It’s China, stupid! Warum der Westen Indien hofiert
Indien steht mit Premierminister Modi politisch am Scheideweg. Die Demokratie hat gelitten. Warum westliche Staaten darüber hinwegsehen.
Indien wählt. In der weltweit größten Demokratie, mit fast einer Milliarde Wählern, finden vom 19. April bis 1. Juni Parlamentswahlen statt. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird Premierminister Narendra Modi eine dritte, fünfjährige Amtszeit gewährt und seine Bharatiya Janata Party (BJP) kann mit einer überwältigenden Mehrheit rechnen.
Der Westen – die USA, die EU, Deutschland, Japan, Australien und viele andere Länder – hofieren die indische Regierung und buhlen um Indiens Partnerschaft, um möglichst enge politische und wirtschaftliche Beziehungen.
Indien: Ein begehrter Partner des Westens
In Indien, so das Mantra, sieht man einen Wertepartner. Im gegenwärtigen globalen Umfeld ist Indien gut positioniert, ein bevorzugter Partner des Westens zu sein, da gemeinsame demokratische Werte ein Gefühl der Gleichgesinntheit schaffen könnten. Doch politisch steht Indien an einem Scheideweg.
Demokratie in Indien: Ein kritischer Blick
Indiens säkulare Gesellschaft und multikulturelle Demokratie sind nicht mehr so stabil, wie es die Verfassung vorsieht. Die indische Demokratie hat in der Modi-Zeit erheblich gelitten und Modi und seine BJP haben sie systematisch untergraben.
Schon 2020 schrieb der Guardian: Indiens "Institutionen – seine Gerichte, ein Großteil der Medien, seine Ermittlungsbehörden, die Wahlkommission – wurden bereits unter Druck gesetzt, sich Modis Politik anzupassen".
Wie in anderen sogenannten "illiberalen" Demokratien passt auch die indische Regierung den Text ihrer Geschichtsbücher den eigenen Vorstellungen an. Ob an Universitäten oder Schulen, in Print oder Online-Medien, wer nicht im Sinne der Regierung spurt, wird an den Rand gedrängt.
Modis Politik des Hindutva: Eine hinduistische Renaissance
Premierminister Modi verfolgt eine Politik des Hindutva, eine hinduistische Renaissance, die Schaffung einer homogenen Hindu-Gesellschaft, die die Nichthindus diskriminiert.
Das Konzept des Hindutva ist eine nationalistische Ideologie, die 1923 verfasst wurde und heute von der BJP aggressiv propagiert wird. Nach diesem identitätspolitischen Konzept soll Indien eine Hindu-Nation sein.
In den Worten des indischen Außenministers Subrahmanyam Jaishankar: Innen- und außenpolitisch will sich Indien auf seine eigene zivilisatorische Stärke besinnen.
Deshalb auch heute die Bezeichnung Indiens als "Bharat", dem Sanskritwort für Indien. Diese Ideologie ist das Gegenteil von Gandhis und Nehrus idealistischer Version eines liberalen, säkularen und multikulturellen Indiens.
Hindutva und seine Konsequenzen: Das neue Staatsbürgerschaftsgesetz
Hindutva hat praktische Konsequenzen. Im Jahr 2019 beispielsweise erließ das Parlament ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz. Demnach erhalten Einwanderer, die bis 2014 aus Pakistan, Bangladesch und Afghanistan kamen, Asyl in Indien.
Das Gesetz gilt für die Anhänger aller Religionsgemeinschaften, außer für Muslims. Damit wird Muslimen automatisch und offen die Staatsbürgerschaft entzogen oder vorenthalten.
Arundhati Roy, Indiens wohl bekannteste zeitgenössische Schriftstellerin, bezeichnet dieses Gesetz als eine "Version der Nürnberger Gesetze von 1935", die die Einreichung von "Abstammungspapieren" erforderte.
Während Kritiker den Tod der Demokratie in Indien befürchten, behauptete Modi auf dem Weltwirtschaftsforum 2018 in Davos, Indiens Demokratie sei eine "Kraft der Stabilität" in einer unsicheren Welt.
Indiens Pressefreiheit unter Beschuss
Der World Press Freedom Index 2023 stuft Indien auf Platz 161 am unteren Ende ein, zusammen mit Ländern wie Russland und der Türkei. Die Situation in Indiens Presse hat sich laut Reporter ohne Grenzen von "problematisch" auf "sehr schlecht" verändert.
Freedom House, das in seiner jährlichen Umfrage Trends in Demokratie und Autoritarismus misst, listet Indien in der Gruppe der Länder mit dem größten Zehn-Jahres-Rückgang der Freiheit auf. Daher wurde Indien von "frei" in die Kategorie "teilweise frei" herabgestuft.
Die Unterdrückung der Opposition in Indien
Die Opposition wird systematisch unterdrückt, vor allem im muslimisch geprägten Kaschmir, wo die Landesregierung seit fünf Jahren unter Delhis Kuratel gestellt ist. Das Militär ging brutal gegen Demonstranten vor, weil sie aus Sicht Delhis Terroristen sind.
Die Regierung in Neu-Delhi zensierte die Presse und schaltete wochenlang die Internet- und Telefonverbindungen ab. Tausende Oppositionspolitiker und Journalisten landeten 2019 im Gefängnis, viele von ihnen bis heute.
Die oppositionelle Congress Party, die jahrzehntelang die Regierung stellte und von Nehrus Dynastie wie ein Familienunternehmen geführt wurde, ist marginalisiert, nicht zuletzt auch weil sie selbstgefällig und höchst korrupt an der Macht klebte.
Ob das heutige Oppositionsbündnis von über 20 Parteien unter Führung des Congress bei der jetzigen Wahl eine Chance hat, ist fraglich. Viele Inder sehen in Modi, der sich als Macher und Volkstribun präsentiert, der es vom Teeverkäufer zum Premierminister schaffte, die Alternative.
Indiens Wirtschaftswachstum unter Modi
In den zehn Jahren der Modi-Regierung ist die indische Wirtschaft rasant gewachsen und Indiens Regierung betont selbstbewusst ihre wichtige weltpolitische Rolle.
Indien ist inzwischen die fünftgrößte Wirtschaftsmacht der Welt und kann mit hohen Wachstumsraten von jährlich bis zu sieben Prozent punkten. Deshalb ist Indien für den Westen als Partner von besonderem Interesse.
Indien und der Westen: Eine komplizierte Beziehung
Modi weiß seine westlichen Partner immer wieder zu beruhigen: "Es gibt keine Diskriminierung in Indien." Als er vor einem Jahr die USA besuchte, reagierte er auf kritische Fragen mit Selbstbewusstsein: "Demokratie fließt in unseren Adern. Wir leben Demokratie."
Als der frühere Präsident der USA Barack Obama bei Modis Besuch in Washington gefragt wurde, warum man in den USA die Politik von Autokraten vom Schlage Modis nicht kritischer sehe, meinte er: "Es ist kompliziert" und er führte finanzielle, geopolitische und Sicherheitsinteressen an, die der Präsident der USA zu berücksichtigen habe.
In anderen Worten: demokratische Werte hin oder her: It’s China, stupid! Indien scheint als Gegengewicht zu China in Asien unverzichtbar.
Indiens politische Allianzen: Ein Balanceakt
Aber Indien ist nicht bereit, sich einfach vom Westen gegen Russland oder China vereinnahmen zu lassen. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 stellte man in den USA und der EU erstaunt fest, dass Indien sich nicht an den Sanktionen gegen Russland beteiligte.
Indiens Streitkräfte, seit Jahrzehnten vor allem mit sowjetischen bzw. russischen Waffen ausgerüstet, sind weiterhin auf die Kooperation mit Russland angewiesen. Die Exportschwierigkeiten Russlands nach Verhängung der Sanktionen nahm Indien zum Anlass, in Russland preiswert Erdöl einzukaufen.
Die Modi-Regierung verfolgt eine Politik der multiplen, also wechselnder Allianzen, die an Indiens traditionelle Politik der Blockfreiheit anknüpft. Samir Saran, Präsident der indischen Denkfabrik Observer Research Foundation, argumentiert, dass die heutige Welt von Eigeninteresse geprägt ist und spricht von "limited liability partnerships among nations", also Partnerschaften mit begrenzter Haftung.
Indien ist einerseits durchaus interessiert, mit dem Westen ein Gegengewicht zu China zu schaffen, weil nach wie vor territoriale Konflikte zwischen Indien und China bestehen und weil Chinas Aktivitäten im Indischen Ozean schon lange ein Dorn im Auge der indischen Regierung sind.
Gleichzeitig will Indien den Globalen Süden repräsentieren, was beim G-20-Gipfel in Neu-Delhi im September 2023 deutlich wurde.
Indien als Vermittler in der globalen Politik
Dieses Konzept der multiplen Allianzen ermöglicht es Delhi, als Vermittler aufzutreten, mal in Koalition mit den USA oder der EU aufzutreten und bei sich bei anderen Gelegenheiten auf die Seite Russlands oder des Globalen Südens zu schlagen.
Es ist ein politischer Drahtseilakt, der Indien eine Mittlerrolle ermöglicht und so auch seine eigene globale Rolle zu stärken.
Der Friedens- und Konfliktforscher, Prof. Dr. Herbert Wulf (i.R.), war Direktor des Bonn International Center for Conflict Studies (BICC). Er war Forschungsleiter am Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) und am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) der Universität Hamburg. Er arbeitete vier Jahre als Entwicklungshelfer in Indien.
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