"It's alive!" und doch vergriffen: Frankenstein, Dracula und die Tücken des Urheberrechts

Seite 4: Der Vitalismus-Streit

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Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts gehörte die Elektrizität zum Aufregendsten, das man sich vorstellen konnte. Forscher bauten sich damals riesige Batterien und fingen an, tote Körper unter Strom zu setzen. Einer von denen, die glaubten, in der Elektrizität sei der Ursprung allen Lebens verborgen, war Giovanni Aldini, ein Professor aus Bologna. Am 17. Januar 1803 führte er in London ein aufsehenerregendes Experiment durch. Dabei verband er den Körper des sechs Stunden zuvor gehängten Frauenmörders Thomas Forster mit einer galvanischen Maschine, dann schaltete er den Strom ein. Der Korrespondent des Annual Register (Februar 1803) hat das Ereignis so beschrieben:

Als der Prozess das erste Mal beim Gesicht zur Anwendung kam, begann der Kiefer des verstorbenen Kriminellen zu zittern, und die anliegenden Muskeln zogen sich auf schreckliche Weise zusammen, und es öffnete sich tatsächlich ein Auge. Im weiteren Verlauf des Experiments wurde die rechte Hand gehoben und zur Faust geballt, und die Beine und Schenkel wurden in Bewegung gesetzt, und allen Umstehenden erschien es, als würde der elende Mensch jeden Moment ins Leben zurückgeholt werden.

Von da bis zu Colin Clive und Peter Cushing, die in den Frankenstein-Filmen dasselbe machen wie Aldini 1803 in London (nur mit einem aus Leichenteilen zusammengesetzten Versuchsobjekt, wofür es auch historische Vorbilder gibt), ist es nicht mehr weit.

Peter Cushing in "Curse of Frankenstein"

Als Aldini 1805 des Landes verwiesen wurde, hatte er längst Nachahmer gefunden. Am Leicester Square in London - da, wo heute die großen Uraufführungskinos stehen - konnte man sich einen galvanischen Apparat kaufen und dann selbst Experimente machen, meistens mit Fröschen, Hunden oder Katzen. Das, was man mit dem elektrischen Strom so alles anstellen konnte, sorgte zehn Jahre später für einen Streit unter Wissenschaftlern.

Sprecher der einen Seite war John Abernethy, Chirurg und Anatomieprofessor. Abernethy war ein frommer Mensch und bestrebt, die religiöse und die weltliche Sichtweise miteinander zu versöhnen. Für ihn gab es eine feine, unsichtbare, mit der Elektrizität vergleichbare Substanz (die "Lebenskraft"), die Körpern von außen (also von Gott) hinzugefügt wurde. Abernethys Gegenspieler hieß William Lawrence, wie dieser Professor am Royal College of Surgeons. Er führte in seinen Vorlesungen aus, dass man trotz aller Beobachtungen am werdenden Leben und der langjährigen Suche nach dem vitalen Funken die Natur nie in flagranti erwischt habe. An Tieren habe man aber sehr wohl beobachtet, wie sie am Werden ihrer Artgenossen beteiligt seien. Kurzum: Der Ursprung der Lebewesen seien deren Eltern. Für Gott und die Seele war in diesem Erklärungsmodell kein Platz.

Der "Vitalismus-Streit" wurde zunächst nur im kleinen Kreis ausgetragen, innerhalb der wissenschaftlichen Community (und mit zunehmender Schärfe). Mary Shelley war gut informiert, weil Lawrence ihr und Percys Hausarzt war und wissenschaftliche Fragen mit den beiden diskutierte. In Krempe und Waldman, den Lehrern Victor Frankensteins an der Universität von Ingolstadt, findet sich vieles von Abernethy und Lawrence wieder. 1819 veröffentlichte Lawrence sein Hauptwerk, das heute als eine der frühen Schriften zur Evolutionstheorie gilt: The Natural History of Man.

Mary und Percy Shelley kannten die wesentlichen Aussagen bestimmt schon vorher, während der Entstehungszeit von Frankenstein, weil in dem Buch die überarbeiteten Vorlesungen des Autors versammelt sind. Lawrence spricht sich für die freie Meinungsäußerung des Wissenschaftlers aus, ohne Zensur durch Kirche und Staat, ist gegen "intellektuelle Vernebelung", "absurde Fabeln" sowie die Vermengung von Religion und Naturwissenschaft, wenn es um die Natur des Lebens geht: "Die theologische Doktrin der Seele, und ihre separate Existenz, hat mit dieser physiologischen Frage nichts zu tun. […] Ein immaterielles und spirituelles Wesen hätte man inmitten des Bluts und des Schmutzes des Sezierraums nicht entdecken können."

Bisher hatte Lawrence seine provokanten Thesen relativ unbeschadet vertreten können, obwohl er bereits des Verrats an seinem Lehrer und Förderer Abernethy, der Undankbarkeit und des Atheismus beschuldigt wurde. Nach der Veröffentlichung der Natural History of Man nahm sich die Quarterly Review seiner an, wo 1818 die erste, von religiöser Empörung geprägte Besprechung von Frankenstein erschienen war. In dieser Zeitschrift wurden einer breiteren Öffentlichkeit die als wichtig eingestuften Bücher vorgestellt und mit halb-akademischem Anspruch interpretiert, aus der Sicht des gebildeten Anglikaners und im Rahmen des englischen Zwei-Parteien-Systems.

Bis zum Ende der Napoleonischen Kriege und dem Entstehen neuer, konkurrierender Zeitschriften war die dominante Rolle der Quarterly Review im kulturellen Leben Englands völlig unangefochten gewesen. Nun sollte eine Besinnung auf die traditionellen Werte die in Gefahr geratene Vorherrschaft sichern. Eine Kampagne gegen die Feinde der Moral konnte da nicht schaden.

Zensur im Dienste der Meinungsfreiheit

Zur Aufrüttelung der Leserschaft wurde Progressives aus den unterschiedlichsten Bereichen auf einen gemeinsamen Nenner gebracht: den der Gottlosigkeit und der politischen Subversion. Das Muster war immer dasselbe. Zuerst wurde angeprangert, dann nach Zensur (v.a. für Allgemeinverständliches) sowie einer strikteren Anwendung der Blasphemiegesetze gerufen. Die Review zog gegen den Spenceanismus zu Felde, einen agrarisch geprägten Vorläufer des Kommunismus, gegen Parodien auf religiöse Texte und gegen Verleger wie Richard Carlile (einen Freund von Mary Shelleys Vater William Godwin), der Thomas Paines The Age of Reason veröffentlicht hatte. Im November 1819 war die Reihe an William Lawrence.

Die vernichtende Besprechung seines Buches beginnt mit einer detaillierten Darstellung des Vitalismus-Streits seit 1814 (und konfrontierte erstmals ein größeres Publikum mit den Lehren der frühen Evolutionstheorie). Als Hauptschuldiger wird der Materialist Lawrence identifiziert, der sich als Judas, Plagiator und von deutschen Vorbildern indoktrinierter Scharlatan erweise. Die Xenophobie ist nicht zu überlesen: es gibt die humane und fromme englische Wissenschaft auf der einen, die grausame, unmenschliche und atheistische, aus dem Ausland (Deutschland und das revolutionäre Frankreich) kommende Wissenschaft auf der anderen Seite. Lawrence, schreibt der Rezensent (und nimmt damit bereits die 40 Jahre später stattfindende Debatte um Charles Darwins Evolutionstheorie vorweg), behaupte, dass sich der Mensch in seinen wesentlichen Merkmalen nicht vom Orang-Utan unterscheide. Nach weiteren persönlichen Anwürfen wird das Royal College of Surgeons aufgefordert, seinen unwürdigen Professor zur Streichung aller anstößigen Passagen und zu einer Unterlassungserklärung zu zwingen, ihn nötigenfalls zu feuern.

Die Königlichen Chirurgen reagierten prompt. Lawrence wurde vorübergehend suspendiert und musste nicht nur die inkriminierten Stellen, sondern gleich das ganze Buch zurückziehen. Das war aber schwieriger als gedacht, weil die Zensur oft seltsame Wege geht. 1817 hatte der oberste Zensor, der Lord Chamberlain, verfügt, dass der Autor eines blasphemischen, volksverhetzenden oder unmoralischen Werkes nicht durch das Copyright geschützt war (ein Sachverhalt, mit dem sich auch Percy Shelley, Lord Byron und deren Erben herumschlagen mussten). 1822 brachte Richard Carlile die Natural History of Man als Raubdruck heraus. Lawrence versuchte, sein Urheberrecht durchzusetzen und das Buch vom Markt nehmen zu lassen. Er wurde abgewiesen. Carlile machte erfolgreich geltend, das Werk sei religionsfeindlich. Es blieb im Druck - weil es für gotteslästerlich erklärt worden war. Carliles Ausgabe brachte es auf neun Auflagen.

1819, als die Vitalismus-Kontroverse eskalierte, hatten viele von Frankenstein gehört, aber nur wenige hatten das Buch auch gelesen. Manche der im Roman vertretenen Ideen waren so neu, dass sie ein breiteres Publikum noch nicht erreicht hatten, als er erschien. In den 1820er Jahren änderte sich das. Der lautstark ausgetragene Streit um Evolution, Seelen und das Prinzip des Lebens sowie die gerichtlichen Auseinandersetzungen um die Natural History verschafften den Debatten der Wissenschaftler größere Aufmerksamkeit. Damit stieg die Zahl derer, die entschlüsseln konnten, was zunächst nur wenigen Eingeweihten verständlich gewesen war.

Frankenstein in der Fassung von 1818 hatte neueste Nachrichten aus der Welt der Wissenschaft geboten. 1831 milderte Mary Shelley vieles von dem, was in direktem Bezug zum Vitalismus-Streit stand, ab - im Sinne des Establishments. Das kann man mit geänderten Überzeugungen erklären (wie Lawrence, später Arzt von Queen Victoria, wurde sie im Laufe ihres Lebens immer konservativer). Aber es schützte sie auch vor Strafverfolgung. Leute wie Carlile wurden wegen Blasphemie ins Gefängnis geschickt. Und in den Standard Novels erschien Frankenstein nicht mehr anonym, sondern mit Mary Shelleys Namen auf dem Titelblatt.

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