"It's alive!" und doch vergriffen: Frankenstein, Dracula und die Tücken des Urheberrechts

Seite 2: Bestseller, Ladenhüter und Verleger

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Polidori, Byrons inzwischen gefeuerter Leibarzt, hatte seine Vampirgeschichte 1818 in Genf vergessen. Von dort gelangte das Manuskript irgendwie nach London zum kurz vor der Pleite stehenden Verleger Henry Colburn. Der druckte "The Vampyre" in seinem New Monthly Magazine (1. April 1819) ab und erweckte den Eindruck, die Geschichte stamme von Lord Byron. Als Polidori davon erfuhr, schickte er einen folgenlosen Protestbrief.

Für Veröffentlichungen in Zeitschriften gab es ein paar schwammige Regeln, in der Praxis aber keine Copyright-Bestimmungen. Colburn musste sich erst Sorgen machen, als der Text auch in Buchform erschien, denn für Bücher existierte ein Urheberrecht. Den wahren Verfasser hielt er vorerst hin. In der zweiten Buchauflage wurde Polidori namentlich genannt. Auf dem Titelblatt stand jetzt: "Der Vampir; eine Dr. Polidori von Lord Byron erzählte Geschichte". Sein Anspruch auf Autorschaft wurde dadurch gleich wieder relativiert. Alle weiteren Ausgaben erschienen anonym oder wurden Byron zugeschrieben. Colburn wollte sich nicht selbst das Geschäft verderben, indem er den unbekannten Polidori als Autor angab.

Original-Manuskript, Kapitel 7 (Kapitel 4 in der Fassung von 1818, Kapitel 5 in der Fassung von 1831)

Als Ende 1819 Ernestus Berchtold veröffentlicht wurde, Polidoris zum Roman ausgebauter Beitrag zum Erzählwettbewerb in der Villa Diodati, versuchte dieser, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. In einer Fußnote zur Einleitung fasste er kurz zusammen, wie es zu "The Vampyre" gekommen war. Die Fußnote nahm kaum jemand zur Kenntnis. Von Ernestus Berchtold wurden 199 Exemplare verkauft. 1820 bot der Verlag Polidori den Rest der Auflage zum Schleuderpreis an. Goethe erklärte "The Vampyre" unterdessen zum Besten, das Lord Byron je geschrieben habe. Polidori wurde nach weiteren Streitigkeiten mit 30 Pfund abgespeist. Colburn spekulierte darauf, dass er die Kosten einer Klage scheuen würde, und damit behielt er Recht.

Villa Diodati am Genfer See

"The Vampyre" wurde ein sensationeller Erfolg, machte Colburn zum reichen Mann und war Grundlage dafür, dass sich das New Monthly Magazine vom defizitären Monatsblatt zur wichtigsten englischen Zeitschrift für Schauerliteratur der 1820er und 1830er Jahre entwickelte. Allein 1819 erschienen zwei Nachdrucke des New Monthly mit "The Vampyre", drei Buchauflagen unter Verwendung von Colburns Druckplatten und ein neu gesetzter Raubdruck. Im Juni 1820 feierte in Paris die erste Dramatisierung Premiere. Auf den Pariser Bühnen löste das eine wahre Vampir-Manie aus (Hintergrund von Anne Rices Roman Interview With the Vampire und Neil Jordans gleichnamiger Verfilmung), die schon im August 1820 nach England überschwappte.

Anders als "The Vampyre" war Frankenstein kein sofort ausverkaufter Bestseller, auch wenn es oft behauptet wird. Das wird häufig davon abgeleitet, dass der Verlag schon im Januar 1818 die Abrechnung schickte, ist aber nicht nur deshalb falsch, weil 500 gedruckte Exemplare keinen Bestseller ergeben können (zum Vergleich: Walter Scotts Rob Roy erschien 1817 in einer Erstauflage von 10 000 Stück). Das Geschäftsmodell von Lackington war einfach. Der Verlag veröffentlichte Bücher mit einer niedrigen Auflage (500 bis 750 Stück), die sofort ausgeliefert wurde. Das sparte Lagerkosten und wälzte das Risiko auf andere ab, weil Ladenhüter nicht zurückgegeben werden konnten. Ein Verlag für "Schundliteratur" musste auch immer mit dem Besuch der Polizei rechnen. In einem solchen Fall fanden die Polizisten nichts mehr vor, was sie konfiszieren konnten, weil es längst ausgeliefert war.

Eine zweite Auflage wurde bei Lackington grundsätzlich nicht gedruckt. Es blieb also bei 500 Exemplaren von Frankenstein. Wie oft der Roman ausgeliehen wurde, bis die provisorisch gebundenen Bücher auseinanderfielen und wie lange es dauerte, bis die Buchhändler die von ihnen georderten Exemplare tatsächlich verkauft hatten, weiß man nicht. Laut Verlagsabrechnung wurden 41 Exemplare von Frankenstein verschenkt (darin enthalten die Autoren- und Rezensionsexemplare), die anderen 459 verkauft. Mary Shelleys Anteil am Gewinn betrug 833,8 Schilling.

Vom Buch auf die Bühne: Alles nur geklaut

Im August 1823, nach fünf rastlosen Jahren auf dem Kontinent, kehrte Mary Shelley als Witwe zurück nach London (Percy war 1822 bei einem Bootsunfall ertrunken). Am Abend vor ihrem 26. Geburtstag, am 29. August, saß sie im English Opera House und sah ein etwa einstündiges Theaterstück mit Musik. Der Titel des Stücks: Presumption; or, The Fate of Frankenstein. "Aber siehe da! Ich fand mich berühmt!", schrieb sie danach an einen Freund. Das Theater bot Platz für etwa 1500 Besucher und war meistens ausverkauft. Damit hatte das Stück schon nach einigen Tagen mehr Zuschauer erreicht, als das Buch Leser hatte. So fanden der von Mary Shelley erdachte Romanheld und sein Monster Eingang in die Populärkultur. In einigen Zeitungsberichten wurde Mary als die Verfasserin identifiziert.

Das English Opera House hatte mit einer englischen Bearbeitung des französischen Erfolgsstücks Le Vampire (nach Polidoris "The Vampyre") bereits viel Geld verdient. Nun versuchte es das Management auch mit dem anderen Ungeheuer aus der Villa Diodati. Wie damals üblich, holte niemand irgendwelche Rechte ein, niemand sprach mit der Autorin, und Mary erhielt keinen Penny. Das war völlig legal. Theaterstücke waren nur in schriftlicher Form durch das Copyright geschützt und durften ohne Genehmigung nicht nachgedruckt werden. Bei Aufführungen gab es kein Urheberrecht. Verlage erhielten erst 1833 durch ein Gesetz die Möglichkeit, über Inszenierungen von ihnen veröffentlichter Stücke zu bestimmen.

In diesem Gesetz gab es noch immer keinen Schutz für Romanautoren wie Mary Shelley, deren geistiges Eigentum jemand auf die Bühne bringen wollte. Wer einen Roman dramatisierte, brauchte sich wegen des Urheberrechts keine Sorgen zu machen. Und dramatisiert wurde so gut wie alles, was es als Buch gab. Spezialisten adaptierten in Serie, ein Buch nach dem anderen. Charles Dickens hasste es, hilflos miterleben zu müssen, wie seine Romane verhackstückt wurden.

In Nicholas Nickleby (Kapitel 48) karikiert er einen "literary gentleman", der "zu seiner Zeit 247 Romane sofort nach ihrem Erscheinen dramatisierte und einige davon sogar schon vor ihrem Erscheinen". Die Vorbilder für diesen Herrn waren R.B. Peake und H.M. Milner. Beide stellten auch Dramatisierungen von Frankenstein her. Mit Another Piece of Presumption parodierte Peake sich auch gleich noch selbst, bevor andere es tun konnten.

Seit 1737 gab es die Regelung, dass nur wenige britische Theater - Covent Garden und das Drury Lane Theatre in London, ein paar Bühnen in anderen Städten - Sprechstücke aufführen durften. Das Sprechtheater galt als besonders gefährlich. Wenn es nur eine wenige Bühnen gab, waren diese besser zu kontrollieren. Die lizensierten Theater mussten für ihr Privileg hohe Abgaben leisten. Die Eintrittspreise trieb das genauso in die Höhe wie das künstlich verknappte Angebot und der fehlende Wettbewerb. Das war durchaus erwünscht. In den wenigen Sprechtheatern, deren subversive Wirkung die Behörden fürchteten, saßen die oberen Schichten: also diejenigen, die von den bestehenden Verhältnissen am meisten profitierten. Die anderen blieben draußen, weil sie sich den Eintritt nicht leisten konnten.

Wie fast immer in solchen Fällen, wurden die gesetzlichen Regelungen im Laufe der Jahre aufgeweicht. Wer keine Sprechbühnen-Lizenz hatte, durfte trotzdem Theater machen. Es musste sich aber um Oper, Singspiel oder Pantomime handeln. Zur Zeit von Mary Shelley gab es viele Produktionen, bei denen Gesangsnummern eingefügt wurden, um den Bestimmungen zu genügen. Das erklärt, warum in so vielen Frankenstein-Adaptionen des 19. Jahrhunderts gesungen wurde. Das geschah, um Probleme mit dem Lord Chamberlain’s Office (die Zensurbehörde) zu vermeiden und nicht etwa, weil jeder Theaterproduzent der Meinung war, Mary Shelleys Roman könne nur den Stoff für eine Operette abgeben. Der Lord Chamberlain überprüfte, ob der Verfasser eines Stückes durch Hinzufügen von ausreichend Musik so tat, als ob es eine Oper sei, nahm aber auch den ideologischen Gehalt unter die Lupe, politisch wie religiös. Das Widerständige in Mary Shelleys Roman hatte unter diesen Bedingungen wenig Chancen, auf die Bühne übertragen zu werden.

Vieles war damals anders als heute, manches hingegen nicht. Eine Gruppe besonders Rechtschaffener, die sich "Freunde der Menschheit" nannte, demonstrierte vor dem Opera House, obwohl sie weder den Roman noch das Stück kannte. Die "Gesellschaft für die Unterdrückung des Lasters" startete eine Flugblattkampagne, mit der vor einer unmoralischen Tendenz des Romans und dem Besuch der Aufführung gewarnt wurde. Die Kampagne kurbelte aber nur den Kartenverkauf an. In Birmingham kam der Betreiber des Theatre Royal 1824 auf die Idee, für seine Aufführung von Presumption gleich selbst den Protest zu organisieren und die Flugblätter zu verfassen, zur Steigerung des Publikumsinteresses.

Die Inszenierung stand allerdings unter keinem guten Stern. Für die am Schluss vorgesehene Lawine hatte man nicht genug weiße Leinwand. Man behalf sich mit einem weiß angemalten Elefanten, der noch von einer anderen Aufführung übrig war. Der Elefant sollte im entscheidenden Moment rasch über die Bühne gerollt werden ("Eine Lawine! Eine Lawine!"), brachte aber die Kulissen zum Einsturz und musste wegen Brandgefahr schnell fortgeschafft werden (von grün gekleideten Nebendarstellern), während es Frankenstein und seiner Kreatur selbst überlassen blieb, auf andere Weise ums Leben zu kommen.

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