Ist Afrin jetzt Teil der türkischen Provinz Antakya?

Seite 4: Zurück ins Zeitalter der Jungtürken

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Wenn Erdogan erklärt, das Sykes-Picot-Abkommen gelte nicht mehr, wenn er sich bei öffentlichen Auftritten des faschistischen "Graue Wölfe-Grußes" oder des "Rabia-Grußes" der Muslimbruderschaft bedient, müsste jedem Türkei-Analysten klar sein, wohin die Reise geht. Denn diese Symbolik ist mittlerweile bekannt.

Weniger bekannt ist der Begriff des "Roten Apfels" (Kızıl Elma), auch "Goldener Apfel" genannt, den Erdogan in Bezug auf die "Operation Olivenzweig" in Afrin verschiedentlich als das Ziel der Operation benutzt. Der "Goldene Apfel" stammt aus dem Osmanischen Reich und stand für den Herrschaftsanspruch der Osmanen in Europa. Heute ist dies das Symbol des Panturkismus. Der Panturkismus ist eine Ideologie, die alle turksprachigen Völker unter dem Dach eines großtürkischen Staates zu vereinen versucht, den die Jungtürken nach ihrer Machtübernahme im Osmanischen Reich 1908 propagierten. Enver Pascha, einer der Hauptverantwortlichen für den Völkermord an den Armeniern, war einer der wichtigsten Verfechter des Panturkismus. Das Deutsche Reich, das am Völkermord an den Armeniern nicht unbeteiligt war, gewährte ihm Exil in Potsdam.

Betrachtet man Erdogans Machtambitionen und seinen kontinuierlichen Umbau der Türkei hin zu einem islamistischen, autokratischen Staat, findet man viele Ähnlichkeiten zu Enver Pascha. Auch Erdogan vereinnahmt die turksprachigen Völker wie die Turkmenen und Uiguren in sein Reich und verspricht ihnen Haus und Hof in dem von ihm annektierten Gebieten in Nordsyrien oder im Südosten der Türkei, nachdem er Hunderttausende von kurdischen Familien durch die Zerstörung ihrer Städte und Dörfer vertrieben hat. Keiner hätte es für möglich gehalten, dass die Brutalität und Gewalt gegen Minderheiten - es waren nicht nur die Kurden, sondern auch die Eziden und Aleviten - der 80er und 90er getoppt werden könnte. Damals wurden tausende Dörfer im Südosten niedergebrannt, die Bevölkerung vertrieben, gefoltert und ermordet. Heute sitzen wieder 70.000 Studenten im Gefängnis, um nur mal die Zahl einer von vielen Zielgruppen zu nennen.

Auch Enver Pascha war damals berüchtigt für seine Kaltblütigkeit. Aber auch er scheiterte an seiner Machtgier. Das Osmanische Reich zerfiel, sein Rivale, Mustafa Pascha (Atatürk) kam an die Macht. Erdogan will heute als der große "Sultan", der Größeres als Atatürk vollbracht hat, in die Geschichte eingehen. Dabei könnte er tief fallen.

Für Russland ist die Türkei nicht wirklich interessant. Zwar verschaffen die Deals zwischen Russland und der Türkei der wirtschaftlich am Boden liegenden türkischen Ökonomie eine Verschnaufpause - der Bau des Atomkraftwerks in Akkuyu unter Beteiligung russischer staatlicher Unternehmen oder die Gaspipeline "Turkish Stream" der russischen Firma Gazprom wirken innenpolitisch stabilisierend. Geopolitisch betrachtet hat sich der Handlungsspielraum der Türkei durch die Kooperation mit Moskau und Teheran allerdings nicht erweitert. Russland hat die Türkei sowohl an ihrer nördlichen Grenze am Schwarzen Meer, im Prinzip aber auch im Süden in Syrien faktisch umklammert. Das Ziel, Assad in Syrien durch die Unterstützung des IS zu stürzen, ist nicht mehr auf Erdogans Agenda. Die syrischen Flüchtlinge in der Türkei sind innenpolitisch zu einem Problem geworden, derer man sich durch die Ansiedlung in den eroberten Gebieten in Nordsyrien zu entledigen versucht.

Über kurz oder lang wird man sich in der Türkei wieder an die tiefsitzenden Ressentiments gegenüber Russland erinnern, die sich durch mehrere russisch-türkische Kriege in der Geschichte eingeprägt haben. Daher ist es logisch, dass sich die Türkei eine Tür nach Europa offen halten will. Aber wie lange lässt sich Europa und dort vor allem Deutschland am Nasenring durch die Manege ziehen, nur um den Flüchtlingsdeal zu retten? Im Moment produziert Erdogan allerdings mit seiner Politik neue Flüchtlingsströme. Die Zahl der Asylbewerber aus der Türkei ist um ein Vielfaches gestiegen.

Es ist zu erwarten, dass Erdogan diesen Kurs beibehalten wird, denn die Türkei steuert 2019 mit drei Wahlen (Kommunal, Parlaments- und Staatspräsidentschaftswahlen) auf ein Superwahljahr zu. Er muss diese Wahlen mit allen Mitteln für sich entscheiden. Scheitert er dabei, würde er mit seinem Clan im Gefängnis verschwinden und seiner Familie würde genau dieses Schicksal zuteil, das momentan so viele erfahren.

Nordirak: Der türkische Feldzug geht weiter

Seit mehreren Wochen häufen sich auch die türkischen Angriffe im Nordirak. Am Wochenende bombardierte die türkische Armee mehrere Dörfer um die Hauptstadt der kurdischen Autonomen Region Erbil im Nordirak. Die Einwohner wurden anscheinend auch durch türkische Bodentruppen vertrieben. Erst vor Kurzem öffnete Erbil wieder den Flughafen für internationale Flüge. Es besteht der Verdacht, dass die Türkei mit diesen Attacken verhindern will, dass internationale Organisationen Zugang zu den kurdischen Gebieten im Nordirak und Nordsyrien bekommen.

Auch 90 km nordöstlich von Dohuk griffen Kampfjets der Türkei die Region Nerwa Rekan an. Dort wurden über 15 Ortschaften eingenommen, die Einwohner vertrieben. Für die kurdische Bevölkerung in der Region und die ezidischen Flüchtlinge, die dort in Camps leben, ist dies eine ernsthafte Bedrohung. Eine Karte zeigt, dass türkische Truppen mittlerweile über 20 km in irakisches Staatsgebiet eingedrungen sind. Ziel scheint das Kandil-Gebirge zu sein, wo sich das PKK-Hauptquartier befindet.

Auch dieser Einmarsch, der im Westen keine Beachtung findet, ist völkerrechtswidrig, denn aus den Tiefen des Gebirges heraus ist es unmöglich, Angriffe auf türkisches Territorium vorzunehmen. Das Stockholmer Institut für Holocaust und Genozid-Studien warnt mittlerweile vor einem drohenden Genozid an den Kurden in der Türkei, Syrien und Irak.