Ist ein "demokratisches, friedliches, ökologisches, feministisches, solidarisches" Europa möglich?

Seite 2: Raus aus EU und Euro?

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Einig war man sich auf dem Attac-Kongress, den "Widerstand gegen Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung". Doch soll man deshalb für einen Lexit, einen left exit, trommeln?

"Die einen", schreibt SZ-Autorin Jana Anzlinger, "wollen die EU reformieren, die anderen eine neue transnationale Organisation aufbauen, und manche wollen zusammen mit den Nationalstaaten auch gleich deren Zusammenschlüsse abschaffen."

Stephen Nolan, Co-Direktor einer Ausbildungsorganisation in Belfast, erklärte, warum er mit antikapitalistischen und Anti-Establishment-Argumenten den Brexit unterstützt. Denn das neue Labour-Programm, das Nationalisierungen und mehr Sozialstaat wolle, sei zum großen Teil innerhalb der EU nicht umsetzbar.

Viele kritisieren, der Euro sei eine Fehlkonstruktion, seine Regeln und neoliberalen Institutionen, mit der EZB an der Spitze, zwängen dem Süden brutale Austeritätsprogramme auf. Sie hoffen, ein "freiwilliger Ausstieg aus dem Euro-System [... könnte] einzelnen Volkswirtschaften die nötige Flexibilität und Autonomie für ihre wirtschaftliche Entwicklung und die Überwindung von Krisen ermöglichen".

Austritt ist naiv

Doch warum sollten Staaten, die in EU & Euro keine Chance haben, außerhalb eine größere Chance haben? Die Fundamentalkritiker der EU neigen dazu, die großen politischen und ökonomischen Risiken einer Rückkehr zum Nationalstaat und Ohnmacht von Nationalstaaten angesichts globaler Probleme in der Welt es Kapitalismus kleinzureden.

So wären Regierungen mit anpassungsfähigen Wechselkursen "unabhängig von ihrer politischen Orientierung zu einer drastischen Austeritätspolitik gezwungen", sagen Klaus Busch, Joachim Bischoff und Axel Troost. Denn sie müssten, um die nationale Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, Reallohnsenkungen durchsetzen und Exportförderung betreiben; heutige Schuldnerstaaten würden sich an den internationalen Kapitalmärkten weiter verschulden müssen und mit ihrer gesamten Volkswirtschaft in eine Zins- und Schuldenfalle geraten.

EU reformieren

Wie kann es gelingen, eine auf neoliberale Wirtschaftspolitik orientierte EU zu demokratisieren und sozial auszurichten? Waren erst die EU-Verträge der neoliberale Sündenfall des europäischen Staatenbündnisses, vor dem alles besser war? Etienne Balibar jedenfalls forderte Anfang des Jahres "Wir müssen uns fragen, wie die Europäische Union wieder an ihren - heute korrumpierten - ursprünglichen Antrieb anknüpfen kann." Auf dem Attac-Kongress schlug Hans-Jürgen Urban aus dem IG Metall-Vorstand vor, bei den Produktivitätsdifferenzen anzusetzen: Die von der EU profitierenden Staaten wie Deutschland sollten in einen Fonds einzahlen, aus dem zurückgebliebene Regionen (mit Bürgerbeteiligung) gefördert werden sollten. Allerdings könnte man bei solchen Solidarausgleichen schnell "die WTO an der Hacke haben".

Ein weiteres europäisches Erfolgsmodell könnte ein europäisches Mindestsicherungssystem und ein europäischer Mindestlohn sein, ergänzte Fritz Scharpf, Ex-Direktor des Max Planck Instituts für Gesellschaftsforschung Köln. Margareta Steinrücke von der Kongress-Vorbereitungsgruppe betonte: "Ein vorbildlicher Orientierungspunkt dafür kann z.B. die Sozialcharta des Europarats mit ihrem Recht auf Arbeit, Recht auf Wohnen, Recht auf soziale Sicherheit, Recht auf Gesundheit sein."

Doch bieten die Verträge Spielräume für emanzipatorische Reformen und eine Transformation der EU-Institutionen? Zumindest die Strategie einer "Variablen Geometrie" ist ansatzweise schon in den EU-Regularien vorgesehen. Der Amsterdamer Vertrag von 1997 erlaubt als "verstärkte Zusammenarbeit" (enhanced cooperation) Gruppen von mindestens neun Mitgliedsstaaten, Projekte durchführen, ohne dass die anderen mitmachen müssen. Die Finanztransaktionssteuer wird gegenwärtig in diesem Rahmen von zehn Mitgliedländern verhandelt. Linke Regierungen könnten sogar - allerdings nur mit Zustimmung des Rates - Formen solidarischer Ökonomie austesten, "ohne dass sie auf den Sankt Nimmerleinstag einer synchronen linken Mehrheit in 27 Ländern warten müssen."

Ein Thema war das französisch-deutsche Manifest "Die EU muss neu gegründet werden", das dem sozialen, steuerlichen und ökologischen Unterbietungswettbewerb, "der mörderischen Fiskalkonkurrenz ... Grenzen setzen" will. Um eine europäische Demokratie herzustellen, solle die EU eigene Haushaltsressourcen erhalten, finanziert durch eine europäische Finanztransaktionssteuer und kontrolliert durch das Europäische Parlament.

In der Argumentation der "Kehrtwende für eine andere EU" ist nicht die Brüsseler Zentraladministration das Übel, sondern der Europäischen Rat, da hier die Staaten, insbesondere die Bundesregierung, die neoliberale Politik der EU beschließen. Die Gegner seien nicht politische Elite und Bürokraten in Brüssel, sondern die politischen Akteure in Berlin. Für den Euro und die Europäische Währungsunion heißt die Alternative: radikal reformiert werden - oder zerbrechen. Deswegen müssen EU und Euro radikal umgebaut werden, und es "müssten Beschäftigung, Lohn- und Einkommenspolitik und soziale Sicherung in der Union einen deutlich größeren Stellenwert erhalten".

Die EU sollte gesamtschuldnerisch Euro-Anleihen aufnehmen, da Euro-Staaten mit geringer Bonität nur einen schlechten Zugang zum Kapitalmarkt haben. Eine europäische Sozialunion müsse verwirklicht werden, orientiert an Plänen von EU-Sozialkommissar Laszlo Andor vom März 2013, und nicht so unverbindlich wie die Ende 2017 feierlich ausgerufene "Europäische Säule Sozialer Rechte" (ESSR). Ein Element wäre eine Europäische Arbeitslosenversicherung; sie würde eine positive Identifikation mit Europa unterstützen und könnte auch gegenläufige konjunkturelle Entwicklungen zwischen den Mitgliedstaaten dämpfen.

An kreativen Ideen herrschte in Kassel kein Mangel. Dann müsste nur noch die Lobbymacht dazukommen, damit sie keine kostenlose Politikberatung bleiben, sondern als alternative EU-Politik durchgesetzt werden.