Ist der Slogan "Atomkraft? – Nein danke!" jetzt zukunftsfeindlich?
Seite 2: Wie nachhaltig ist Atomenergie im Sinne der EU-Taxonomie wirklich?
- Ist der Slogan "Atomkraft? – Nein danke!" jetzt zukunftsfeindlich?
- Wie nachhaltig ist Atomenergie im Sinne der EU-Taxonomie wirklich?
- Zum Zusammenhang von ziviler und militärischer Nutzung der Kernkraft
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Frankreich ist – zusammen mit einigen osteuropäischen Staaten, u.a. Polen – Hauptinitiator des derzeit laufenden Versuchs, die internationalen Finanzströme über eine veränderte Nachhaltigkeitstaxonomie der EU in die Finanzierung von Atomkraftwerke und damit auch der gesamten Nuklearindustrie, einschließlich der Atomwaffen, zu lenken.
Insbesondere der französische Präsident Emmanuel Macron bestand auf den zum 1.1.2022 vorgeschlagenen Zusatz zur bereits 2021 verabschiedeten und veröffentlichten EU-Taxonomie, mit dem Argument, und Energiegewinnung über Kernkraft sei nachhaltig und als grüne Energieproduktion zu bezeichnen.
In Frankreich sind derzeit 56 AKWs in Betrieb, die allerdings z.T. marode sind und nach erheblichen Reparaturinvestitionen verlangen. Frankreich bezieht ca. 71 Prozent seines Stroms aus Kernkraft. Frankreich liegt mit der Anzahl seiner AKWs an zweiter Stelle der nuklearen Energieproduktion im weltweiten Vergleich, hinter den USA und noch vor China.13 Macron, für den im April 2022 Wahlen anstehen, begründet den Bau neuer AKWs wie folgt:
Um Frankreichs Energieunabhängigkeit zu gewährleisten, die Stromversorgung unseres Landes zu sichern und unser Ziel der Kohlenstoffneutralität im Jahr 2050 zu erreichen, werden wir zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Errichtung von Kernreaktoren in unserem Land wieder aufnehmen.
Da der Bau von AKWs der dritten Generation, European Pressurized Reactors (EPR), aufgrund der überbordenden Baukosten, Pannen und ständigen Verzögerungen Schwierigkeiten bereits seit Jahren bereitet, kündigt Macron nun die Entwicklung von Minireaktoren an, um die Versorgungsprobleme künftig zu lösen.
Es handelt sich hierbei um Small Modular Reactors (SMR), die bis zu 300 Megawatt produzieren. Er kündigte im Oktober 2021 einen Innovationsplan France 2030 an, im Rahmen dessen er mit Hilfe von 30 Milliarden Euro die Deindustrialisierung Frankreichs stoppen wolle, u.a. über den Bau von SMRs, die dann grünen Wasserstoff produzieren und einen wesentlichen Schritt auf dem Weg zur französischen Dekarbonisierung bedeuten würden.14
Hier soll nun die Auffassung vertreten werden, dass es sich bei dem maßgeblich von Frankreichs Nuklearindustrie initiierten und vom mit diesem Industriezweig eng kooperierenden Macron vorgenommenen Vorstoß, die Nuklearindustrie als nachhaltig auszuweisen, um einen extremen Fall von Etikettenschwindel bzw. von Greenwashing handelt.
Die international anerkannte Nachhaltigkeitsdefinition der Brundtland-Kommission und auch die verabschiedeten UN-SDGs basieren darauf, dass die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generationen nicht die Einlösung der existenziellen Möglichkeiten zukünftiger Generationen behindern bzw. vernichten dürften.
Doch bürdet die Atomindustrie Tausenden von zukünftigen Generationen die bisher nicht geklärte Entsorgungsfrage des Atommülls auf. Dies ist ein deutlicher Verstoß gegen den Kern der Nachhaltigkeit und auch dementsprechend gegen die Kriterien der EU-Taxonomie, die im Kap. II, Artikel 13, eine Verringerung bzw. Beseitigung des Einsatzes "besonders besorgniserregender Stoffe in Materialien und Produkten während ihres gesamten Lebenszyklus" und "unter anderem durch Ersetzung dieser Stoffe durch sicherere Alternativen und durch Gewährleistung der Rückverfolgbarkeit" fordert.
Da eine Transmutation der radioaktiven Abfälle eines AKWs in für den Menschen und die Natur ungefährliches Material bisher, auch aus der Sicht von Befürwortern eines solchen Versuchs, noch nicht gelungen ist, bleiben nach der Wärme und Strom liefernden Kernspaltung Krebs erregende Stoffe wie Plutonium, Neptunium, Americium und Curium, erhalten.
Diese hoch radioaktiven Isotope strahlen extrem lang und haben Halbwertzeiten zwischen zehntausenden bis hunderttausenden Jahren.15 Somit widerspricht diese Tatsache auch insbesondere dem im Kap. II der Taxonomie, Artikel 19, formulierten Anspruch, dass technische Lebenszyklusanalysen von Produkten und Einrichtungen vorzunehmen sind, die deutlich machen, dass zu minimierende schädliche Auswirkungen einer wirtschaftlichen Tätigkeit während des Produktlebenszyklus bereits zu beenden sind.
Neben einem fehlenden und als nachhaltig zu bezeichnenden Entsorgungskonzept sind die Gefahren durch eine Kernschmelze im Atomreaktor zu nennen. Früher wurde hier zwischen einem GAU, einem noch beherrschbaren größten anzunehmenden Unfall, und einem Super-GAU unterschieden, der nicht mehr beherrschbar und bei dem das AKW außer Kontrolle geraten ist.
Inzwischen wird eine Skala von 0 bis 7 für die Klassifizierung von Störfällen bzw. Unfällen international verwendet. Die nuklearen Katastrophen in Tschernobyl (Ukraine, 1986) und Fukushima (Japan, 2011) waren Unfälle von sieben auf der Klassifizierungsskala bzw. als Super-GAU zu bezeichnen.16
Atomkraftwerke sind nicht rein technischer Natur, sondern bestehen aus einem Mensch-Technik-System und beides ist Fehler anfällig. Material kann ermüden, es kann z.B. zu Rissen im Stahlmantel des Reaktorkerns kommen. Menschen können Warnsignale, z.B. aufgrund von Übermüdung übersehen.
Die verschiedenen GAUs und Super-GAUs, die zur Freisetzung von lebenszerstörender Radioaktivität führten, zeigen, dass AKWs keineswegs – so wie in der EU-Taxonomie im Kap.II, Art. 14 gefordert, eine Wirtschaftsaktivität darstellen, die einen "wesentlicher Beitrag zur Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung" leistet – im Gegenteil: AKWs stellen eine extreme Gefahr für die Gesundheit der Menschen dar, da sie – zumindest bislang nicht sicher zu betreiben sind und auch ein sicherer Betrieb zukünftig nicht erkennbar ist.
Dieses Argument verstärkt sich noch einmal, wenn man über den Normalfall einer betriebstechnischen Störung hinausgeht und die Möglichkeit externer Eingriffe durch Cyber-Angriffe im Kriegsfall oder durch terroristische Anschläge einbezieht.17
Im Art. 11 (Kap.II) der Taxonomie wurde als Kriterium für Nachhaltigkeit angeführt, ob eine konkrete Wirtschaftsaktivität zu einem "wesentlichen Beitrag zur Anpassung an den Klimawandel" führt. Ist eine ökonomische Aktivität geeignet, die Wirkungen des bereits eintretenden oder zukünftigen Klimawandels zu vermindern – allerdings "ohne das Risiko nachteiliger Auswirkungen auf Menschen, Natur oder Vermögenswerte zu erhöhen"?
Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Abbau von Uran, der Bau von AKWs, der Betrieb von AKWs sowie die Entsorgung der Anlagen sowie des verbrauchten, radioaktiven Materials keineswegs CO₂-neutral und damit per se Klima schonend sind. Auch ist Uran ein endlicher Rohstoff, der in wenigen Jahrzehnten weltweit ausgebeutet sein dürfte. Betrachtet man des Weiteren die Kosten des Atomstroms, so wird deutlich, dass es sich hier mit Abstand um die teuerste Variante der Stromerzeugung handelt, die weit hinter den Kosten regenerativen Stroms zurückfällt.18
AKWs sind sogar in einem noch größeren Maße als die auf Verbrennung fossiler Energieträger basierende Stromerzeugung von staatlichen Subventionen abhängig. Die Gewinne der Atomindustrie werden letztendlich vom Steuerzahler bezahlt.
Selbst die neue Generation der EPR, die vom französischen Staat gefördert wird, verschlingt ein Mehrfaches der veranschlagten Kosten. So werden die Baukosten des ursprünglich für ca. drei Milliarden Euro veranschlagten Atomkraftwerks der dritten Genration in Flamanville wohl niemals wieder eingenommen werden können – so Ralf Streck (2021)19:
Die Kosten waren, wie der französische Rechnungshof vorgerechnet hat, schon 2015 auf 12,4 Milliarden Euro angewachsen. Dazu kämen bis zur nun angepeilten Inbetriebnahme aber weitere 6,7 Milliarden Euro. Damit hätten sich Kosten des mit zunächst veranschlagten 3,3 Milliarden "billigen" Projekts praktisch versechsfacht.
Niemand kann des Weiteren die immensen Kosten eines GAU oder gar Super-GAUs seriös berechnen. Wie will man des Weiteren die Kosten Jahrtausende umfassender sicherer und zu bewachender Einlagerung von Atommüll berechnen? Und: Menschliches Leid, zerstörte Gesundheit, Tausende Krebstote und die Zerstörung der Biosphäre durch einen massiven AKW-Unfall entziehen sich jeglichem Kosten-Nutzen-Kalkül.
Auch das französische Argument der Versorgungssicherheit lässt sich angesichts der Störanfälligkeit und der häufigen Außerbetriebnahme der französischen Atomreaktoren nicht halten.
Dies alles bedeutet zweifelsfrei, dass die im Kap.II, Art. 10, der EU-Taxonomie geforderte Energieeffizienz in keiner Weise in Bezug auf Kernkraftwerke gegeben ist. Nun versucht Macron aufgrund der Probleme mit der dritten AKW-Generation mit Hilfe der Mini-Reaktoren, also der vierten Generation der AKWs, die Kernkraft wieder hoffähig zu machen.
Doch die SMRs würden aufgrund ihrer vergrößerten Anzahl der immer noch gefährlichen Reaktoren eine Potenzierung des Risikos bedeuten. Auch ist bisher diese Entwicklungslinie für landgestützte SMRs noch nicht fertiggestellt und ob überhaupt eine zufriedenstellende Entwicklung für einen Betrieb gelingt, ist noch fragwürdig.
Falls eine Produktion dennoch unmittelbar gelingen sollte, kämen ihre Installation und ihre Inbetriebnahme in frühestens ca. zehn Jahren für die notwendige zeitnahe Energiewende ohnehin zu spät.
Der von der EU-Taxonomie geforderte wesentliche Beitrag für die "Anpassung an den Klimawandel" würde somit durch die Lenkung der Finanzströme in die Kernkraft geradezu verhindert, denn das notwendige Investitionskapital wird in diesem Falle für die eigentliche Energiewende nicht zur Verfügung stehen.