"It's alive!" und doch vergriffen: Frankenstein, Dracula und die Tücken des Urheberrechts

Seite 5: Frankenstein in den Klauen des Urheberrechts

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In den heutigen Standardverträgen gibt es einen Passus zur Werkpflege. Der Verlag verpflichtet sich, einen Titel lieferbar zu halten. Kommt er dem nicht nach, kann der Autor die Rechte zurückverlangen. Im 19. Jahrhundert gab es so etwas nicht. Bentley hatte Mary Shelley mit der Einmalzahlung von 30 Pfund die Urheberrechte abgekauft und konnte mit Frankenstein machen, was er wollte. Aus den Dokumenten im Bentley-Archiv der British Library ergibt sich, dass der Roman 1839 in der vierten Auflage erschien, mit jetzt insgesamt 5250 Exemplaren. 1833 kam außerdem in den USA ein Raubdruck mit einer Auflage von vermutlich 1000 Stück heraus, wogegen Bentley keine Handhabe hatte (und Mary Shelley sowieso nicht), weil es kein international durchsetzbares Copyright gab. Das britische Parlament wurde erst 1844 ermächtigt, mit anderen Staaten - zunächst nur mit europäischen - gegenseitig anerkannte Regelungen auszuhandeln. (Die USA traten erst 1891 einem internationalen Abkommen bei.)

Bentley verwendete jedes Mal dieselben Druckplatten. Diese Platten nützten sich ab, und manche waren bald in so schlechtem Zustand, dass sie wenigstens punktuell repariert werden mussten. Dabei konnten sich Fehler einschleichen. Jede Auflage von Frankenstein war schlechter zu lesen als die vorherige. Für Autoren ist so etwas ärgerlich.

In den ersten Jahren konnte sich Mary Shelley damit trösten, dass Bentley ihren Roman zu einem relativ günstigen Preis verfügbar hielt und es überhaupt ermöglichte, dass er neue Leser fand. Aber 1838 wurde William Hazlitt Junior bei ihr vorstellig. Hazlitt war einer jener Verleger, die bei der Buchherstellung moderne Techniken verwendeten, mit denen auch Zeitungen gedruckt wurden. Weil außerdem das mit hohen Steuern belegte Papier billiger geworden war und er möglichst viel Text auf der Seite unterbrachte, konnte er Bücher zu einem Bruchteil von dem in die Läden bringen, was Bentley’s Standard Novels kosteten (1838 war der Stückpreis auf fünf oder vielleicht auch schon auf drei Schilling und Sixpence gefallen).

Hazlitt hatte eine eigene Reihe gegründet, die er The Romancist and Novelist’s Library. The Best Works by the Best Authors nannte. Dort wollte er auch Frankenstein herausbringen. Bentley lehnte das strikt ab. Nach dem Stand von 1838 konnte er damit rechnen, das Urheberrecht noch mindestens bis 1846 zu besitzen (1818 + 28 Jahre), und solange seine Konkurrenten das nach den Änderungen von 1831 neu reklamierte Copyright akzeptierten sogar bis 1859 (1831 + 28 Jahre). Mit Hilfe seines Monopols verteidigte er ein Preisniveau, das gegenüber den alten Triple-Deckers noch immer relativ günstig, verglichen mit Hazlitts Romancist Library aber sehr hoch war. Hazlitt verkaufte Romane im Zeitungsformat und zum Preis von Zeitungen. 1840 rühmte er sich im Vorwort einer seiner Ausgaben, dass er in drei Jahren 121 literarische Werke mit insgesamt 3 572 400 Worten veröffentlicht habe. Das entspreche 65 herkömmlichen Bänden, das Stück zu 31 Schilling und Sixpence. Seine Kunden habe das alles nicht mehr als 13 Schilling gekostet.

Bentley verhinderte nicht nur, dass Mary Shelley noch einmal etwas Geld mit Frankenstein verdiente. Er verstellte ihr und anderen Autoren der Romantik auch den Weg zu ganz neuen, breiteren Leserschichten, die sich ein normales Buch nicht leisten konnten, auch nicht die Standard Novels. 1842 wurde wieder einmal das Copyright geändert. Für Bentley bedeutete das, dass er die Rechte an Frankenstein nun noch länger halten würde als zuvor (nach dem Tod der Autorin weitere 28 Jahre oder, falls das länger war, von der Erstveröffentlichung an noch 42 Jahre). Andere Folgen waren nicht so erfreulich.

Die Standard Novels zeichneten sich durch eine hohe literarische Qualität aus. Um die Reihe fortsetzen zu können, brauchte Bentley weiterhin Autoren und Verleger, die bereit waren, ihm günstig ein ohnehin bald auslaufendes Copyright zu verkaufen. Angesichts der verlängerten Urheberrechtsfristen war das nicht mehr gegeben. Bentley war gezwungen, weniger wählerisch zu sein. Die ab 1842 neu hinzukommenden Bände hatten nicht mehr das Niveau der Standard Novels von früher. Mary Shelley musste sich damit abfinden, dass Frankenstein in einer an Prestige verlierenden Reihe erschien, in einer Ausgabe, die sich die meisten Leser nicht leisten konnten und in Exemplaren, die mit jeder Auflage schlechter gedruckt waren.

1847 wurde der Preis der Frankenstein-Ausgabe in Bentley’s Standard Novels ein letztes Mal reduziert, von anfangs sechs Schilling auf nun zwei Schilling und Sixpence. 1849 ließ der Verlag die fünfte und letzte Auflage drucken, mit 1000 Exemplaren. In den ersten 40 Jahren seiner Existenz kam der Roman damit in Großbritannien auf 7000 bis 8000 Exemplare. Jane Austen war ebenfalls nicht viel erfolgreicher. Aber Walter Scott oder Lord Byron hatten in der ersten Woche nach Erscheinen eines neuen Werks mehr Bücher verkauft. Wie lange es dauerte, bis die fünfte Bentley-Auflage über den Ladentisch gegangen war, weiß man nicht. Wahrscheinlich war sie längst nur noch antiquarisch zu finden, als Frankenstein 1855 in der Parlour Library des Hodgson-Verlages erschien (Text von 1831, mit den Vorworten von 1818 und 1831, zum Preis von einem Schilling respektive von einem Schilling und Sixpence für die gebundene Ausgabe, Auflage unbekannt). Das dürfte ein Raubdruck gewesen sein. Bentley mochte keine Buchrechte an andere Verlage abgeben.

Bei einem Roman, der so berühmt ist wie Frankenstein, denkt man, dass er bestimmt immer lieferbar war. So kann man es auch oft lesen. Aber das ist ein Irrtum. Warum Bentley den letzten Verkaufspreis von zweieinhalb Schilling pro Band nicht mehr weiter senkte, obwohl die Konkurrenz ihre Bücher deutlich billiger anbot, ist unbekannt. In den 1850ern ging die Nachfrage dramatisch zurück. Das war das Ende von Bentley’s Standard Novels. Laut einer Inventarliste von 1861 im Bentley-Archiv waren die Druckplatten da schon eingeschmolzen (und wohl für den Materialwert an einen Schrotthändler verkauft).

Während eines Großteils der 1850er Jahre war Frankenstein vergriffen. Auch in den 1860ern und 1870ern gab es keine neuen Ausgaben. Das war die Zeit, als Bücher auch für Leute mit niedrigem Einkommen erschwinglich wurden und völlig neue Leser fanden. Frankenstein blieb das 25 Jahre lang verwehrt, weil Bentley und seine Nachfolger noch immer die Rechteinhaber waren, den Roman nicht mehr druckten und nicht mehr verkauften, aber auch nicht bereit waren, anderen die Möglichkeit dazu zu geben.

Schutz des geistigen Eigentums: Risiken und Nebenwirkungen

Das Urheberrecht hat durchaus seine Tücken: zum Beispiel dann, wenn es zu sehr an Geschäftsinteressen ausgerichtet ist. In den Jahrzehnten, in denen der Roman vergriffen war, hielten die Theateradaptionen die Erinnerung an den Stoff am Leben - also Versionen der Geschichte, die es überhaupt nur gab, weil man sich im Theater um Urheberrechte nicht zu kümmern brauchte. Wenn man das weiterdenkt, lässt sich die Möglichkeit nicht ausschließen, dass Frankenstein heute zu den vergessenen, längst nicht mehr gedruckten Werken der Weltliteratur gehören würde, wenn es bei Bühnenadaptionen einen Schutz des geistigen Eigentums von Romanschriftstellern gegeben hätte. Da sich das Buch nur noch schwer finden ließ, gingen die meisten Bearbeiter nicht zurück zum Ausgangspunkt, sondern adaptierten eine oder mehrere der bereits vorhandenen, oft auch gedruckt vorliegenden Adaptionen. So entfernten sich die Bühnenversionen immer weiter von der Quelle. Auch das war eine Folge der Bestimmungen zum Urheberrecht und von Bentleys Blockadepolitik.

Eine größere Verbreitung ihres Romans konnte Mary Shelley persönlich nicht mehr erleben, weil diese erst möglich wurde, als Bentley sein Copyright verlor. Dafür musste sie tot sein. So wollte es das Urheberrecht. Sie starb 1851. 1879 (1851+28) lief das Copyright eindeutig aus. Drei Jahre später profitierte Frankenstein endlich von den neuen Publikationsmöglichkeiten. Bei Routledge erschienen ab 1882 verschiedene Ausgaben, von denen es gleich die erste Auflage (Stückpreis drei Pence, gebunden Sixpence) auf mehr Exemplare brachte als alles, was bisher gedruckt worden war, zusammen. Bis 1899 erreichte Frankenstein allein bei Routledge eine Gesamtauflage von mindestens 40 000 Stück.

Der Verlag Dicks brachte Frankenstein 1883 in seiner English Library of Standard Works als Heftroman in vier wöchentlich gelieferten Teilen heraus und zusammen mit sechs anderen Romanen und 48 Geschichten in einem Taschenbuch. 1893 erschien eine gekürzte Fassung als "Penny Popular Novel" in der Masterpiece Library. "Ende des 19. Jahrhunderts", schreibt William St. Clair, "80 Jahre nach der Erstausgabe, wurde Frankenstein endlich für die ganze lesende Nation zugänglich."

Nur: Welcher Frankenstein? Mir persönlich ist die Fassung von 1818 lieber. Sie ist frecher, provokanter, geht mit sozialer Ungleichheit stärker ins Gericht, und Victors Braut Elizabeth ist noch nicht der am viktorianischen Frauenideal ausgerichtete "Engel der Familie". Aber lesen konnte man in den ersten hundert Jahren nach dem Auslaufen der Rechte fast nur die Version von 1831. 28 Jahre nach Mary Shelleys Tod gab es kaum mehr Exemplare der Erstausgabe. Die Verleger druckten wie selbstverständlich die Fassung von 1831 nach, von der die Autorin im Vorwort selbst behauptete, sie habe gegenüber der früheren Version nur einige stilistische Verbesserungen vorgenommen. 1912 erschien die Fassung von 1831 in der Everyman’s Library der Verlage Dent (London) und Dutton (New York). Jahrzehntelang war das die Standardausgabe im englischsprachigen Raum.

Frankenstein

Möglicherweise trug die erste Frankenstein-Verfilmung von 1910, obwohl ein finanzieller Misserfolg, dazu bei, dass Mary Shelleys Werk in die Everyman’s Library aufgenommen wurde. Größeren Einfluss auf die Publikationsgeschichte des Romans hatte die Universal-Produktion von 1931 mit Boris Karloff. James Whales Kassenschlager zog viele neue Ausgaben nach sich. Das Buch zum Film brachte der Verlag Grosset & Dunlap als "Photoplay Edition" heraus (mit Standphotos). Diese Ausgabe enthält nur Percy Shelleys (anonymes) Vorwort zur Version von 1818, bringt dann aber den von Mary Shelley überarbeiteten Text von 1831. Das schuf auch kein Bewusstsein dafür, dass es zwei verschiedene Fassungen gibt. Vermutlich ahnte man bei Grosset & Dunlap davon so wenig etwas wie bei der Konkurrenz.

Erst 1974 gab James Rieger eine wissenschaftlich kommentierte (und sehr teure) Ausgabe des Romans in der Fassung von 1818 heraus. 1982 folgte die Taschenbuchausgabe, die nun auch einen größeren Leserkreis erreichte. Seither gehört bei englischsprachigen Ausgaben der Hinweis mit dazu, ob es sich um den Text von 1818 oder von 1831 handelt, und meistens stimmen diese Angaben sogar. Nur in Deutschland dauerte es noch etwas länger.

Boris Karloff

Eines der Everyman-Bücher (Version von 1831) dürfte Heinz Widtmann verwendet haben, der 1912 die erste deutsche Übersetzung besorgte. 1948 brachte Johannes Angelus Keune eine Übertragung von Elisabeth Lacroix heraus, die auf der Fassung von 1818 basiert. Wahrscheinlich war das der pure Zufall. Übersetzerin und Verlag wussten wohl nicht, dass es zwei Fassungen gab, oder zumindest wiesen sie nicht darauf hin. Wie andere deutsche Ausgaben auch erweckt das Buch den Eindruck, dass lediglich eine Version existiert - nur dass es eben diesmal der Text von 1818 ist.

Mit Ausnahme von Elisabeth Lacroix arbeiteten deutsche Übersetzer mit der Fassung von 1831, was auch kein Wunder ist, weil bis 1974 auf dem englischen Buchmarkt eigentlich nur diese Version erhältlich war. Wenn in deutschen Ausgaben gelegentlich behauptet wird, es handele sich um den Text von 1818, darf man sich davon nicht täuschen lassen. Die Überprüfung ist ganz einfach. In der Fassung von 1818 beginnt das 4. Kapitel mit der Zeugung des Monsters: "Es war in einer düsteren Novembernacht, als ich das Resultat meiner Mühen vor mir sah. Mit einer Angst, die schon beinahe an Agonie grenzte, bereitete ich um mich die Instrumente vor, die in dem leblosen Ding zu meinen Füßen einen Lebensfunken entzünden sollten." In der Fassung von 1831 ist es das 5. Kapitel, das so anfängt.

Nach Elisabeth Lacroix legte erst Alexander Pechmann wieder eine deutsche Übersetzung der Erstausgabe vor, erschienen 2006 beim Patmos Verlag (und inzwischen bei dtv). Leider lädt auch dieses Buch, der unglücklichen Wortwahl wegen, zu Missverständnissen ein. Es handelt sich tatsächlich um eine Übersetzung der Version von 1818, aber nicht, wie behauptet, der "Urfassung". Das wäre die nicht erhaltene Novelle von 1816, oder allenfalls Mary Shelleys Manuskript ohne das Lektorat durch Percy und ohne die vom ersten Verleger verlangte Unterteilung in drei Bände. Seit 2008 kann man diese - wenn man so will - "Urfassung" des Romans zu einem akzeptablen Preis auf Englisch kaufen, als The Original Frankenstein, herausgegeben von Charles E. Robinson.

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