Ist ein "demokratisches, friedliches, ökologisches, feministisches, solidarisches" Europa möglich?

Seite 3: Weder raus, noch reformieren, sondern ...

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Da die europäische Linke sich "selbst lähmt, wenn sie auf eine gleichmäßig starke Mobilisierung in ganz Europa - insbesondere in den politisch wichtigsten Ländern Deutschland und Frankreich - wartet", müsse sie "über Möglichkeiten nachdenken, wie Spielräume für eine alternative Wirtschaftspolitik auf mittlere Sicht im Zweifel auch mittels einseitiger Brüche mit den bestehenden Formen der Integration und durch neue Formen der Kooperation - im Sinne selektiver Desintegration und Reintegration - zurückgewonnen werden können", empfahl Etienne Schneider schon letztes Jahr.

Attac Österreich hatte noch 2009 ein Buch mit dem Titel "Wir bauen Europa neu: Wer baut mit?" herausgegeben. Doch dann kam die große Ernüchterung und sie veröffentlichten im Sommer 2017 das Buch "Entzauberte Union. Warum die EU nicht zu retten und ein Austritt keine Lösung ist". Nach der Niederschlagung des Syriza-Reformprojekts wurde ihnen klar, so Lisa Mittendrein und Julianna Fehlinger von Attac Österreich, dass die EU nicht das soziale und demokratische Projekt ist, das die EU-Propaganda ausmalt.

"Ist die EU noch zu retten? Wir denken: Nein", führten die Referentinnen in dem Workshop aus, denn "in ihrem Kern ist die EU ein Raum verschärfter Konkurrenz - sowohl zwischen den EU-Staaten als auch auf globaler Ebene". Auf Reformierbarkeit zu setzen, würde falsche Hoffnungen schüren - die die Bevölkerung längst aufgegeben habe. Aber auch ein EU-Austritt und eine Rückkehr zum Nationalstaat wären keine Lösung und würden (in Österreich) die rechten Kräfte stärken.

Statt in diesem Reform-Austritts-Dilemma taktierend nach Bedingungen für Möglichkeit suchen, um Gelegenheiten zu schaffen für die Formulierung durchsetzbarer Wunschvorstellungen, beschloss Attac Österreich, "die Frage, wie wir als Bewegungen handlungsfähig werden, in den Mittelpunkt" zu stellen. Praktisch bedeutete das, z.B. Bewegungen für Ernährungssicherheit zu unterstützen wie "Mals bleibt pestizidfrei".

In Leuchtturmprojekten , die der Bevölkerung gut vermittelbar sind, soll eine emanzipatorische "Strategie des Ungehorsams" gegen EU-Recht geprobt werden, um die EU-Marktradikalität zu politisieren. Z.B. sollten linke Kommunen offensiv das Unwesen der privatisierten Paketzustelldienste beenden. Rechtliche Bedenken müsse man erst einmal da nicht wichtiger nehmen, als es rechte Regierungen tun wie z.B. ein Orban, wenn er die EU-Flüchtlingsregelung kaputtmacht. (Wie wäre es mit einer satirischen Aktion durch DIE PARTEI: "Wir wollen unsere Reichspost wieder", wurde gefragt.)

Gegen unsoziale EU-Politik "hat eine gewählte Regierung die Pflicht, diese Regeln zu missachten. Und wir haben das Recht, genau das von ihr zu verlangen".

Attac Österreich: Entzauberte Union, S. 262

Auf dem Kongress blieben große Zweifel, ob die neoliberale EU reformierbar ist und vom kapitalistischen Wachstumswahn weggebracht werden kann. "Aber das ist auch nicht die zentrale Frage", resümiert Achim Heier vom Attac-Koordinierungskreis. "Zentral sind gemeinsame emanzipatorische Projekte, mit denen wir einem Guten Leben für alle Europäer*innen näher kommen. Bei dem dabei nötigen 'strategischen Ungehorsam' gegenüber EU-Politiken werden wir sehen, was in der EU machbar ist."

Dafür sind auch Gewerkschaften nötig, die Druck auf Regierungen und Konzerne ausüben. Auf dem Europakongress waren keine europäischen Gewerkschaften vertreten: Sie sind unterfinanziert und schwach und koordinieren auf europäischer Ebene kaum Kämpfe, da es z.Zt. kaum nationale Kämpfe gibt.

Andrea Ypsilanti, hessische Ex-SPD-Fraktionsvorsitzende, Noch-Landtagsabgeordnete und Mitbegründerin des Instituts Solidarische Moderne feuerte an: "Es braucht eine linke Bewegung und einen sozial-ökologischen Umbau, um den begonnen Weg in Barbarei zu stoppen! ...Und es braucht, angesichts unserer imperialen Lebensweise, eine radikale Umverteilung von Arbeit, nicht nur Erwerbsarbeit mit radikaler Verkürzung der Arbeitszeit."

Um das zu erreichen, schlug Stephen Nolan aus Belfast vor, soziale Bewegungen mit Streetworkern aufzubauen, wie es "Momentum", die Unterstützerorganisation für Jeremy Corbyns Positionen in Großbritannien mache.

Weltmacht Europa

Schon 1951, als mit der Montanunion der Grundstein der europäischen Integration gelegt worden war, war es nicht um vorrangig um Völkerverständigung gegangen. Im ausgerufenen grenzenlosen Wettbewerb wollten besonders Frankreich und Deutschland mit Quoten für Kohle und Stahl verhindern, dass dadurch ihre strategisch wichtigen nationalen Industrien beschädigt würden. Zumal beide ja begannen, für den Kalten Krieg zu rüsten.

Bei der Unterzeichnung des Vertrags von Nizza 2001 waren zwölf der damals noch 15 Mitgliedstaaten sozialdemokratisch geführt, also zu New Labour gewandelte, oder Mitte-Links. Sie verabschiedeten die so genannte Lissabonstrategie: Die EU wollte zur wettbewerbsstärksten Region der Welt werden.

"Der Euro ist ein Projekt der europäischen Eliten, die endlich wieder eine größere Rolle in der Weltpolitik spielen wollen. Die Ideologie des freien Marktes war der Baumeister dieser EU. Eine demokratische Wirtschaftssteuerung ist durch den Vertrag von Lissabon bewusst ausgeschlossen worden", schrieb die LINKE schon 2013. Auch wenn es heute mit China und Russland zu globalen Machtverschiebungen kommen sollte, haben wir keinen Grund, uns auf die Seite eines Blockes zu stellen, hieß es in einigen Workshops des Europakongresses.

Militarisierung der EU-Außenpolitik: PESCO

"Die Militarisierung der EU-Außenpolitik lehnten die Kongressteilnehmer*innen geschlossen ab", so Attac, sie "forderten eine Zone der Zusammenarbeit und gemeinsamen Sicherheit von Lissabon bis Wladiwostok". Die Militarisierung der EU und Vorbereitung einer Europäischen Armee durch das PESCO-Militärprogramm wurde als beängstigend eingeschätzt.

Jürgen Wagner von der Informationsstelle Militarisierung e.V. (IMI) führte aus, dass mit der 2008 vom Europarat angenommenen "EU-Globale-Strategie" (EUGS) das militärische Einsatzgebiet der "Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik" (GSVP) sich bis zur malaiischen Straße von Malakka erstrecke. Die frühere Außenbeauftragte der EU, Catherine Ashton, begründete das so: "Die harte Wahrheit, um die wir nicht herumkommen, ist, dass Konflikte Tausende von Meilen von unseren Grenzen unseren Interessen schaden können,[ weshalb] die EU entscheidende Schritte unternehmen muss, ihre Sache auf der Weltbühnen zu stärken."

Als Bundespräsident Horst Köhler das am 22. Mai 2010 benannte, "dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege", musste er zurücktreten.

Auf dem Europakongress forderte man dagegen einhellig eine Beendigung von Rüstungsexporten und eine humane Migrationspolitik als Gegenmodell zur Festung Europa und statt "ungleicher Verträgen wie den Handelsabkommen mit Afrika (EPAs) ... den Einsatz für eine entwicklungs-freundliche Weltwirtschaftsordnung".

Frieden durch Regionen

Seit Jahren argumentiert Robert Menasse, der Nationalstaat sei passé und Globalisierung sei "nichts anderes als die schrittweise Entmachtung der Nationalstaaten". Die EU sei im Kern "ein Friedensprojekt - das geht aber nur, wenn es keine Nationen mehr gibt. ... Europa braucht ein Netzwerk der Regionen".

Auch die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot forderte: "Eine Europäische Republik muss auf den europäischen Kulturregionen aufbauen, nicht auf Nationalstaaten." Ihr geht es "gar nicht um ‘Regio-Nationalismus‘, sondern nur um den Tatbestand, dass politische Einheiten von 8 - 15 Millionen für politische Einheiten eine Art ‘optimale Betriebsgröße‘ sind, wie die Politikwissenschaft erforscht hat. ... En passant wäre das Problem der deutschen Übermacht in der EU gelöst."

Es bleibt zu diskutieren, ob damit nicht nur ein nationaler oder gesamteuropäischer Patriotismus durch einen regionalen ersetzt werden soll.

Hoffnung aufs EU-Parlament: Menschenrechte vor Profit?

Ein aktueller Prüfstein für die EU-Politik ist, ob sie Menschenrechte vor globale Profite stellt. Am 4. Oktober 2018 stellte sich das EU-Parlament mit knapper Mehrheit https://sven-giegold.de/erfolg-fuer-die-menschenrechte-transnationale-unternehmen/ hinter die Mitte Oktober 2018 weitergeführten Verhandlungen auf UN-Ebene, ein rechtsverbindliches Abkommen (binding Treaty) zu erarbeiten, um Menschenrechtsverstöße von transnationalen Unternehmen effizienter ahnden zu können. Denn über jedes zweite britische, französische und deutsche börsennotierte Unternehmen soll über Tochterunternehmen und abhängige Zulieferfirmen an Umweltverbrechen und Menschenrechtsverletzungen beteiligt gewesen sein, z. B. Unterdrückung von gewerkschaftlicher Organisation, Gewaltandrohung an Gewerkschafter, Zusammenarbeit mit Privatarmeen, Kinderarbeit, ausbeuterische Löhne und unzureichende Arbeitssicherheit.

Doch bisher haben die EU (und auch Deutschland) die Verhandlungen größtenteils boykottiert. Die deutsche GroKo lehnt verbindliche Auflagen ab und richtet lieber unverbindliche Empfehlungen an Unternehmen im Rahmen ihres "Nationalen Aktionsplans".

Aktuell fordert das EU-Parlament, "dass ... wirksam gegen von transnationalen Unternehmen begangene Menschenrechtsverletzungen vorgegangen wird". Andererseits soll das die Geschäfte nicht zu sehr einschränken und "nicht über das, was in der EU rechtlich festgelegt ist, hinausgehen".