Israels gefährliches Spiel: Wie Mitgefühl kriminalisiert wird
Mitgefühl wird in Israel zunehmend kriminalisiert. Ein arabisches Mädchen wurde für Empathie bestraft, während Hass toleriert wird. Was bedeutet das für die Zukunft?
It's so loud, inside my head
With words that I, should have said
As I drown, in my regrets
I can't take back, the words I never said
Words I Never Said, Lupe Fiasco
Mein Großvater, der die Nakba zweimal erlitten hat, hat die Geschichten nicht mit meinem Vater geteilt. Er wurde 1948 von Jaffa nach Aschkelon und 1950 von Aschkelon nach Lod deportiert. Jedes Mal wurde er seines Besitzes, seiner Ersparnisse, seiner Ehre und seiner Männlichkeit beraubt. Aber bis zu seinem Tod wusste er nicht, dass man ihm auch seine Worte genommen hatte. Er wurde zu einem Mann, der schweigend lebte und starb.
Mein Großvater hat dieses Schweigen meinem Vater vererbt. Mein Vater teilte die Geschichten des Schweigens nicht mit uns. Erst als ich erwachsen und etwa 20 Jahre alt war, veröffentlichte ich ein politisches Lied, das weltweit populär wurde.
Da hat mein Vater zum ersten Mal den Mund aufgemacht und eine politische Meinung geäußert. Er nannte es damals eine "politische Meinung", aber es war klar, dass er ein persönliches Trauma und ein Generationstrauma zum Ausdruck brachte.
Ich habe mich immer gefragt, wann das Schweigen geboren wird. Schließlich wird uns beigebracht, dass wir von Geburt an sprechen sollen. Wann aber wird die erste Lektion des Schweigens erteilt?
Ich habe mich das nicht nur still gefragt, sondern auch das Schweigen der Generationen vor uns verurteilt. Es glich dem Schweigen eines Ertrinkenden. "Los", mag man ihm zurufen, "schrei wenigstens um Hilfe."
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Zwei Geschichten, die sich in jüngster Vergangenheit ereignet haben, ließen mich mein Urteil vergessen und hinterließen in mir nur Trauer und das Gefühl, dass es auch in mir einen Friedhof der Worte gibt. Und das ist nicht leicht für jemanden, dessen Karriere auf Vokalisierung und Verbalisierung beruht.
Die erste Geschichte handelte von einem zwölfjährigen arabischen Mädchen in einer jüdischen Schule in Be'er Sheva, das sagte: "Es gibt auch hungrige Kinder in Gaza, die kein Zuhause haben." Ihre jüdischen Klassenkameraden antworteten mit dem Ruf "Möge dein Dorf brennen." Das Mädchen wurde suspendiert und wegen Aufwiegelung angeklagt. Ihre Familie stritt die Aufwiegelung ab.
Stille und beängstigendes Vakuum
Wie viel Gewicht liegt in diesen übereilten Maßnahmen. Sobald Stille einkehrt, entsteht ein beängstigendes Vakuum, das mit falschen Worten gefüllt wird. Schließlich gibt es "hungernde Kinder in Gaza, die kein Zuhause haben", das ist eine Tatsache. Das steht in jeder Studie und in jeder Statistik der internationalen Organisationen.
Auf der anderen Seite ist "Möge dein Dorf brennen" laut jedem Wörterbuch der Welt reine Hetze. Die Angst der Eltern des Mädchens ließ ihnen keine andere Wahl, als zu leugnen, was sie gesagt hat. Das erweckt den Eindruck, dass sie auch die Tatsache leugneten, dass ich als Wortkünstler rebellisch sein darf.
Die Angst der Eltern
Als Wortkünstler kann ich rebellieren und die Eltern kritisieren und sie ermutigen, nicht zu schweigen. Aber als Elternteil habe ich genauso viel Angst wie sie, und das Letzte, was ich will, ist, dass die ganze Last des Nahen Ostens auf den Schultern meiner sanften, süßen Kinder lastet, deren Knochen noch nicht stark genug sind, um die enorme Schuld zu tragen, die uns dieser verfluchte Ort auferlegt hat.
Die zweite Geschichte ereignete sich zufällig, als ich mit einer 35-jährigen arabischen Mutter zusammensaß, die sich selbst als israelische Araberin bezeichnete und politisch nicht sehr bewandert war. Beiläufig erzählte sie mir eine Familiengeschichte:
In unserem Haus gab es keine Politik. Meine Großmutter hatte immer Juden im Haus und liebte sie alle. Erst nachdem sie gestorben war, erzählte mir einer meiner Onkel von den Schrecken, die sie während des Unabhängigkeitskrieges erlebt hatte.
Sie nannte es nicht einmal Nakba, aber ich hörte zu, als Freund, nicht als kritischer Künstler. Und so fuhr sie fort:
Meine Großmutter war mit ihren Eltern deportiert worden und trauerte damals sehr ihrer rosa Kuscheldecke nach. Ihr Vater musste sie holen – und kehrte nie zurück. Später fand sie die Decke und hütete sie bis zu ihrem Tod wie ihren Augapfel.
Sie erzählte uns das zum ersten Mal, weil sie eine Begebenheit an ihre Großmutter erinnert hatte:
Ich wartete in der Klinik auf meinen Platz, und neben mir saß eine alte Jüdin mit einer Haarlocke in einer Tüte. Die alte Frau erzählte, dass ihr ihre Mutter, als sie aus Europa deportiert worden waren, die Haare abgeschnitten hatte, um Läuse loszuwerden, die gar nicht da waren. Seitdem hatte sie ihre Haare in einer Tüte.
"Diese Geschichte hat mich zutiefst erschüttert", sagte meine Freundin, "ich stand auf und umarmte sie, und wir weinten zusammen. Plötzlich kam mir die Geschichte meiner Großmutter in den Sinn, und ich wollte ihr sagen, dass wir auch so etwas durchgemacht haben, aber aus irgendeinem Grund habe ich mich dagegen entschieden. Ich wollte diesen menschlichen Moment nicht mit einer politischen Meinung ruinieren."
Wieder einmal wurde die Leere, die das Schweigen hinterließ, als die Worte aus unseren Mündern kamen, durch Fehlinterpretationen gefüllt. Ein jüdisches Mädchen, das sich im Schatten des Krieges die Haare hat schneiden lassen, soll eine menschliche Geschichte sein; aber die Erinnerung an ein palästinensisches Mädchen, das seinen Vater wegen einer rosa Decke verloren hat, wird als politische Meinung betrachtet, die aufwiegeln und anstacheln kann.
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Und die bestehende Situation, ob falsch oder wahr, wird zur Tatsache. Wenn ein Mädchen, das den Schmerz anderer Kinder nachempfinden kann, von der Schule ausgeschlossen wird, während Kinder, die gewalttätige Parolen rufen, als Helden der nächsten Generation angesehen werden, werden die falschen Interpretationen zur Realität. So wie die brutale Nakba, die uns widerfahren ist, als "Unabhängigkeitsfeier" begangen wird.
Nun verhungern die Kinder in Gaza und mit ihnen die Wahrheit. Und an dieser Stelle werden dereinst wohl Siegesfeiern abgehalten, die ich dann von meinem Balkon aus hören werde. Es wird Feuerwerk geben und auf einer beleuchteten Bühne werden die besten Künstler Israels auftreten.
Ich habe nichts zu sagen
Ich habe den Menschen, die schweigen, nichts zu sagen, weder den Eltern des Mädchens aus Be'er Sheva noch meiner Freundin. Ich kämpfe immer noch damit, eine Formulierung für die Stimmen in mir zu finden, die Stimmen des Verstehens und die Stimmen, die verurteilen.
Aber auch wenn es nichts zu sagen gibt, werde ich sagen: "Ich habe nichts zu sagen".
Denn es ist besser, dass die Wahrheit in der Leere herrscht, wen auch ohne klare Aussage, damit diese Leere nicht falschen Interpretationen zum Opfer fällt.
Diejenigen, die die Sprache der Worte sprechen, werden diejenigen, die die Sprache des Schweigens sprechen, nicht verstehen, auch wenn beide von Angst und Trauma gezeichnet sind. Im Konflikt zwischen Palästinensern und Juden wird es keine Brücke geben, solange die eine Seite alle Buchstaben, Verben, Silben und Stimmen kontrolliert.
Und auf der anderen gibt es einen Menschen, der im Meer des Schweigens untertaucht, um ja nicht auf sich aufmerksam zu machen. Die Wellen schleudern ihn hin und her. Aber er will nur überleben und er sagt sich "Wenn ich noch ein wenig länger schweige, wenn ich nicht um Hilfe rufe, dann beruhigen sich die Wellen vielleicht."
Und dann ertrinkt er.
Tamer Nafar ist ein palästinensischer Rapper, Schauspieler, Drehbuchautor und Aktivist mit israelischer Staatsbürgerschaft. Nafar wuchs in ärmlichen Verhältnissen in Lod auf, einer arabisch-israelischen Stadt in Israel, die unter Drogenschmuggel und Kriminalität leidet.
2016 spielte Nafar als Hauptdarsteller in dem halb-autobiografischen Spielfilm Junction 48, der bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde.
Tamer Nafar ist außer auf YouTube auch auf Instagram, Facebook und X (Twitter) sowie auf Spotify zu finden.
Übersetzung und Bearbeitung: Harald Neuber