J. Robert Oppenheimer und die Atombombe
Seite 2: Soziotop mit Zerstörungspotenzial
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"766 Tage vor Hiroshima" steht über einer goldgelben Explosionswolke in den allerersten Sekunden von Manh(a)ttan.
Die von Sam Shaw entworfene Serie, die in zwei Staffeln 2014 bis 2016 für Netflix entstanden ist, erzählt vom sogenannten "Manhattan-Project", dem Versuch, unter der Leitung des Physikers J. Robert Oppenheimer die erste Atombombe der Welt zu bauen, das 1942 von der US-Regierung in Los Alamos, New Mexico ins Leben gerufen wurde.
Im Zentrum steht die Frage, wie man sich das nach wie vor von vielen Mythen umwobene "Manhatten Project" vorstellen muss? Zuerst einmal als normales Leben.
Die Serie zeigt Alltäglichkeit der Vierzigerjahre: Die Männer gehen zur Arbeit, die Frauen besorgen den Haushalt, die Kinder sollen lernen und wollen spielen oder sind renitente Teenager, während das gottverlassene und staubig-öde Wüstenkaff allen mehr und mehr auf die Nerven geht.
Die Langweile vertreibt man sich mit Liebschaften und Intrigen. Manh(a)ttan entwirft ein ziemlich präzises Soziotop zwischen den Wissenschaftlern, die noch nicht wissen, wie sie ihr Ziel erreichen, aber schon dessen Zerstörungspotenzial ahnen.
Sie bilden die Elite der Bewohner, sind aber auch Quasi-Gefangene in einer Welt, in der die Armee das Kommando hat. Einige der Soldaten sind frustriert, weil sie nicht an der Front "dienen" dürfen, und lassen den Frust an den Anvertrauten aus. Die dritte Gruppe sind die Familien, die von allem nicht wissen dürfen, denn das "Manhatten Project" unterliegt strengster Geheimhaltung, schließlich werkeln auch die Nazis an einer Atomwaffe.
So warten alle auf den großen Knall, ohne genau zu wissen, worin dieser besteht. Die Hauptfiguren sind bis auf Oppenheimer und Niels Bohr alle fiktiv; sehr oft haben sie allerdings historische Vorbilder.
In erster Linie aber ist Manh(a)ttan ein pastellfarbenes Retro-Stil-Statement in den Fußstapfen von "Mad Men" und "Boardwalk Empire", ein außerhalb der Stadt spielender Noir-Film, der wie ein ferner Spiegel zu unserer Gegenwart funktioniert: Die kühle Vernunft der Soldaten, Geheimdienstler und Wissenschaftler hat sehr unvernünftige Züge.
Der Film trifft echt gut das Lebensgefühl der 40er-Jahre und der kurzen Zeit, als der Bau der Atombombe noch keineswegs sicher und der Kalte Krieg noch kaum am Horizont zu ahnen war.
Der militärisch-wissenschaftliche Komplex
Hey, Oppenheimer! Sie sollten aufhören, Gott zu spielen. Denn sie sind lausig darin. Und der Job ist schon vergeben.
Aus "The Shadowmakers"
Eine konventionellere, stärker auf den Bau der Bombe selbst konzentrierte und näher an die Realgeschichte angelehnte Darstellung der Geschichte liefert Fat Man & Little Boy aka Shadowmakers von Roland Joffe aus dem Jahr 1990. Dies ist der bisher einzige Spielfilm, der eine Darstellung der knapp zwei Jahre von Los Alamos bis zum Trinity-Test verrsucht und insofern der einzige direkte Kino-Vorgänger für Nolans Film.
Paul Newman als der fürs "Manhattan-Project" verantwortliche US-Army-General Leslie R. Groves und Dwight Schultz (in seiner wichtigsten Kinorolle) als Oppenheimer personalisieren, die beiden Säulen des Projekts: Militär und Wissenschaft.
John Cusack spielt die dritte (fiktive) Hauptfigur, einen jungen Wissenschaftler, der kurz vor dem Trinity-Test nach einem Unfall an einer tödlichen Strahlendosis stirbt – und im Film gewissermaßen zum Symbol für die Gefahren und moralischen Abgründe von Radioaktivität und Atombombe steht.
Die Story betont die Frage, ob man durch die Bombe den Krieg ein für alle Mal beenden kann oder ob man mit ganz vielen Bomben einen verheerenden Krieg noch wahrscheinlicher macht, und übertreibt dabei die moralischen Bedenken und Widerstände innerhalb der Los-Alamos-Gruppe.
Der Film, der 1990 auf der Berlinale Premiere hatte, war ein Misserfolg bei Publikum und Kritik. Aber er lohnt einen zweiten Blick. Denn trotz vieler konventionellen Elemente und einer Melodramatik, die heute aus der Zeit gefallen wirkt, ist die Darstellung der Restriktionen durch das Militär, die Bespitzelung oft vor dem Faschismus geflohenen, eingewanderten Wissenschaftler durch das FBI gelungen.
Zudem gibt es einige sehr eindrucksvolle Szenen, etwa die des fehlgeleiteten Tests miteinander verschalteter Explosionen, oder der Trinity-Test, zu dem sich alle Akteure mit eigens konstruierten, zentimeterstarken Sonnenbrillen und mit Sonnencreme fingerdick beschmierten Gesichter hinter Sandsäcken verschanzten.
Eine widersprüchliche Hauptfigur
Die bisher gelungenste Darstellung des "Vaters der Atombombe" ist eine preisgekrönte BBC-Miniserie aus dem Jahr 1980, die auf DVD erhältlich ist: J.Robert Oppenheimer – Atomphysiker.
Regisseur Barry Davis und Autor Peter Prince stellen hier die oft einseitige Idealisierung der Person Oppenheimers latent infrage. Der Versuch, seine vielen Facetten fair zu behandeln führt zum Bild eines zutiefst widersprüchlichen, komplexen Charakters.
Sam Waterston spielt ihn als pragmatischen Realisten, der einerseits zeitlebens von sozialistischen Ideen angezogen war, andererseits entgegen heutiger Legenden den Atombombeneinsatz auf Japan ohne Vorwarnung immer begrüßt hatte. Vor allem aber sah Oppenheimer die einmalige persönliche Chance, die ihm die Armee mit dem Leitungsposten von Los Alamos anbot – und ergriff sie.
Auch diese Serie verschweigt allerdings einige der für seine Verteidiger unappetitlicheren Aspekte von Oppenheimers Leben – vor allem die Tatsache, dass dieses Opfer der antikommunistischen "Hexenjagd" während seiner öffentlichen Anhörungen im McCarthy-Ausschuß bereitwillig Namen von "Mitläufern" nannte. Dennoch gelingt den Machern die Darstellung einer faszinierend widersprüchlichen Hauptfigur – fern von Genie-Klischees ist dieser Oppenheimer eine zutiefst menschliche Filmversion.