannten 3-D-Test für Antisemitismus vereinfacht, denn "der neue Antisemitismus ist viel subtiler. Während man den klassischen Antisemitismus als gegen die jüdische Religion oder das jüdische Volk gerichtet sieht, zielt der neue Antisemitismus angeblich gegen den jüdischen Staat. Da dieser Antisemitismus sich hinter der Fassade legitimer Israelkritik verstecken kann, ist er viel schwieriger aufzudecken."

Das erste D steht für Dämonisierung. Damit sind zum Beispiel "die Vergleiche von Israelis mit Nazis und der palästinensischen Flüchtlingslager mit Auschwitz" gemeint. Das zweite D ist der Test auf Doppelstandards. "Mit anderen Worten, erzeugt ähnliche Politik anderer Regierungen die gleiche Kritik, oder wird hier ein doppelter Standard eingesetzt?" Im hier diskutierten Zusammenhang wäre die Frage, ob z.B. der palästinensische Terror gleich energisch verdammt wird. Und das dritte D bezieht sich auf Delegitimierung. "Während die Kritik an israelischer Politik nicht antisemitisch sein muss, ist es immer antisemitisch, wenn das Existenzrecht Israels angezweifelt wird. Wenn andere Völker das Recht darauf haben, sicher in ihrem Heimatland zu leben, dann haben auch die jüdischen Menschen ein Recht darauf, sicher in ihrem Heimatland zu leben."

Der 3-D-Test ist kein wissenschaftlicher Test, sondern soll eine Richtung anzeigen helfen. Wäre das Seminarmaterial daraufhin geprüft worden, und wären einige der "Ds" aufgefallen, hätte eine tiefergehende Auseinandersetzung stattfinden müssen. Doch Monika Schwarz-Friesel warnt: "Obgleich die Wissenschaft relativ klar Auskunft darüber geben kann, ob eine Äußerung als antisemitisch einzustufen ist, verhallen ihre Erkenntnisse weitgehend ungehört. Weiterhin wird bei jedem "sprachlichen Delikt" nach einer Ausrede oder Umdeutung gesucht, gerieren sich Sprachproduzenten oft als Opfer einer angeblichen "Antisemitismus-Keule".7