Jacqueline Bisset und das Ende einer Männerfreundschaft

Le mépris

Die Nacht der Verachtung, Teil 4

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Teil 1: Jean-Luc Godard, Brigitte Bardot und eine Lampe im Lichte der #MeToo-Debatte
Teil 2: Einsam vor Gott: Godard, die Nouvelle Vague und die Verantwortung der Kunst
Teil 3: In Neptuns Reich: Godard, Odysseus und die Götter der Filmwelt

Filmhistoriker und Kritiker, die gern in Kategorien denken, haben Jean-Luc Godard und François Truffaut längst ihre Schubladen zugewiesen. Der eine ist der ewige Erneuerer und Rebell. Der andere ist der Angepasste, der nach wilden Anfangsjahren das System stabilisierte, indem er harmlose Komödien, Melos und Antoine-Doinel-Fortsetzungen drehte, statt das konsumwillige Publikum mit Tiefgang und Nachdenklichkeit zu belästigen. Bei La nuit américaine, Truffauts Film über das Filmemachen, merkt man schnell, dass es so einfach gar nicht ist. Man muss nur genau hinschauen. Und hinhören. Machen wir das also mal.

Schlacht um die Cinémathèque

Am besten, man fängt mit 1968 an. Der Mai '68, als die Studenten die Sorbonne besetzten, kam für den französischen Film drei Monate früher. Am 9. Februar 1968 wurde Henri Langlois als Direktor der Cinémathèque française abberufen, auf Betreiben von Kulturminister André Malraux. Langlois, der unermüdliche Sammler und Bewahrer, war einer der Väter der Nouvelle Vague. Seine Programmzusammenstellung war unorthodox, Zugeständnisse an eventuell vorhandene, vom kommerziellen Kino geprägte Zuschauererwartungen wurden nicht gemacht.

Natürlich hätte man aus der Cinémathèque einen Ort für nette und unterhaltsame Veranstaltungen machen können, sagt Langlois in einem Interview, aber das wäre dann eben kein Filmmuseum gewesen, keine "Schule des Sehens", in der man sich der "Schärfung des Blicks" widmete. Die Kulturbürokratie war mehr an einem genauen Inventar interessiert, an einem Organigramm und einer bis auf den letzten Centime belegten Kostenabrechnung. Langlois geriet unter Druck, nachdem ein Finanzinspektor die Cinémathèque unter die Lupe genommen und einen Bericht angefertigt hatte, der nachvollziehbare Beanstandungen mit einem völligen Unverständnis dafür kombinierte, wie der Laden funktionierte.

Malraux versuchte schließlich, Langlois loszuwerden. Die vom Staat unterstützte, aber unabhängige und nach Vereinsrecht organisierte Cinémathèque sollte unter die Kontrolle des CNC gebracht werden, des vom Kulturministerium abhängigen Centre national de la cinématographie (siehe Teil 2). Für Truffaut war das Gedankenkontrolle und ein weiterer Beweis dafür, dass der Élysée-Palast eine Antwort auf de Gaulles berühmten Stoßseufzer gefunden hatte, wie man ein Land regieren solle, in dem es mehr als 400 eingetragene Käsesorten gab? Durch eine Reduzierung der Sorten.

Die Regierung war dabei, durch mehr Konzentration in der Filmwirtschaft die Einflussmöglichkeiten der Politik zu erweitern. Für Truffaut & Co. war auch die Abberufung von Langlois ein Schritt in Richtung Zentralisierung der Künste, der man sich widersetzen musste. Also zog man in die "Schlacht um die Cinémathèque". Die Kampagne ging los mit einer Flut von Artikeln in Zeitungen und Zeitschriften, garniert mit Solidaritätsadressen international renommierter Filmkünstler, von Fritz Lang bis Orson Welles.

Truffaut und Godard drehten einen kurzen Film für die Programmkinos, in dem sie gemeinsam vor die Kamera traten und das Publikum aufforderten, sich dem Protest anzuschließen und sich in Unterschriftenlisten einzutragen, zur Verteidigung von Langlois’ Cinémathèque und der Vielfalt der Filmlandschaft in Frankreich. Am 14. Februar folgten rund 3000 Regisseure, Schauspieler, andere Filmschaffende und Cineasten einem von Truffaut verfassten Aufruf der "Kinder der Cinémathèque" und versammelten sich auf der Esplanade vor dem Trocadéro, um zum neuen Vorführsaal der Cinémathèque beim Palais de Chaillot zu ziehen.

Ein Großaufgebot der Polizei sollte das verhindern und errichtete Straßensperren. Das französische Fernsehen war angewiesen, nicht zu berichten und blieb weg. Gekommen waren ausländische Kamerateams, die im Bild festhielten, wie eine dem Verteidigungsministerium unterstellte Spezialeinheit mit Knüppeln auf Demonstranten einschlug. Antoine de Baecque und Serge Toubiana schreiben in ihrer Truffaut-Biographie, das sei das erste Mal in der Geschichte Frankreichs gewesen, dass die Staatsmacht gegen protestierende Regisseure und Schauspieler vorging. Die Bilder von der Polizeibrutalität brachten die öffentliche Meinung auf die Seite der Freunde von Henri Langlois.

Malraux musste zurückrudern und erklärte das Ganze zu einem bedauerlichen Missverständnis. Am 22. April wurde Langlois wieder als Direktor der Cinémathèque eingesetzt. Die Filmkünstler hatten gewonnen. Der Ausgang der "Affäre Langlois" zeigte den Franzosen, dass man gegen die autokratisch agierende Regierung de Gaulle erfolgreich Widerstand leisten konnte. Es sind deshalb nicht nur die Filmhistoriker, die argumentieren, dass damals ein Funke entzündet wurde und der Kampf um die Cinémathèque mit den Ereignissen in Paris im Mai 1968 seine logische Fortsetzung fand.

Anfang des Monats errichteten Studenten der Sorbonne Barrikaden in der rue Gay-Lussac. Am 13. Mai, dem ersten Tag des von den Gewerkschaften ausgerufenen Generalstreiks, demonstrierten die Filmemacher um Godard und Truffaut an der Seite von Arbeitern und Studenten. Am 18. Mai erreichte die Revolution das Filmfestival von Cannes. Truffaut und Godard verlangten, sich mit den Arbeitern und Studenten zu solidarisieren und das Festival abzubrechen. Nach Wortgefechten, Tumulten und zurückgezogenen Filmen wurde die Veranstaltung beendet, weil ein ordentlicher Wettbewerb nicht mehr möglich war.

Der Blick des Insektenforschers

Der große Sieger der Parlamentswahlen am 23. und 30. Juni 1968 war Charles de Gaulle. Die Revolution war abgeblasen. Doch der (schon im Februar beginnende) "Mai des Films" hatte - zumindest vorübergehend - zwei Freunde wieder zusammengeführt, die sich in den Jahren davor voneinander entfernt hatten. Truffaut war dabei stets der enthusiastischere von den beiden gewesen. Er bewunderte fast alles, was Godard auf die Leinwand brachte. Das änderte sich mit La chinoise (1967), Godards Form und Inhalt kunstvoll verbindendem Abgesang auf das herkömmliche Erzählkino, mit experimenteller Farbgestaltung und Reflektionen über die chinesische Kulturrevolution. Von da an konnte (und wollte) Truffaut ihm nicht mehr folgen.

Der Blick des Insektenforschers (12 Bilder)

Une femme est une femme

Godards Haltung Truffaut gegenüber ist an Une femme est une femme (1961) abzulesen. Es war ein Stilprinzip der Nouvelle Vague, in den eigenen Filmen die Werke anderer Regisseure anzuzitieren, die man mochte. So steckte man ein kulturelles Umfeld ab, zu dem man selbst gehören wollte. In Eine Frau ist eine Frau trifft Jean-Paul Belmondo Jeanne Moreau und fragt, wie es Jules und Jim geht. Anna Karina trifft Marie Dubois, die gerade Schießen Sie auf den Pianisten von David Goodis liest. Mit den Kurzauftritten der Hauptdarstellerinnen von Jules et Jim und Tirez sur le pianiste sagt Godard, dass er diese Filme, den zweiten und den dritten von Truffaut, sehr schätzt.

Ein paar Jahre danach ließ er nur noch den ersten gelten, Les quatre cents coups mit Jean-Pierre Léaud als Antoine Doinel, dem filmischen Alter ego von Truffaut. In Masculin, féminin (1966) und La chinoise war es keine Hommage mehr, sondern eine Distanzierung, wenn Godard die männliche Hauptrolle mit Léaud besetzte. Während Truffaut betonte, wie unpolitisch er sei zeigte Godard mit den von Léaud gespielten Charakteren eine Truffaut-Version, die er sich wünschte: eine Figur mit politischem Bewusstsein. Damit half er Léaud, sich von Antoine Doinel zu emanzipieren, aber eine wirkliche Befreiung war das nicht.

Für den Schauspieler war die Situation nicht einfach. Léaud, das "Kind der Nouvelle Vague", litt zunehmend darunter, dass er sich entscheiden sollte, mit wem er Filme drehte: mit Truffaut oder mit Godard. In Deux de la Vague (Godard trifft Truffaut), Antoine de Baecques und Emmanuel Laurents Dokumentarfilm über eine schwierige Beziehung, wird das Gezerre um Léaud mit dem Streit eines in Scheidung lebenden Paares um das gemeinsame Kind verglichen. Da ist was dran. Nach dem Implodieren ihrer Freundschaft schrieb Truffaut an Godard, dass ihm beim Sehen von Masculin, féminin etwas aufgefallen sei:

Erstmals schien ihm [Léaud] das Agieren vor der Kamera keinen Spaß mehr zu machen, sondern Angst einzujagen. Der Film war gut, und er war gut darin, aber die erste Szene, die im Café, musste jeden bedrücken, der ihn mit den Augen eines Freundes betrachtete und nicht mit dem Blick eines Insektenforschers.

Godard ärgerte sich seinerseits darüber, dass Léaud in Baisers volés wieder den Antoine Doinel spielte, den er doch eigentlich hätte überwinden und hinter sich lassen sollen. Wenn man Die Chinesin und Geraubte Küsse nacheinander sieht kann man ermessen, wie weit sich Truffaut und Godard voneinander entfernt hatten.

In La chinoise bemüht sich Léaud, durch die Lektüre von Marx und Mao zu einer reinen Form des Sozialismus vorzudringen; kombiniert mit Godards Vision von einer Filmkunst, die uns andere, überraschende Perspektiven zugänglich macht, damit wir uns der eigenen Sichtweise gewahr werden. Mit Baiser volés dagegen, einer federleichten, humorvoll-melancholischen Fortschreibung des Antoine-Doinel-Zyklus, erzählt Truffaut eine doch arg konventionelle Geschichte. Man reibt sich die Augen, wenn man weiß, dass der Henri Langlois gewidmete Film während der "Cinémathèque-Affäre" entstand und Truffaut mit seinen Hauptdarstellern demonstrieren ging und den Widerstand organisierte, wenn nicht gedreht wurde.

Der Preis des Filmemachens

Truffaut war ein Mensch voller Widersprüche. In seinem Job als Regisseur inszenierte er diese sehr harmlos wirkende Komödie. Als Aktivist ging er auf die Straße, um für die Freiheit des Films von staatlicher Gängelung zu kämpfen, wofür ihn die gaullistische Presse als "Saboteur" und "Champagnerrevoluzzer" schmähte. Dieselben Zeitungen fanden viel Lob, als Baiser volés zum Überraschungserfolg des Herbstes 1968 wurde. Nach den Événements im Mai traf der Film auf ein Publikum, das sich von den Zumutungen des engagierten Kinos erholen wollte.

Die Kritiker nahmen Geraubte Küsse entweder als ein ebenso liebenswertes wie zeitloses Vergnügen wahr oder als ein im Grunde reaktionäres, rückwärtsgewandtes Stück Kinokonfektion, das nicht den Kopf des Zuschauers ansprach, sondern dessen Empfindsamkeit. Truffaut war dabei, sich zum Repräsentanten eines Kinos zu entwickeln, wie es (angeblich) einmal gewesen war, in der guten alten Zeit. Damit erfüllte er ein Bedürfnis, das deshalb nicht unbedingt das seine war, oder zumindest nicht ausschließlich.

Der Preis des Filmemachens (6 Bilder)

La nuit américaine

Baisers volés bescherte Truffaut mehrere Auszeichnungen und seinen größten kommerziellen Erfolg seit Les quatre cents coups. Das Geld hatte seine Produktionsfirma, die Films du Carrosse, dringend nötig (der Name ist eine Hommage an Jean Renoir, den Regisseur von Le carrosse d’or). Diese Firma hatte Truffaut schon bei den Vorbereitungen zu den Dreharbeiten zum Kurzfilm Les mistons (Die Unverschämten, 1957) gegründet, auf Anraten seines Schwiegervaters, des Filmverleihers Ignace Morgenstern, und mit tätiger Unterstützung von Marcel Berbert, einem Kompagnon Morgensterns, der dann ein Vierteljahrhundert lang bei der Carrosse als Produzent arbeitete.

In der Firmengründung kam ein Geschäftssinn zum Ausdruck, der manchen suspekt war. Dazu sollte man das Vorwort lesen, das Truffaut 20 Jahre später für eine Neuauflage von André Bazins Buch über Orson Welles schrieb. "Für mich liegt die wahre Tragik von Orson Welles darin", heißt es da, "dass er seit 30 Jahren seine Abende mit allmächtigen Produzenten verbringt, die ihm zwar ihre Zigarren anbieten, ihm aber keine 100 Meter Filmmaterial zum Belichten anvertrauen." In eine solche Lage wollte Truffaut nie kommen. Daher sein Pragmatismus im Umgang mit Geld und Erfolg, den ihm einige verübelten.

Charakteristisch für Truffaut ist eine aus der Wirklichkeit übernommene Szene in La nuit américaine. Die Warner Bros. steuerte 800.000 Dollar zur Finanzierung bei. Als Berbert das Budget erstellte waren das vier Millionen Francs. Dann fiel der Dollarkurs um zehn Prozent. Statt geplanter acht Wochen mit je fünf Arbeitstagen musste die Drehzeit auf sieben Wochen reduziert werden, um den Kursverlust auszugleichen. Truffaut machte daraus eine Szene. Der Produzent Bertrand kommt auf den von Truffaut gespielten Regisseur Ferrand zu und sagt ihm, dass die amerikanischen Geldgeber auf einer Drehzeit von sieben Wochen bestehen. Ob das zu schaffen sei? Schwierig, meint Ferrand. Er müsse erst den Drehplan studieren.

Bertrand wirkt zufrieden. 35 Drehtage, denkt Ferrand frustriert. Für einen Film wie diesen sei das viel zu wenig. Dann geht er an die Arbeit, um es in sieben Wochen hinzukriegen. Ein Aufbegehren gegen die Macht des Kapitals sieht anders aus. In einem Interview sagt Truffaut zu der Szene, dass er von der üblichen Rollenverteilung - der Regisseur als der Künstler und der Produzent als das Schwein - nichts halte: "Ich finde, beide sind aufeinander angewiesen, denn man fertigt gemeinsam ein Produkt an, das seinen Preis kostet, und daher sollte man tunlichst versuchen, auch einen Gewinn zu erzielen oder zumindest die Unkosten zu decken, damit man später einen neuen Film machen kann."

Der Truffaut'sche Pragmatismus: Ein Film musste so viel Geld einspielen, dass es danach weitergehen und er den nächsten Film drehen konnte, denn das Filmemachen war sein Leben. So gesehen ließen die Geraubten Küsse nichts zu wünschen übrig. Sie beseitigten die finanzielle Schieflage, in welche die Carrosse Ende der 1960er geraten war. Allerdings drehte Truffaut in den folgenden Jahren die beiden größten Misserfolge seiner Karriere. La sirène du Mississippi (1969) und Les deux anglaises et le continent (1971) fielen an der Kinokasse durch und wurden als leblose, unpersönliche Produkte zum Auffüllen der Filmographie verrissen. Sie hätten eine Neubewertung verdient.

Geschichten erzählen oder die Welt auseinandernehmen?

Godard kämpfte sich unterdessen durch seine Agitprop-Phase, in der er alles über den Haufen warf, was er bisher gemacht hatte und versuchte, ein neues, militantes Kino zu schaffen. Der Film sei keine Waffe, sagte er damals, wohl aber das Licht, das einem dabei helfe, die Waffe schussfertig zu machen. Legendär ist sein Auftritt beim London Film Festival von 1968. Der Produzent hatte sich vor der Premiere von One Plus One für einen neuen Titel entschieden und aus Kommerzgründen eine an sich kleine, aber die künstlerische Intention unterlaufende Änderung vorgenommen. Godard stürmte die Bühne und schlug ihm die Faust ins Gesicht.

Man braucht eine lebhafte Phantasie, um sich einen größeren Gegensatz als diesen zu dem Regisseur vorstellen zu können, den Truffaut in La nuit américaine spielt, seinem Film über das Filmemachen. Für Godard muss Ferrand eine Provokation gewesen sein und ein weiterer Beleg dafür, dass der Freund die gemeinsamen Ideale verraten hatte. 1959, als Truffaut in Cannes mit Les quatre cents coups triumphierte, stand in den Cahiers du cinéma zu lesen, dieser Film sei "die Bombe, die im Feindeslager hochging und es von innen her zerstörte". Damit war eine Erwartung formuliert und vielleicht ein großes Missverständnis.

Der Autor dieser Zeilen, Jean-Luc Godard, erwies sich in der Folge als der Revolutionär, der davon überzeugt war, dass man erst wieder lernen musste, die Liebe und überhaupt alles zu buchstabieren, wie Dominik Graf in einem schönen Text zu seinem siebzigsten Geburtstag schreibt: "Wir müssen mit Godard die Welt auseinandernehmen, um sie dann neu sehen, neu hören zu lernen. Auch auf die Gefahr hin, dass das Alphabet und die Worte dabei erstmal völlig durcheinandergeraten wie Buchstabensuppe."

Truffaut dagegen wollte das Alphabet weder zerlegen noch es neu erfinden. Im Prinzip akzeptierte er die Regeln des klassischen Erzählkinos, die Godard für wertlos hielt. Bei seinem vierten Spielfilm, La peau douce (Die süße Haut, 1964), brachte ihm das zum ersten Mal den Vorwurf ein, die Nouvelle Vague verraten zu haben. Von da an saß er immer wieder mal vor einer Kamera, um sich zu rechtfertigen und zu erklären, dass er das Kino nicht revolutionieren, sondern besser machen wolle, glaubwürdiger und authentischer. Godard konnte damit wenig anfangen.

Er interessierte sich nicht für linear erzählte Geschichten mit Anfang, Mitte und Schluss, verstand sich zunehmend als Medienkünstler und ist bis heute bestrebt, die von der Unterhaltungsindustrie gezogenen Grenzen des Films zu sprengen und Möglichkeiten aufzuzeigen, die das Kino seiner Überzeugung nach nicht genutzt hat. Das ist derselbe Godard, der Truffaut einmal vorwarf, er habe einen einzigen echten Film gedreht, Les quatre cents coups, und dann nur noch Geschichten erzählt. Ein Film, sagt Godard, muss mehr sein als das.

Orientierungsstörung bei der Métro

La nuit américaine kann man als Reaktion auf diesen Vorwurf verstehen, und auch als Reaktion auf Le mépris. Sollte es anders gewesen sein tat Truffaut zumindest nichts, um diesen Eindruck zu vermeiden. Er scheint da weiterzumachen, wo Godard fast zehn Jahre vorher aufgehört hatte. Le mépris endet damit, dass Fritz Lang eine Szene des Odysseus-Films dreht. "Silence!" ruft Godard als Regieassistent. Wir sehen das blaue Meer und dann einen Schlusstitel in blauer Schrift. Blau war die Erkennungsfarbe der Nouvelle Vague. Blau sind auch die Anfangstitel von Die amerikanische Nacht. "Beaucoup de silence!" sind die ersten Worte, die wir hören.

Es spricht Georges Delerue, der die Musik für Le mépris geschrieben hat und nun mit dem Orchester die Musik für La nuit américaine probt. Truffaut zeigt nicht den Komponisten und die Musiker, sondern - in Form zweier vertikaler, sich seitlich ausbuchtender Linien - den sichtbar gemachten Soundtrack. Das ist das Pendant zum Beginn von Le mépris, wo uns Godard Raoul Coutard bei einer Kamerafahrt zeigt und die (nicht sichtbaren) Vorspanntitel spricht. Die Kamerafahrt wird gleich nachgeliefert. In der ersten Sequenz des Films führt sie uns über einen belebten Platz. Ein junger Mann kommt aus der U-Bahn: Jean-Pierre Léaud.

Orientierungsstörung bei der Métro (Le mépris) (15 Bilder)

Le mépris

Die Kamera folgt dem jungen Mann, scheint sich dann aber mehr für ein über den Platz fahrendes Cabrio zu interessieren. Es ist rot wie der Alfa Romeo, in dem Camille und Prokosch beim Zusammenstoß mit einem LKW sterben, in Le mépris. Ich glaube nicht, dass das ein Zufall ist in diesem Film, in dem der Requisiteur das letzte Wort haben wird und eine der Hauptfiguren bei der Kollision mit einem LKW stirbt. Wir sind also wieder auf vertrautem Nouvelle-Vague-Gebiet, mit Zitaten und Querverweisen und versteckten Botschaften für Cineasten.

"Plakatieren verboten" steht auf der Hauswand neben dem Friseurladen, wie das "Betreten verboten" (ein Citizen-Kane-Zitat) am Ende von Le mépris, auf der Treppe zwischen dem blauen Meer und der rot angestrichenen Villa Malaparte. Wer hier ein Plakat ankleben will - sagen wir: das schon etwas lädierte Vivre-sa-vie-Plakat mit Anna Karina aus Die Verachtung - muss damit rechnen, dass er von den beiden Gendarmen, die den Platz kontrollieren, festgenommen wird. Das ist die Selbstironie eines Regisseurs, dem seine Gegner vorwarfen, ein Sklave des von Hollywood diktierten Regelbuches geworden zu sein.

Die Kamera konzentriert sich nun auf einen Mann Mitte 50 (Jean-Pierre Aumont), der die Treppe vor dem "Plakatieren verboten" heruntergekommen ist und nähert sich ihm, bis plötzlich wieder Léaud im Bild erscheint. Die beiden stehen sich gegenüber, fixieren sich wie zwei Cowboys beim Duell, dann gibt der Jüngere dem Älteren eine Ohrfeige. "Schnitt!" ruft Truffaut (in seiner Rolle als Regisseur Ferrand), der das Ganze wiederholen will. Wir haben nicht etwa die Wirklichkeit gesehen, sondern eine Filmszene mit einer Kranfahrt, die die Illusion erzeugen soll, dass wir als unsichtbare Beobachter am echten Leben teilhaben dürfen.

Orientierungsstörung bei der Métro (La nuit américaine) (32 Bilder)

La nuit américaine

Klassisches Erzählkino eben, nur mit dem nicht unerheblichen Unterschied, dass die Illusion erst geschaffen und dann zerstört wird, um uns darauf aufmerksam zu machen, wie artifiziell das alles ist. Darum sehen wir jetzt auch den Scheinwerfer, den Kamerakran und den Regieassistenten, der mit einem Megaphon die Komparsen zu sich ruft, um Manöverkritik zu üben. Die Ohrfeige, die Léaud Aumont verabreicht hat, war schmerzhaft. Überzeugend war sie nicht. Im Film ist nur realistisch, was realistisch aussieht. Also probt Ferrand mit seinen Hauptdarstellern noch einmal, wie man "realistisch" ohrfeigt (im Sinne einer uns antrainierten Sehgewohnheit). Dann geht es wieder von vorne los.

Beim zweiten Versuch wird es nicht bleiben. Der Bus fährt zu spät ab, oder es kommen mal zu viele und mal zu wenige Statisten aus der U-Bahn, und als alles zu klappen scheint gehen zwei Komparsinnen im falschen Moment los, lenken von der Ohrfeige ab und von den Stars, die im Mittelpunkt stehen sollten. Aus Sicht der Hollywood-Polizei sind solche Fehler in der Choreographie sehr ärgerlich. Stars sind dafür da, dass sie das Bild dominieren und uns Orientierung bieten in einer Welt, die verwirrend ist, wenn die unseren Blick lenkenden Hierarchien nicht mehr da sind.

Ohne den Star in Großaufnahme ist das eine nicht bedeutsamer als das andere, müssen wir auf alles achten, weil wir nicht wissen, wer oder was noch wichtig werden könnte: die Frau mit dem Kinderwagen, die Schrift an der Wand, der auf Kunden wartende Friseur oder doch das rote Auto, das aus dem Bild gefahren ist? Wir sind also auf zwei Ebenen unterwegs. Auf der einen klappt die von Ferrand einstudierte Choreographie nicht. Auf der anderen erfahren wir eine Orientierungslosigkeit, die das Resultat der Inszenierung von Truffaut ist, der die Fehler im Ablauf genau so haben wollte. Das ist doch schon mal recht komplex.

Hinter den Kulissen bemüht sich unterdessen ein Fernsehreporter um die Interviews für einen Drehbericht. Dabei kann er sich auf die Hilfe von Bertrand verlassen. Als Produzent weiß Bertrand genau, dass solche Berichte eine gute Reklame sind. Nur selber vor die TV-Kamera treten will er nicht - ein erfreulicher Zug, wenn man an die schwer erträglichen Making ofs unserer Tage denkt, in denen die Produzenten die Gelegenheit erhalten, sich in schamlosen Lobhudeleien auf alles und jeden zu ergehen, was irgendwie mit dem Film zu tun hat.

Bertrand übt sich in angenehmer (und durchaus falscher) Bescheidenheit. Als Produzent, sagt er, müsse man im Schatten bleiben. Interessant ist die Inszenierung. Der Darsteller, Jean Champion, ist gut ausgeleuchtet, wenn er vom Schatten spricht, und er erhält eine Großaufnahme, die er nicht haben möchte. Bertrand ist dauernd in Bewegung, als wolle er aus der Einstellung fliehen. Die Kamera hat Mühe, ihn dort festzuhalten. Durch die Großaufnahme, nicht durch den Dialog zeigt sich die Bedeutung der Figur. Truffaut ist ein sehr subtiler Regisseur, der nicht zur großen Geste neigt.

Regisseur und Verführer

Alle, die Truffaut gut kannten, sind sich darin einig, dass er ein Mensch war, in dem heftige Leidenschaften tobten. Das Filmemachen half ihm über die schwarzen Gedanken hinweg, die ihn zu anderen Zeiten nur mit Tabletten schlafen ließen und er konnte dabei Gefühle ausleben, für die er sonst kein Ventil hatte. Bei ihm zeigte sich dieses Ausleben nicht in Sadismus und diktatorischem Regisseursgehabe, sondern im Erzählen bestimmter Geschichten und im Anbändeln mit der Hauptdarstellerin. Heute würde man ihn womöglich in einen Topf mit Harvey Weinstein werfen, weil in der #MeToo-Debatte selten Zeit für Differenzierungen bleibt.

Truffaut hasste körperliche Gewalt. Niemand scheint ihm je vorgeworfen zu haben, dass es etwas anderes gab als Sex in gegenseitigem Einvernehmen. Unproblematisch war sein Verhalten aber trotzdem nicht. Baecque und Toubiana zitieren aus einem Brief Truffauts an die Schauspielerin Liliane Dreyfus, mit der er früher einmal (heimlich) liiert gewesen war. "Wenn ich arbeite werde ich zum Verführer", heißt es in dem Brief, den er während der Dreharbeiten zu Les deux anglaises schrieb, "und ich spüre es, und gleichzeitig versetzt mich diese Arbeit, die schönste der Welt, in einen Gefühlszustand, der den Beginn einer love story fördert."

Regisseur und Verführer (12 Bilder)

Les deux anglaises

Denn: "Mir vis-à-vis habe ich üblicherweise ein Mädchen oder eine Frau mit wachen Gefühlen, die mir furchtsam und folgsam vertraut und zur Hingabe bereit ist. Was dann geschieht, ist immer dasselbe. Manchmal verläuft die love story synchron mit den Dreharbeiten und hört auch mit ihnen wieder auf; in anderen Fällen geht sie auf Wunsch eines oder beider Beteiligten weiter." Mit wachen Gefühlen. Furchtsam und folgsam vertrauend. Zur Hingabe bereit. Diese "Love Story" des Regisseurs mit einer Schauspielerin lässt sich auch als Abhängigkeitsverhältnis interpretieren, das der Verführer für seine Zwecke ausnützt.

In La nuit américaine gibt es eine der seltenen Szenen in Truffauts Werk, in denen - eher indirekt - Dinge verhandelt werden, die von seiner Art des Filmemachens schwer zu trennen sind und über die er nicht sprechen wollte, oder nur in seiner privaten Korrespondenz. Alexandre und Dr. Nelson, der Mann des von Jacqueline Bisset gespielten Hollywoodstars Julie Baker, fahren zusammen zum Flughafen. Julies letzter Film musste abgebrochen werden, weil sie einen Nervenzusammenbruch hatte. Es sei erstaunlich, meint Alexandre, wie verletzlich Schauspieler sind.

Dr. Nelson, von Beruf Psychiater, hält das für ganz normal. Jeder Mensch habe Angst davor, beurteilt zu werden. Bei Schauspielern sei es aber ein Teil des Lebens, dass sie beurteilt werden, bei der Arbeit und privat. Richtig, erwidert Alexandre. Darum sei es für Schauspieler auch so wichtig, dass sie sich geliebt fühlen. Man müsse sich dauernd um den Hals fallen, sich küssen und Sachen sagen wie "Mon chérie, my darling, my love, du bist wunderbar." "Wir brauchen das", sagt Alexandre als ein Mann, der auf ein langes Berufsleben zurückblicken kann und weiß, wovon er spricht.

Die Szene ist recht zwiespältig. Zum einen wird ein Metier beschrieben, das nicht ist wie jedes andere, weil die Leute, die da arbeiten, im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen, permanent bewertet werden und deshalb besonders liebesbedürftig sind, menschliche Wärme und Nähe brauchen, weil die Situation so besser auszuhalten ist. Zugleich ist für den Dialog ein Mann verantwortlich, der bei der Filmarbeit zum Verführer wurde und das intime Verhältnis zur jeweiligen Hauptdarstellerin suchte. Die Grenzen zwischen Berufsbeschreibung und Rechtfertigung sind da fließend.

Als Dr. Nelson sitzt David Markham neben Alexandre, der Vater von Kika Markham. Kika hatte zwei Jahre davor eine der Titelheldinnen in Les deux anglaises gespielt, und in der Berufliches mit Privatem verbindenden "Love Story" des Regisseurs die Rolle der Geliebten übernommen. Das ist, als würde Jean-Pierre Aumont - anstelle von Truffaut - dem Vater vor laufender Kamera erklären, warum dessen Affäre mit seiner Tochter die Dreharbeiten nicht lange überdauerte, als Teil eines sehr speziellen Berufsbildes.

Film als Tagebuch

Zu den Ansichten der beteiligten Frauen konnte ich leider nichts finden, das über das rein Anekdotische hinausgehen würde. Aus einigen der Drehzeit-Beziehungen wurden später enge Freundschaften, mit Jeanne Moreau beispielsweise, mit Alexandra Stewart (Tracey in La nuit américaine) oder mit Françoise Dorléac, der Hauptdarstellerin von Die süße Haut. Als Françoise im Juni 1967 bei einem Unfall starb war das für Truffaut ein Schock, an dem er fast zerbrochen wäre. Er geriet er in eine veritable Seelenkrise, verschlimmert durch Catherine Deneuve.

Deneuve war Truffauts neue Liebe und nicht bereit, die bei La sirène du Mississippi (Die falsche Braut) begonnene "Love Story" in eine feste Bindung zu verwandeln wie von ihm erhofft. Auf Anraten von Jeanne Moreau bekämpfte er seine Depressionen mit einer Schlafkur wie der Held von La sirène. Jean-Paul Belmondo findet durch die Kur zurück ins Leben, nachdem ihm Catherine Deneuve als falsche Braut das Herz gebrochen hat und mit seinem Geld verschwunden ist. Als Truffaut wieder aufwachte stabilisierte er sich durch die Arbeit an einem neuen Filmprojekt: Les deux anglaises et le continent, nach der Vorlage von Henri-Pierre Roché.

Film als Tagebuch (9 Bilder)

La sirène du Mississippi

Typisch, sagten seine Kritiker. Weil ihm nichts mehr einfällt verfilmt er den Roman eines Autors, mit dem er schon einmal sehr erfolgreich war (Jules et Jim). Ganz so einfach war das aber nicht. Dr. Nelson würde bestimmt auf die Idee kommen, dass Truffauts neues Projekt etwas mit dem Tod von Françoise Dorléac zu tun hatte. Sie und Catherine Deneuve waren Schwestern. In Les deux anglaises reist ein junger Franzose (Jean-Pierre Léaud, wer sonst?) nach Großbritannien. Dort verliebt er sich in zwei Schwestern, nacheinander oder vielleicht zur selben Zeit.

Die erste stirbt. Die zweite verbringt eine Liebesnacht mit dem Helden, weist seinen Antrag aber zurück und heiratet einen anderen. Truffaut sagte von Godard, dass er mit seinen Filmen Tagebuch über sein Leben führe. Er sprach da auch von sich selbst. Man merkt es nur nicht gleich. Über seine Beziehung mit Anna Karina drehte Godard sechs Filme mit Karina in der Hauptrolle und dann noch einen, Le mépris, in dem Michel Piccoli Godard und Brigitte Bardot Anna Karina spielt. Truffaut war für so etwas ein zu privater Mensch. Er verstreute lieber Hinweise, kleine autobiographische Details, die man leicht übersehen (oder überhören) kann, die aber überall zu finden sind, wenn man erst das Prinzip verstanden hat.

La sirène und Les deux anglaises sind zwei seiner persönlichsten Werke und zeugen auf eine zugleich zurückgenommene und sehr eindringliche Weise von der inneren Aufgewühltheit ihres Schöpfers. Sie wurden nur nicht so wahrgenommen. Beide Filme erzählen die Geschichte einer ziemlich wilden, mitunter alle Bremsen lösenden Amour fou. Wenn ich eine Spekulation wagen sollte würde ich sagen, dass sie seine größten Misserfolge wurden, weil der Plot von heftigen und unkonventionellen Leidenschaften der Hauptfiguren vorangetrieben wird, die nicht zu seinem Image passten. Vielleicht verrieten sie mehr über ihn, als die Leute wissen wollten.

Je vous présente Paméla

Als Truffaut in den Victorine-Studios in Nizza am Schnitt von Les deux anglaises arbeitete standen da noch die Kulissen von The Madwoman of Chaillot, einer Hollywood-Produktion von 1968 (mit Katherine Hepburn als der gar nicht so verrückten alten Dame). Mit diesen Kulissen als Ausgangspunkt entwarf er die Handlung für einen Film über das Entstehen eines Films, vom ersten bis zum letzten Drehtag und mit allerlei Irrungen und Wirrungen rund um die Produktion. "Ich werde nicht die ganze Wahrheit über die Dreharbeiten erzählen", kündigte er an, "aber wahre Begebenheiten, die mir oder anderen beim Drehen zugestoßen sind."

Das Drehbuch schrieb er zusammen mit Suzanne Schiffman und Jean-Louis Richard, mit dem er bereits bei Die süße Haut, Fahrenheit 451 und Die Braut trug schwarz zusammengearbeitet hatte. Suzanne Schiffman hatte in den späten 1950ern als Scriptgirl bei Truffaut, Godard und Rivette angefangen und war dann zu Truffauts engster Mitarbeiterin geworden, seiner "Assistentin für alles". Bei La nuit américaine wird sie erstmals als Co-Autorin genannt. Die Rolle der Joëlle, mit der für Nathalie Baye eine große Filmkarriere begann, ist nach ihrem Vorbild gestaltet.

Je vous présente Paméla (13 Bilder)

La nuit américaine

Der Titel, Die amerikanische Nacht, bezieht sich auf ein Verfahren, bei dem man mit Hilfe eines Filters und einer unterbelichteten Kamera am Tag Nachtszenen dreht. Er verweist also darauf, dass im Film nichts ist wie es scheint, dass die Realität manipuliert und mit Tricks gearbeitet wird, um uns vorzugaukeln, dass wir einen Ausschnitt der Wirklichkeit sehen. Zu intellektuell, hieß es bei der United Artists, wo Truffaut zuerst mit dem Projekt vorstellig wurde. Das Konzept vom Film im Film sei für ein größeres Publikum viel zu verwirrend. Anders gesagt: Die Leute waren zu dumm für so etwas. Die Publikumsverachtung der Studiobosse ist so alt wie das Kino selbst.

Die Warner Bros. sprang schließlich ein, weil deren Büros in Paris und London von Truffaut-Fans geleitet wurden. Dabei dürfte geholfen haben, dass Truffaut sehr auf Einfachheit bedacht war. Da er nur ein paar Szenen aus dem Film im Film zeigen konnte sollte es eine Geschichte sein, der das verwirrungsgeneigte Publikum auch in Fragmenten jederzeit folgen konnte: Ein junger Mann (Léaud) heiratet die Engländerin Pamela (Bisset). Er kommt mit ihr nach Frankreich, um sie seinen Eltern (Valentina Cortese und Jean-Pierre Aumont) vorzustellen. Pamela und der Vater des jungen Mannes verlieben sich ineinander und brennen durch. Das Melodram endet tragisch.

Damit man sich nicht zu viele Namen merken muss heißen der junge Mann und seine Eltern wie die Darsteller: Alphonse, Séverine und Alexandre. Der Titel des Films ist "Meine Ehefrau Pamela", jedenfalls in der deutschen Fassung. Das Original ist treffender: "Je vous présente Paméla". In der im Deutschen üblichen Höflichkeitsform wäre das mit "Darf ich Ihnen [oder euch] Pamela vorstellen" zu übersetzen. In der Tat wird dauernd jemand vorgestellt. Der erste ist Alexandre. Er wird vom Produzenten dem Reporter zugeführt, damit der mit den Interviews für die Fernsehsendung beginnen kann.

Alexandre erzählt die "Pamela"-Geschichte aus der Perspektive der Figur, die er darin spielt. Dann kommt Alphonse und tut dasselbe; er erzählt die Geschichte aus Sicht des Sohnes. Julie Baker, der Hollywood-Star, wird noch erwartet. Bei ihrem Eintreffen am Flughafen von Nizza schleppt man sie gleich zu einer Pressekonferenz, wo sie die Geschichte aus der Perspektive von Pamela erzählt. Die Schauspieler werden uns als Egozentriker präsentiert, die sich bei einem Film in erster Linie für die eigene Rolle interessieren, dafür, wie viele Szenen und Großaufnahmen sie haben.

Außerdem wird uns die Handlung des Films im Film in drei verschiedenen Varianten erzählt. Es sind drei und nicht zwei oder viereinhalb, weil sich Truffaut über die Hollywood-Regel von der dreifachen Informationsvergabe lustig macht. Wichtiges wird dreimal mitgeteilt, weil man sich den Zuschauer, dieser ehernen Regel nach, als einen eher dummen Menschen vorzustellen hat, dem man alles dreimal sagen muss, bis er es verstanden hat. Damit es nicht so auffällt sollte man die Information leicht variieren. Der Zuschauer könnte sich sonst darüber ärgern, dass man ihn für einen Einfaltspinsel hält.

Film als Reise

Zurück zum Anfang. Einen der Versuche, die mit der Ohrfeige endende Kranfahrt richtig hinzukriegen, beobachtet die Kamera von oben, aus der Vogelperspektive. Wir sehen den Platz mit den Chaillot-Kulissen, Komparsen, Techniker, die Kamera auf dem Kran, den Eingang zur Métro, aus dem gleich wieder Alphonse kommen wird, am Rand den Produzenten, der den Drehplan bespricht. Joëlle schlägt die Klappe und läuft schnell aus der Einstellung, dann geht das Gewusel wieder los.

Der Bus fährt um den Platz (ob dieses Mal das Timing stimmt?), die Komparsen setzen sich in Bewegung, die Kamera hinter der Kamera zeigt uns durch einen Schwenk, dass die Häuser um den Platz nur Fassadenwände sind und Georges Delerues Trompeten stimmen einen barocken Jubelchoral an, weil Truffaut da die reine Lebensfreude inszeniert und zugleich eine Welt, die dem Regisseur Ferrand noch Albträume bereiten wird - drei Albträume werden es natürlich sein, weil es hier um die Welt als Film geht, und um das Filmemachen als die beste aller Lebensformen.

Film als Reise (13 Bilder)

La nuit américaine

Es kann schon sein, dass ich nur Geschichten erzähle, will Truffaut damit sagen, und künstlich ist es selbstverständlich auch. Aber seht her, wie kompliziert das ist und wie großartig, wenn es endlich losgeht und wenn die vielen kleinen Rädchen ineinander greifen, ohne die man solche Geschichten nicht erzählen kann. Und der Mann, der in diesem Durcheinander den Überblick bewahren, der aus vielen unterschiedlichen Perspektiven eine künstlerische Einheit formen muss, das ist der Regisseur. Je vous présente François Truffaut.

Mit den Allmachtsphantasien eines Diktators auf dem Regiestuhl hat das nichts zu tun. Darum sehen wir Ferrand kurz danach als einen Gehetzten über den Platz der Irren von Chaillot eilen. Truffaut verwendete gern Reisemetaphern, um das Filmemachen zu beschreiben. Bei Ferrand ist das nicht anders. Das Drehen eines Films, sagt er im Off-Kommentar, sei wie eine Fahrt mit der Postkutsche durch den Wilden Westen. Anfangs hoffe man auf eine schöne Reise und dann frage man sich sehr bald, ob man je das Ziel erreichen werde. Prompt wird Ferrand von allen möglichen Leuten bestürmt wie die Postkutsche bei John Ford von den Apachen.

Bevor er sich auf den Weg macht sehen wir den Regieassistenten Jean-François und die Maskenbildnerin Odile (Nike Arrighi, das Beinahe-Opfer der Satanisten in Terence Fishers The Devil Rides Out), die ein Zofenkostüm anprobieren soll. Truffaut fasst in einem Bild zusammen, was den Film und den Film im Film charakterisiert. Es gibt Mitwirkende, die in einem Moment vor der Kamera agieren und im nächsten Moment dahinter. Odile schminkt zuerst Séverine (Valentina Cortese als Pamelas Schwiegermutter) und tritt dann in einer Film-im-Film-Szene als ihre Zofe auf.

Jean-François Stévenin, später als Schauspieler und Regisseur erfolgreich, arbeitete als Assistent Truffauts, wenn er nicht gerade als Regieassistent von Ferrand vor der Kamera stand. In diesem Spiegelkabinett kann man noch mehr Figuren identifizieren. Truffaut als Ferrand, Pierre Zucca als den Standphotographen im Film und im echten Leben. Yann Dedet, in der Rolle als Cutter mit dabei, begann schon während der Dreharbeiten mit dem Schnitt, weil das auch in der Wirklichkeit sein Beruf war. Unterstützt wurde er von Martine Barraqué, die in La nuit américaine die Cutterassistentin spielt.

Zwischen Lebensfreude und Suizid

Auf der Klappe von Je vous présente Paméla ist als Name des Kameramanns "W. William" angegeben. Dahinter verbergen sich die zwei Schmerzensmänner des Films: Pierre-William Glenn und sein Assistent, der in La nuit américaine zum Chef beförderte Walter Bal. Nach ein paar Wochen Drehzeit hatte Glenn einen Unfall mit dem Motorrad. Walter Bal saß auf dem Sozius und brach sich den Arm. Wenn man das weiß und genau hinschaut fällt einem auf, dass in manchen Einstellungen etwas verborgen wird: der Arm, den Bal in einer Schlinge tragen musste. Gefilmt wurde das von Glenn, der beim Unfall über den Asphalt gerutscht war und sich Prellungen und Hautabschürfungen zugezogen hatte, die höllisch wehtaten.

Da Truffaut literarische Anspielungen genauso mochte wie Godard kann man bei "W. William" an "William Wilson" denken, die Doppelgängergeschichte von Edgar Allen Poe, wobei die Doppelfunktionen auch eine wirtschaftliche Ursache haben. Das Geld ist knapp. Das merkt man, wenn der Aufnahmeleiter dem Regisseur zwei Cabrios zeigt, die für Pamelas Autounfall in Frage kämen: ein rotes und ein weißes. Ferrand hätte gern das weiße, aber blau umgespritzt. Das würde 2000 Francs kosten, meint der Aufnahmeleiter. Zu teuer für einen Film, in dem die Maskenbildnerin die Zofe spielen muss, um eine Gage einzusparen.

Zwischen Lebensfreude und Suizid (21 Bilder)

La nuit américaine

Pamela alias Jacqueline Bisset (die 200.000 Francs und eine Gewinnbeteiligung akzeptierte, weil ihre übliche Hollywoodgage das Budget gesprengt hätte) wird schließlich im Auto des Regieassistenten Jean-François sterben. Das ist schon blau. Nebenbei: Wer wie ich glaubt, dass das rote Cabrio das Pendant zum roten Alfa in Le mépris ist darf sich bestätigt fühlen. Zuerst umrundet es den Platz bei der Métro, bei einer Wiederholung der Kranfahrt weist Jean-François ausdrücklich auf das rote Auto hin (durch das Megaphon), und der Aufnahmeleiter scheint es Ferrand vor allem aus dem Grund zu zeigen, damit dieser daran vorbeigehen und man es zum dritten Mal ins Bild rücken kann.

Ein Regisseur, kommentiert Ferrand im Off, sei jemand, dem man unaufhörlich Fragen stellt, Fragen über alles Mögliche. Manchmal wisse er die Antwort, manchmal nicht. Das Hörgerät in seinem Ohr lässt sich so interpretieren, dass man es abstellen kann und er dann seine Ruhe hat. Eine biographische Deutung gibt es auch. Alphonse berichtet, dass Ferrand auf einem Ohr schlecht hört, seit es bei einem Manöver in seiner Militärzeit einem lauten Knall ausgesetzt war - ganz wie bei Truffaut. Zwischen Film und Realität ist nicht immer klar zu trennen.

Nach dem Aufnahmeleiter kommt der Ausstatter auf Ferrand zu. Er hat Fragen zum Bungalow, in dem Pamela und Alexandre eine Liebesnacht verbringen. Ferrand will gleich mal hingehen, weil er denkt, dass der Bungalow schon gebaut ist; dabei gibt es erst die Entwürfe. Auch der Regisseur weiß nicht alles. Nach Bertrand kommt schon Odile mit einer Perücke und will wissen, ob sie zu hell ist. Das fällt in den Zuständigkeitsbereich des Kameramanns. Also schickt Ferrand die Maskenbildnerin zu Joëlle, die mit ihr zu Walter gehen soll. Truffaut zeigt das Filmemachen als eine kollektive Anstrengung, nicht als die Einzelleistung eines Genies.

Der Gang über das Gelände beginnt - Achtung: Ironie! - mit dem Aufnahmeleiter Lajoie (die Freude) und endet mit dem Requisiteur Bernard (Bernard Menez), der Ferrand bittet, aus fünf Pistolen eine auszuwählen. Das Filmemachen kann die pure Lebensfreude sein oder den Regisseur an den Rand des Wahnsinns treiben, wo er sich am liebsten erschießen würde. Zum Glück ist die Pistole für eine Szene mit Alphonse gedacht. Weil Jean-Pierre Léaud relativ kleine Hände hat wählt Ferrand die mittlere. Auf der Leinwand soll sie weder grotesk groß aussehen noch klein wie ein Spielzeug.

Mann mit Hut

Ferrands Gang über das Ateliergelände ist ein Bravourstück. Vom Moment, in dem Ferrand zwischen den Kulissen auftaucht bis zur Auswahl der Pistole vergehen fast drei Minuten. Ich habe vier Schnitte gezählt. Damals gab es noch keine Steadycams. Pierre-William Glenn ist bis heute stolz darauf, wie es ihm gelang, Ferrand mit der sehr sperrigen Kamera zu folgen. Noch schwieriger wurde das dadurch, dass simultan die Dialoge aufgenommen werden mussten, weil Truffaut mit Direktton arbeitete. Er und Glenn nützten dabei technische Entwicklungen, die erst Anfang der 1970er verfügbar wurden.

Der Original- oder Direktton und die Nouvelle Vague, das ist ein heikles Thema. Die Lieblingskamera der Neuen Welle, die Caméflex der Firma Èclair, war nicht schalldicht isoliert, also laut. Darum musste öfter nachsynchronisiert werden, was nicht alle zugeben wollten, weil der Direktton zu einem der Markenzeichen der Nouvelle Vague stilisiert worden war. Der erste Film der Neuen Welle, der komplett mit Originalton gedreht (und prompt als "unrealistisch" kritisiert) wurde, dürfte Godards Une femme est une femme von 1961 gewesen sein.

Mann mit Hut (22 Bilder)

Une femme est une femme

Die Silver-Cine-Szene in Le mépris ist also keine Heuchelei. Erst nachdem er selbst gelernt hatte, mit Direktton zu arbeiten, machte sich Godard über den Hang der Italiener zur Nachsynchronisation lustig. Truffaut knüpft daran an. Séverine kann sich an nichts erinnern, weder an ihre Vergangenheit (eine stürmisch endende Liaison mit Alexandre) noch an ihren Text. Außerdem kippt sie gerne einen. Das macht es nicht leichter. Truffaut kann so wieder zeigen, mit welchen Problemen man sich als Regisseur herumzuschlagen hat. Vorher aber muss Ferrand noch mit einem kleinen Herrn mit Hut sprechen.

Der Herr stellt ihm zwei Schwestern aus Deutschland vor, Greta und Diana. Die eine hat einen politischen Film gedreht, die andere einen erotischen. "Warum machen Sie keinen erotischen Film?", will der Herr wissen. Oder einen über Umweltverschmutzung? Er habe ihm da ein Drehbuch mitgebracht, sagt der Herr. Ferrand verfolgt das bis in seine Träume, in denen er den Mann mit Hut immer noch fragen hört: "Warum machen Sie keine politischen Filme? Warum machen Sie keine erotischen Filme?" Hier beginnt man zu verstehen, warum Godard so allergisch auf Die amerikanische Nacht reagierte.

Der von Godard geforderte politische Film wird uns als Modeerscheinung vorgestellt und als die Schwester des Schulmädchen-Reports, verkörpert durch zwei Walküren aus Deutschland. Auch der nette Herr Truffaut wusste, wie man Wirkungstreffer landet. Godard, nehme ich an, konnte gar nicht anders, als das auf sich zu beziehen. Der Mann mit Hut ist Ernest Menzer. In deutschen Softpornos wurde er gern als der komische Alte besetzt. Doch die Rolle bei Truffaut verdankte er seinen Auftritten bei Godard. In Une femme est une femme strippt Anna Karina in seiner Bar.

Menzer ist der Onkel des in Anna Karina verliebten Claude Brasseur in Bande à part und, als "Edgar Typhus", ein Informant von Anna Karina in Made in U.S.A. In Weekend, Godards Version der Apokalypse, bekocht er - inzwischen ohne Anna Karina - die Guerrilla-Kannibalen; und in Vladimir et Rosa kritzelt er als Richter "Julius Himmler" auf Playmate-Photos herum, statt sich auf den Prozess gegen die Chicago Eight zu konzentrieren. Vielleicht kam Truffaut auf die Idee, Menzer als den Mann mit Hut zu besetzen, weil er in Made in U.S.A. der Onkel von "David Goodis" ist. Die Nouvelle Vague hatte ein Faible für kodierte Botschaften dieser Art.

La nuit américaine ist die Antwort auf Le mépris und ebenso auf Tout va bien, den Godard 1972 zusammen mit seinem Maoismus-Guru Jean-Pierre Gorin gedreht hatte. Eine amerikanische Reporterin (Jane Fonda) und ihr Gatte (Yves Montand), der sexistische Werbespots inszeniert, weil man von etwas leben muss, besuchen eine Wurstfabrik und werden von den Arbeitern als Geiseln genommen, als ein wilder Streik ausbricht. In einem in die Kamera gesprochenen Monolog berichtet Montand von seiner Karriere. Zuerst habe er Drehbücher für die Nouvelle Vague geschrieben, sagt er, dann sei er Regisseur geworden.

Auf Kunstfilme habe er keine Lust mehr, seit man ihm angeboten habe, einen Roman von David Goodis zu verfilmen. Das zielt auf Tirez sur le pianiste ab und revidiert die Truffaut-Hommage in Eine Frau ist eine Frau. In Made in U.S.A. hatte Anna Karina den Onkel von "David Goodis" mit einem (natürlich blauen) Schuh erschlagen und aus dem Off erklärt, dass damit ein politischer Film beginne (Léaud mischt als "Donald Siegel" mit). Ein Jahr nach Tout va bien schoss Truffaut zurück, indem er den Onkel als einen Produzenten wiederbelebte, der Geld mit politischen Filmen macht, weil das gerade in Mode ist.

Verteidigung der Meinungsfreiheit

Wenn man mehrere Truffaut-Filme gesehen hat merkt man irgendwann, dass es an der gefälligen Oberfläche kleine Irritationen gibt, Abweichungen vom Erwarteten, die davon zeugen, dass der Schöpfer von Filmen wie Geraubte Küsse oder La nuit américaine und der Aktivist, der an der Seite von Godard für Henri Langlois kämpfte und den Abbruch des Festivals von Cannes erzwang, doch ein und dieselbe Person sind, obwohl es auf den ersten Blick so scheinen mag, als habe der eine mit dem anderen nichts zu tun. Eine gewisse Aufmerksamkeit kann nicht schaden, weil Truffaut so diskret ist.

Kaum von seinem Assistenten unter einem Vorwand von dem Mann mit Hut und den Walküren losgeeist, soll Ferrand schon den nächsten Besucher begrüßen, den Bertrand angeschleppt hat. Jean-François klärt ihn auf, dass das der Polizist ist, dem sie die Drehgenehmigungen in Nizza und Umgebung verdanken. Bertrand habe ihn eingeladen, bei den Dreharbeiten zuzuschauen. "Beim Drehen zusehen", sagt Ferrand. "Ich schaue ihm doch auch nicht dabei zu, wenn er arbeitet und Leute verhört." Dabei deutet er das Zuschlagen mit einem Knüppel an. Das ist jetzt doch irgendwie politisch.

Verteidigung der Meinungsfreiheit (7 Bilder)

La nuit américaine

Gemeint sind die Bemühungen von General de Gaulle und seinem Nachfolger Georges Pompidou, schon im Entstehungsprozess Einfluss auf Filme zu nehmen, also quasi die Dreharbeiten zu überwachen, um ein Zensurieren des fertigen Produkts überflüssig zu machen. Truffaut ging das gegen den Strich. Trotz seiner Bekenntnisse zum unpolitischen Künstlertum war er immer zur Stelle, wenn es galt, die Meinungsfreiheit zu verteidigen. Seine Aktivitäten außerhalb der Kinos und Ateliers liefern den Schlüssel, der einem einen anderen Zugang zu seinen Filmen öffnet.

Im Mai 1969 knöpfte sich die konservative Regierung Éric Losfeld vor, den Chef eines der wunderbarsten französischen Verlage, Le Terrain Vague. Losfeld verlegte so ziemlich alles, was erst noch in den kulturellen Kanon integriert werden musste und für ein erschrockenes Bürgertum den Untergang des Abendlandes ankündigte, von einem der ersten Bücher über Fritz Lang über eine Studie zum Marquis de Sade bis zu erotischen Comics für Erwachsene wie Pravda, Barbarella und Saga de Xam. Für den Justizminister war das Schweinkram, den man verbieten musste. Das scheiterte am lautstarken Protest von Truffaut und anderen bekannten Persönlichkeiten.

Erfolgreicher war das Innenministerium mit dem Verbot von La cause du peuple, dem wichtigsten Sprachrohr einer aus dem Mai 1968 hervorgegangenen linken Bewegung. Das Blatt erschien danach im Untergrund. Aus Protest übernahm Jean-Paul Sartre die Herausgeberschaft und zog an einem Samstagabend (am 20. Juni 1970, dem Jahrestag des Attentats auf Adolf Hitler) mit Simone de Beauvoir, Truffaut und weiteren Mitstreitern los, um das Blatt auf den Pariser Boulevards zu verkaufen. Festgenommen wurde niemand, aber es gab ein gerichtliches Nachspiel.

Truffaut sagte aus, es sei ihm darum gegangen, seine Anschauung als Regisseur mit seiner Anschauung als französischer Bürger in Einklang zu bringen. Der Inhalt der Zeitung interessierte ihn dabei weniger als die Meinungsfreiheit. Die Strategie des Innenministers Raymond Marcellin, linke Organisationen auszuschalten, indem er ihre Presseorgane vor Gericht zerrte und in ruinöse Prozesse verstrickte, war ihm zuwider. Zugleich graute es ihm "vor Leuten, die ihrem politischen Engagement eigenhändig ein Denkmal setzten", wie sich seine Freundin Marie-France Pisier erinnert (und die Freundin von Antoine Doinel in Antoine et Colette).

Vielleicht hielt er sich deshalb in seinen Filmen so zurück. Der Polizist aus Nizza heißt übrigens Giacometti. Ob das ein Verwandter des mit Sartre befreundeten Bildhauers Alberto Giacometti ist, der kurz vor dem Einmarsch der Nazis in Paris seine Skulpturen in seinem Atelier vergrub, ehe er sich an den Genfer See absetzte, wo der Vater von Godard eine Privatklinik betrieb? Bei der anspielungsverrückten Neuen Welle muss man mit allem rechnen. Ein Zufall ist der Name vermutlich nicht.

Altstar sucht Dialog

Jetzt sind wir auf eine beinahe Godard'sche, das chronologische Erzählen sabotierende Weise vom Thema abgekommen. Wir waren bei Séverine und ihrer großen Szene mit Alexandre. Eine große Szene ist es nicht wirklich, so wie "Je vous présente Paméla" kein guter Film zu werden scheint, und mit den großen Gefühlen, die das Melodram verlangt, ist das auch so eine Sache, wenn man dauernd vergisst, was man sagen soll. In ihrer Not schlägt Séverine vor, es zu machen wie bei Federico: Emotionen zeigen und dazu Zahlen aufsagen, damit man den Dialog nachsynchronisieren kann (gemeint ist Federico Fellini, in dessen Julia und die Geister Valentina Corsese mitgespielt hatte).

In Frankreich sei das unmöglich, muss Ferrand sie enttäuschen und zeigt ihr das Mikrophon. Hier wird mit O-Ton gearbeitet. Also werden im Dekors Zettel mit Séverines Dialogsätzen aufgehängt, damit sie davon ablesen kann, während sie mit melodramatischen Gesten durch die Kulissen schreitet, immer auf der Suche nach ihrem Text. Das klappt einigermaßen, bis sie am Ende der Szene das Zimmer verlassen muss, was schon deshalb verwirrend ist, weil hinter der Tür Odile als Zofe steht. Séverine ist an eine klare Arbeitsteilung gewöhnt. "Zu meiner Zeit", sagt sie, "waren Schauspielerinnen noch Schauspielerinnen und Maskenbildnerinnen waren noch Maskenbildnerinnen."

Altstar sucht Dialog (24 Bilder)

La nuit américaine

Außerdem sieht die Zimmertür der zum Wandschrank täuschend ähnlich. Séverine erwischt dauernd die falsche und blickt auf Gläser und Geschirr statt auf die Zofe. Während die Darstellerin gegen ihre wachsende Verzweiflung kämpft zeigt uns Truffaut die Mitwirkenden, die man auf der Leinwand nicht sehen wird und ohne die kein Film entstehen kann: den Regisseur und seinen Stab, von der Kamera über Beleuchtung und Ton bis zum Requisiteur Bernard, der mit einer Gasflasche das Kaminfeuer reguliert und die Zigaretten für Alexandre zurechtschneidet, weil Joëlle schon ahnt, dass es viele Wiederholungen geben wird.

Als Scriptgirl muss Joëlle darauf achten, dass die Anschlüsse stimmen. Wenn die Einstellungen mit dem rauchenden Alexandre im Schneideraum montiert werden sollte die Zigarette im Verlauf der Szene kürzer werden und nicht länger. Truffaut wollte möglichst unterhaltsam vom Handwerk des Filmemachens erzählen, über "eine Gruppe von Leuten, die an derselben Sache arbeiten und eine Zeitlang zusammenleben", was ihm hier gut gelingt. Es ehrt ihn, dass er sich nicht damit zufrieden gibt, ein paar billige Lacher abzuholen, auf Kosten der überforderten Séverine.

Liliane (Dani, bis dahin nur als Sängerin bekannt), die Freundin von Alphonse, deutet an, dass Séverine zu tief ins Glas geschaut hat. Joëlle, der gute Geist am Set, klärt sie darüber auf, dass Séverine unter einem enormen Stress steht. Ihr Sohn ist an Leukämie erkrankt und sie fürchtet sich vor einem Anruf mit der Todesnachricht. Das ist vielleicht ein bisschen melodramatisch und einer jener Dramaturgentricks, über die Godard nur die Nase rümpfte. Wirkungsvoll ist es aber auch. Wer eben noch über die besoffene Alte gelacht hat, die eine Zimmertür nicht von einem Schrank unterscheiden kann, erhält Gelegenheit, das zu überdenken.

Die Liebe und ihre Spielarten

Auf der Suche nach Gründen für ihr Versagen wird Séverine auch beim Regisseur fündig, der ihr immer erst kurzfristig den Text für die nächsten Einstellungen gibt. Das war die bevorzugte Arbeitsweise von Truffaut. Er drehte gern chronologisch, weil er dann am Abend die Dialoge für den nächsten Tag schreiben konnte, statt sich an ein fertiges Buch halten zu müssen. In La nuit américaine wird das mehrfach thematisiert. Am Ende eines Drehtags geht Ferrand mit Joëlle die nächste Szene durch: Pamela und Alexandre begegnen sich nachts in der Küche.

Die nächtliche Küchenszene sehen wir von ihrer Entstehung in Ferrands Hotelzimmer bis zur Aufnahme. Joëlle schiebt die soeben abgetippten Dialoge unter der Tür von Julie durch, damit diese sie vor dem Schlafengehen lernen kann. Am Morgen darauf wird die Szene eingerichtet. Wir sehen das Team bei der Arbeit. Ferrand probt mit den Darstellern, gibt letzte Regieanweisungen. Bis Joëlle die Klappe schlägt und alles still sein muss (wegen des Direkttons) erklingt wieder die barocke Jubelmusik von Georges Delerue.

Die Liebe und ihre Spielarten (24 Bilder)

La nuit américaine

Truffaut fordert nicht die kritische Distanz wie Godard. Er feiert den Zauber des Filmemachens als unwiderstehliche Erfahrung, das Kino als die bessere Form des Lebens. Tadellos, sagt Ferrand nach dem ersten Take. Gleich noch einmal. Und Truffaut verknüpft die Liebe vor der Kamera mit der dahinter. Während Pamela und Alexandre in der Küchenkulisse beschließen, sich "wie Diebe in der Nacht" davonzustehlen, weil die Gesellschaft ihre Liebe niemals akzeptieren würde, nimmt Christian in Alexandres Stuhl Platz.

Christian wird mit einem Running Gag eingeführt. Alexandre fährt täglich zum Flughafen, um eine Person abzuholen, die nie kommt. Alle tippen auf eine junge Geliebte. Als die "Geliebte" doch noch eintrifft erscheint ein junger Mann, Christian. Die anderen reagieren darauf mit einer Selbstverständlichkeit, die nicht jedem gegeben war. In Frankreich wurde heftig über ein (1974 verabschiedetes) Reformprogramm der Regierung gestritten, das eine Liberalisierung der Abtreibung und des Scheidungsrechts vorsah sowie die Absenkung der Sexualmündigkeit für Schwule von 21 auf 18 Jahre.

Verglichen mit Heteros (15 Jahre) war das noch immer diskriminierend, doch das Alter der Sexualpartner spielte in der Debatte ohnehin eine untergeordnete Rolle, weil es um homophobe Ressentiments ganz generell ging. Die Verteidiger von Sitte und Anstand verwechselten dabei Schwule mit Pädophilen und warfen sie mit Ehebrechern und gottlosen, ihre in Sünde gezeugten Kinder abtreibenden Nymphomaninnen in einen Topf, um daraus das Zerbild von Frankreich als einem neuzeitlichen Sodom und Gomorra zu destillieren, das nun unmittelbar bevorstehe.

Xavier Saint-Macary (Christian) war damals 25 und halb so alt wie sein Filmpartner Aumont. In der homosexuellen Beziehung eines älteren Mannes zu einem jüngeren spiegelt sich die heterosexuelle Beziehung eines älteren Mannes (Dr. Nelson) zu einer jüngeren Frau (Julie Baker). Das eine ist gesellschaftlich akzeptiert, das andere nicht, obwohl - wenn man schon von Sitte und Anstand spricht - Nelson für Julie Frau und Kind verlassen hat, während sich mit Alexandre und Christian zwei unverheiratete Männer lieben. Was ist schlimmer? Truffaut entlarvt die bürgerliche Moral in ihren Widersprüchen.

Dann packt er noch Tracey mit dazu, die Darstellerin von Alexandres Sekretärin, die in der Pool-Szene keinen Badeanzug tragen will, weil sie verschwiegen hat, dass sie schwanger ist. Tracey ist unverheiratet, der Kindsvater unbekannt. Was macht man damit? Das geht uns gar nichts an, sagt der Film. Nach der für alle überraschenden Entdeckung gibt es eine Diskussion zwischen Regisseur und Produzent, dies aber nur, weil Tracey laut Drehplan jetzt eine längere Pause hat und einen nicht mehr zu verbergenden Fünfmonatsbauch haben wird, wenn sie wieder vor der Kamera steht. Dafür muss Ferrand eine Lösung finden. Moralische Bewertungen werden nicht abgegeben.

Traum vom Kino

Verheiratete Heteros, Schwule ohne Trauschein, Paare mit großem Altersunterschied, unverheiratete Mütter: sie alle werden mit demselben Respekt behandelt. Truffaut war der tolerante Spross einer intoleranten Familie. Angesichts der #MeToo-Debatte und seiner "Love Stories" dürfte man sich allerdings mehr dafür interessieren, dass Ferrand zur Drehbuchbesprechung in sein Hotelzimmer bittet, mit Bett und Bademantel wie bei Harvey Weinstein (und mit Pauline Kaels Citizen Kane Book im Bücherstapel).

Joëlle hat trotzdem nichts zu befürchten, obwohl der Sex in diesem Film als etwas präsentiert wird, das genauso zum Leben gehört wie das Essen und das Trinken und - Ehrensache für die Nouvelle Vague - der Kinobesuch. Joëlle und Bernard nutzen eine Autopanne für ein Quickie im Gebüsch, dann findet Joëlle den Requisiteur mit Odile im Bett, und Alphonse hat seine Freundin Liliane als Scriptgirl-Volontärin untergebracht, damit er sie dauernd begrapschen kann, im Hotelzimmer wie im Vorführraum.

Traum vom Kino (18 Bilder)

La nuit américaine

Während die anderen unbeschwerten Sex haben übt sich Ferrand in Keuschheit. Truffaut hält es sogar für nötig, uns das extra mitzuteilen. Bei der Drehbuchbesprechung mit Joëlle erhält Ferrand einen Anruf. Unten an der Rezeption steht Dominique, ein Callgirl. Ferrand lässt ihr ausrichten, dass er zu arbeiten habe und schickt sie weg. "Merci, bonsoir", sagt Dominique zum Portier und geht. Mit diesem geschäftsmäßigen, beinahe wortlosen Kurzauftritt der jungen Dame handelte sich Truffaut den Vorwurf einer dreisten Lüge ein.

Leute, die ihn als den Charmeur mit den unzähligen Liebschaften kannten, legten ihm zur Last, dass er sich in der Gestalt von Ferrand als einen Regisseur porträtiert habe, der für die Dauer der Dreharbeiten ein zölibatäres Leben führt, wohingegen der echte Truffaut stets bemüht war, die eine oder andere attraktive Frau ins Bett zu kriegen. Wie zur Bestätigung der Schönfärberei schickt Ferrand erst Dominique weg um sodann, nachdem er die Küchenszene mit der verbotenen Liebe gedreht hat, fast demonstrativ allein im Bett zu liegen. Das ist eine von drei Traumsequenzen.

Jede beginnt damit, dass der schlafende Ferrand in immer derselben Stellung im Bett liegt, geplagt von den Sorgen und Nöten eines Regisseurs. Dann ein Stück in Schwarzweiß. Ein kleiner Junge geht in der Nacht durch eine menschenleere Straße, einen Stock in der Hand. Am Schluss der ersten Traumsequenz dreht sich der Junge nervös um wie um sich zu vergewissern, dass er nicht beobachtet wird. Bei Sigmund Freud (siehe "Das Unheimliche") würde am Ende der Straße eine Prostituierte stehen. Bei Truffaut, in der zweiten Traumsequenz, kommt der Junge zu einem Gitter. In der dritten Sequenz sehen wir, dass es der vergitterte Eingang eines Kinos ist.

Auf dem Spielplan steht Citizen Kane von Orson Welles. Der Junge beugt das Knie wie vor einem Altar. Das Gitter trennt ihn von der Sehnsuchtswelt des Kinos. Mithilfe des mitgebrachten Stocks (engl. cane) lässt es sich zumindest soweit überwinden, dass der Junge die Aushangphotos stehlen kann. Nach jeder der drei Traumsequenzen sehen wir eine Einstellung mit dem Eingang der Victorine-Studios in Nizza. Das ist eine der Geschichten, die La nuit américaine erzählt: die Geschichte von dem Jungen, der - wie Truffaut in seiner Kindheit - aus den Pariser Kinos Memorabilien stahl und der sich als Erwachsener seinen Traum vom Filmemachen erfüllt hat.

Mag die Nacht auch noch so unruhig sein: Jeden Morgen öffnet sich für den Regisseur Ferrand die Schranke vor den Ateliers; und immer ist die Angst dabei, dass sie sich schließen könnte, wenn er vor ihr steht. Trotz offensichtlicher Gemeinsamkeiten wäre es jedoch zu einfach, Truffaut mit Ferrand gleichzusetzen. Man kommt ihm näher, wenn man Ferrand zusammen mit Alphonse sieht, seinem prätentiösen Jungstar. Mehr als in den Doinel-Filmen, wo er immer auch als Truffauts Alter ego gefragt war, oder bei Godard, der ihn als politisierten Alternativ-Truffaut über den Maoismus-Leninismus diskutieren ließ, spielt sich Jean-Pierre Léaud in La nuit américaine selbst.

Wie ein Zug in der Nacht

Alphonse ist so, wie viele den Léaud der frühen 1970er beschrieben haben: ein hypersensibler Egomane, der seine Zerbrechlichkeit hinter arrogantem Gehabe verbirgt, Beziehungen nicht lange aufrecht erhalten kann, zwischen Depression und Euphorie pendelt und bereit ist, aus einer Laune heraus den Film platzen zu lassen, an dem so viele Leute arbeiten. Wenn Ferrand mit Alphonse spricht ist das auch Truffaut, der mit Léaud spricht wie in der Szene, in der Ferrand Alphonse gut zureden muss, weil Liliane mit dem Stuntman durchgebrannt ist. Im Privatleben verlaufe nun mal nicht alles glatt und harmonisch, sagt Ferrand. Das gebe es nur im Film:

Keine Staus und kein Leerlauf. Filme rollen dahin wie ein Zug, verstehst du, wie ein Zug in der Nacht. Und Leute wie du und ich, das weißt du selbst, sind nur bei der Arbeit glücklich, bei der Arbeit für das Kino.

Das Bild vom Film als einem Zug, der durch die Landschaft rollt, verwendete Truffaut zum ersten Mal in einem Interview zu La peau douce (bis dahin war es das Schiff, das man in den Hafen bringen muss). Dieser Film, mit dem er in den Augen seiner Kritiker vom Mitbegründer einer Bewegung zum Verräter an der gemeinsamen Sache wurde, ist ständig präsent in La nuit américaine.

Wie ein Zug in der Nacht (17 Bilder)

La nuit américaine

Für Godard war das Kino eine Illusions- und Besänftigungsmaschine, die es zu zertrümmern galt. Truffaut setzt dem die Utopie vom Kino als einem Wunderkasten entgegen, durch den man sich vitalisieren kann, indem man das Leben inszeniert, wie es sein sollte, nicht wie es ist: intensiv und mitreißend, ohne die Pausen, die für ihn regelmäßig zum schwarzen Loch wurden, in das er zwischen zwei Filmen fiel. Das Vitalisierende hat auch eine erotische Komponente. Zwischen Alphonse und Ferrand gibt es eine Art Arbeitsteilung. "Haben Frauen etwas Magisches?", fragt Alphonse alle möglichen Leute. Bei Ferrand müsste die Frage lauten: Hat das Kino etwas Magisches?

Antwort von La nuit américaine: Die Frauen und das Kino haben etwas Magisches. Da Ferrand die Rolle des zölibatär lebenden Filmliebhabers übernommen hat ist es Alphonse, der mit der Hauptdarstellerin schlafen darf und nicht der Regisseur. Das geht so: Der von Liliane verlassene Alphonse will abreisen, obwohl die Dreharbeiten noch nicht beendet sind. Julie versucht, ihn davon abzuhalten und verbringt schließlich die Nacht mit ihm. So werden Männerphantasien wahr. Die Freundin lässt einen sitzen; gleich steht Jacqueline Bisset vor der Tür und tröstet einen über den Verlust hinweg.

So platt, wie es klingt, ist es aber gar nicht. Vielmehr gibt es neue Verwicklungen, die in eine Selbstkritik Truffauts münden. Für Julie war die Liebesnacht ein einmaliges Ereignis ohne Fortsetzung. Alphonse will mehr. Er ruft bei Dr. Nelson an, um ihn aufzufordern, Julie freizugeben. Alphonses Indiskretion stürzt Julie in eine Krise. Gerettet wird die Situation durch den eilends eingeflogenen Dr. Nelson, der sich als verständnisvoller Gatte erweist und Beruhigungspillen mitbringt. Ob das die gleichen Tabletten sind, die Truffaut nach der Schlafkur schlucken musste?

Vor Nelsons Eintreffen ist Ferrand als Seelentröster für Julie gefragt. Er erweist sich als sehr einfühlsam. Aber dann, nach der Krise, bringt Odile dem Star ein Blatt mit neuen Dialogen für ihre nächste Szene mit Alphonse. Es sind genau die Sätze, die Julie kurz davor zu Ferrand gesagt hat. Sie fühlt sich benutzt. Es gibt andere Formen des Missbrauchs als den sexuellen. Wenn einer aus Privatem und aus persönlicher Intimität das Material für einen Film macht löst das bei den Betroffenen nicht nur Freude aus. Truffaut tat es trotzdem, und Godard sowieso. Anna Karina war so wenig amüsiert wie Julie Baker, als sie aus dem Mund von Brigitte Bardot (Le mépris) ihre eigenen Sätze hörte.

Godard hatte sie geklaut und aus dem Privatleben der beiden auf die Leinwand transferiert. Anne Wiazemsky, Godards Frau und Muse in seiner Dziga-Vertov-Phase, erging es ähnlich. Plötzlich war das, was sie gerade noch privat beredet hatten, ein Filmelement. Einige von Truffauts Verwandten sprachen kein Wort mehr mit ihm, nachdem er die schwierigen Familienverhältnisse in Les quatre cents coups verarbeitet hatte. Wie sich wohl Julie Christie dabei fühlte, als ihr eigener Nervenzusammenbruch im Vorfeld von Fahrenheit 451 als der von Julie Baker wieder auftauchte, in La nuit américaine?

Rue Jean Vigo

Beim Filmemachen, sagt Truffaut, stiehlt man aus dem Leben anderer Leute und aus dem eigenen, ebenso wie aus fremden Filmen. Eingeleitet wird das Thema im Korridor des Hotel Atlantic (der Name des Hotels in Murnaus Der letzte Mann). Bertrand zeigt Ferrand die Kerze für den Maskenball. Im Gang steht eine Blumenvase, die Ferrand gefällt. Er bittet Bernard, sie mitgehen zu lassen. Später werden wir sie als Ausstattungsstück in einer Szene von "Je vous présente Paméla" wiedersehen und auch im Produktionsbüro. Die Vase liegt auf einem Bord, wenn Georges Delerue anruft, um Ferrand die Musik für die Ballszene (mit der Kerze und dem geklauten Dialog) vorzuspielen. Ferrand packt dabei ein Buchpaket aus.

Dazu hören wir die von Delerue komponierte Liebesmelodie. Das ist also eine Liebeserklärung an die im Buchpaket verschnürten Regisseure (und an die Filmliteratur): Buñuel, Dreyer, Lubitsch, Bergman, Hitchcock, Rossellini, Hawks, Bresson. Godard ist auch dabei. Einer Theorie nach ärgerte er sich ganz fürchterlich darüber, dass ihn Truffaut mit Regisseuren einpacken ließ, die schon tot waren, keine Filme mehr drehten oder dem baldigen Ende ihrer Karriere entgegenblickten, er ihn also durch die Zusammenstellung zum Mann von gestern erklärte.

Rue Jean Vigo (14 Bilder)

La nuit américaine

Man kann, muss das aber nicht so interpretieren. Ganz neu ist Delerues Komposition nicht. Zu hören ist eine der vielen Liebesmelodien aus Les deux anglaises et le continent. Delerue hat sich selbst plagiiert. Wir sind alle keine Originalgenies, sagt uns Truffaut damit, sondern bauen auf dem auf, was unsere Vorgänger geschaffen haben. Wenn aber das Klauen schon zum Gewerbe gehört, dann - sagt der Inhalt des Pakets - sollten wir es wenigstens bei den Besten tun. Einer davon ist Godard. Das ist doch eigentlich sehr schmeichelhaft.

Wer sich in der französischen Filmgeschichte ein wenig auskennt wird längst bemerkt haben, wer fehlt in Ferrands Buchpaket: Jean Vigo, der viel zu früh verstorbene Regisseur von Zéro de conduite und L’Atalante, der Nizza mit seinem Dokumentarfilm À propos de Nice (1929) ein Denkmal setzte, wenn auch eines der subversiven Art. Truffauts eigener Aussage nach vollzog sich seine Entdeckung des Kinos in drei Etappen. Zuerst sah er nur französische Filme der Okkupationszeit; nach der Befreiung die Filme der Amerikaner, allen voran Welles' Citizen Kane; dann entdeckte er Jean Vigo, der für ihn ein ganz anderes, wahrhaftigeres Kino repräsentierte als das der tradition de la qualité, gegen das die Cahiers-Kritiker polemisierten.

Für Truffaut war Vigo der Wegbereiter der Nouvelle Vague. Ein in das Zitat verliebter Mensch wie er konnte unmöglich in Nizza einen Film drehen, ohne auf den Regisseur hinzuweisen, dessen Name für Cineasten untrennbar mit der Stadt verbunden ist. Es war nur nicht nötig, ein Buch über ihn zu besorgen, weil in Nizza eine Straße nach Vigo benannt ist. Durch diese Straße fährt das Filmteam auf dem Weg zum Schauplatz von Pamelas Autounfall. Das ist genau die Art von Anspielung, wie die Nouvelle Vague sie liebte.

Im Tal der Vésubie

Bevor wir mit der Filmcrew die Stadt verlassen sollten wir uns bewusst machen, dass Truffaut mehrfach betont, wie wichtig ihm Details sind. Dafür gibt es Szenen wie die mit Julie, der Ferrand erst den Kopf zurecht rückt und dann zeigt, wie sie die Hände halten soll. Offenbar kommt es auf jeden Zentimeter an. Das dürfte eine Anspielung auf Fritz Lang sein, der manche Hollywoodstars zur Weißglut trieb, weil er ihnen präzise vorschrieb, was sie wie zu tun hatten, bis hin zur Handhaltung. Auch Hitchcock fällt einem ein, neben Lang der zweite Großmeister in der Kunst der vielsagenden Einzelheit, die einem mehr erzählen kann als bei anderen eine Stunde Film.

Es kommt also auf die Details an, wenn die Filmcrew in einem engen Tal die Szene mit dem Autounfall vorbereitet. Das Team versperrt zwei alten Bauern mit einem Eselskarren den Weg. "Lasst die Arbeiter durch", sagt einer aus der Crew und ein anderer: "Wir sind doch alle Bauern." "Ja, wir sind alle Bauern", sagt ein dritter. "Nein nein", widerspricht jemand. "Wir sind alle jüdische Bauern." Truffaut hat dafür eine aufwändige Kamerafahrt reserviert, die erst den Bauern folgt und dann einem Mann, der den Stuhl der längst abgereisten Stacey vor eine Felswand stellt. Spektakulär ist das nicht. Wofür die ganze Mühe?

Die Bauern haben keinerlei narrative Funktion, bringen die Handlung kein Stück voran. Den Sätzen der Crewmitglieder ist kein Sprecher zuzuordnen. Die Dialoge sind nachsynchronisiert - in einem Film, der so stolz auf seinen Direktton ist. Und warum jüdische Bauern (juifs paysans)? Spontan dahingesagt ist da nichts. Aber was ist damit gemeint? Für mich ist das eine dieser Unebenheiten an der mitunter arg glatt polierten Oberfläche von Truffauts Filmen, über die man stolpern soll, um die Aufmerksamkeit zu steigern. Es gibt kein Gesetz, das einen zum passiven Konsumententum verpflichtet. Wer sich auf den Subtext einlässt und ein paar Informationen einholt erfährt mehr über Truffaut, als es zunächst den Anschein hat.

Im Tal der Vésubie (14 Bilder)

La nuit américaine

Der Dreiklang Arbeiter - Bauern - Juden erinnert an den Mai 1968, als sich Studenten mit Arbeitern und Bauern solidarisierten und bei Demos "Wir sind die neuen Juden!" skandierten (oder auch: "Wir sind alle deutsche Juden!"). Die Männer aus der Crew lachen dazu. Soviel Aufwand für einen eher faden Witz? Kaum anzunehmen beim ökonomisch denkenden Truffaut. Was dann? Kann das Straßenschild weiterhelfen, das wir zu sehen kriegen, wenn die Bauern im Bild auftauchen? Wir sind an der Route nationale 565, die an der Vésubie entlangführt, einem Gebirgsfluss, der auch einem in Frankreich recht bekannten Dorf den Namen gab.

Kann es sein, dass uns die Fahrt durch die rue Jean Vigo nicht nur in die Schlucht der Vésubie bringt, sondern auch zurück in die Okkupationszeit, nach Saint-Martin-Vésubie vielleicht, dem hintersten Bergdorf in diesem Tal in den Seealpen, die im November 1942 von italienischen Truppen besetzt wurden? Der Ausrottungswahn der deutschen Verbündeten war der italienischen Heeresleitung in Nizza eher fremd. Mit Duldung der Italiener wurde die Region zum Zufluchtsort für - geschätzt - 50.000 Juden. Rund 1.200 von ihnen wurden in das abgelegene Saint-Martin-Vésubie gebracht.

Nachdem sich die Italiener im September 1943 mit Briten und Amerikanern auf einen Waffenstillstand geeinigt hatten marschierten die Wehrmacht und die SS in den Alpes-Maritimes ein. Etwa tausend Juden flohen aus Saint-Martin-Vésubie nach Italien (der in Nizza geborene Literatur-Nobelpreisträger J.-M. G. Le Clézio entwickelte daraus die Handlung seines Romans Fliehender Stern). Wer blieb und nicht von Dorfbewohnern versteckt wurde wie die Geschwister Dreymann von zwei Gendarmen und deren Ehefrauen wurde nach Auschwitz deportiert und ermordet. In Saint-Martin-Vésubie gibt es bis heute Treffen der Überlebenden und ihrer Nachkommen.

Die Massendeportationen wurden propagandistisch vorbereitet. In französischen Zeitungen und Zeitschriften erscheinende Artikel befeuerten eine Debatte darüber, warum es mehr jüdische Künstler und Intellektuelle als jüdische Bauern gebe. Ob das eine korrekte Zustandsbeschreibung oder eine Propagandalüge war weiß ich nicht. Interessant daran ist, dass die Antisemiten die Diskussion überhaupt nur anzettelten, um die ihnen genehme Antwort geben zu können: Juden sind nicht-sesshafte Kosmopoliten. Außerdem sind sie von Natur aus faul und machen sich nicht gern die Hände schmutzig.

Darum, so das Argument, das als Rechtfertigung für die Deportationen herhalten musste, sind sie Schmarotzer, die lieber im Salon sitzen und sich mit Kunst und Kultur beschäftigen, statt im Schweiße ihres Angesichts die Scholle zu bearbeiten und dafür zu sorgen, dass das Volk genug zu essen hat. Hatte Truffaut also die juifs paysans der Vichy- und NS-Propaganda im Kopf, als er im Tal der Vésubie die Crewmitglieder auftreten und kryptisch-vielsagende Dialoge sprechen ließ als wären sie Figuren in einem Shakespeare-Stück? Oder war das eine Idee seiner Co-Autorin Suzanne Schiffman, deren jüdische Mutter in einem deutschen Lager starb, nachdem sie von französischen Helfern der Gestapo festgenommen worden war?

Da es nur Indizien gibt kann man selbst entscheiden, ob man ihnen folgen will oder nicht. Man hat auch keine Gewähr dafür, dass man aus den Hinweisen die richtigen Schlüsse zieht. Das verleiht Truffauts Filmen etwas Geheimnisvolles, das man ihnen auf den ersten Blick nicht zutrauen würde. Die jüdischen Bauern sind eines dieser Indizien. Wer gern Detektiv spielt und nur die deutsche Synchronfassung kennt ist auf das Schild der Nationalstraße 565 angewiesen. Aus den juifs paysans sind "Salonbauern" geworden, in Anlehnung an den "Salonjuden" der antisemitischen Propaganda. Das kommentiert sich selbst.

Doppelgänger und gefühlter Jude

Kurz vor seinem Tod erzählte Truffaut einem guten Freund, Claude de Givray, in einem langen Gespräch über sein Leben, dass er sich immer als Jude gefühlt habe, oder doch spätestens ab September 1945, als er die Atrocity-Filme der Alliierten über die Konzentrations- und Vernichtungslager sah. Was für ein widersprüchlicher Mensch er war zeigt sich an seiner Arbeit als Kritiker in den 1950ern. Während andere vor Faschismus und Antisemitismus warnten gefiel sich der "gefühlte Jude" Truffaut darin, die Neuauflage der L’Histoire du cinéma des rechtsextremen Intellektuellen Maurice Bardéche und seines als Kollaborateur hingerichteten Schwagers Robert Brasillach zu begrüßen.

"Ideen, deren Verbreitung mit dem Tode bestraft wird, sind zwangsläufig nicht zu verachten", schrieb Truffaut im Februar 1954 in den Cahiers du cinéma. Brasillach war nicht wegen seiner Ideen hingerichtet worden, sondern weil er als Herausgeber des Antisemitenblatts Je suis partout die Decknamen und die Adressen untergetauchter Juden und Résistance-Kämpfer veröffentlicht hatte. Truffauts Lob für Brasillach erfreute bekennende Antisemiten wie Gaston Derycke und Lucien Rebatet, die durch Flucht oder Begnadigung der Exekution entgangen waren und nun Kontakt zu ihm suchten.

Rebatet, früher Filmkritiker bei Je suis partout, hatte in seinem Buch Les tribus du cinéma et du théâtre (1941) die "Säuberung" der französischen Unterhaltungsindustrie von allen Juden verlangt. Derycke war der Autor von Destin du cinéma (1943). Die Bestimmung des Kinos war eine ohne Juden. Man kann auch mit Leuten reden, deren Gesinnung man nicht teilt. Truffauts Reaktion auf die Avancen von Veteranen aus der rechtsextremen Szene scheint komplizierter gewesen zu sein, weder auf ein rein intellektuelles Interesse beschränkt noch ausschließlich der Lust an der Provokation geschuldet.

Der Meinung seiner Biographen nach hatte sich Truffaut einen Doppelgänger erschaffen, der das genaue Gegenteil des "gefühlten Juden" war und so seiner inneren Zerrissenheit Ausdruck verlieh. Demnach müsste es Truffaut selbst und nicht der Doppelgänger gewesen sein, der 1957 die Jüdin Madeleine Morgenstern heiratete. Madeleine und ihre Eltern hatten die Okkupationszeit in einem Kaff in der Nähe von Lyon überlebt, wo sich die Familie mehr schlecht als recht mit Gemüseanbau über Wasser hielt. Nach der Befreiung arbeitete ihr Vater wieder in seinem Beruf als Filmverleiher. Er war einer von den Juden, die Rebatet und Derycke für die "Säuberung" vorgesehen hatten.

1968, drei Jahre nach der Scheidung von Madeleine, kam Truffaut bei der Recherche für Baisers volés (Antoine Doinel versucht sich als Privatdetektiv) mit der Detektei Dubly in Kontakt. Da er nur wusste, dass er von Roland Truffaut nach dessen Heirat mit seiner Mutter Janine an Sohnesstatt angenommen worden war beauftragte er die Detektei, seinen leiblichen Vater ausfindig zu machen. Resultat der Ermittlungen: Truffauts Vater war der in Belfort lebende Zahnarzt Roland Lévy. Ein Jude. Als Medizinstudent in Paris hatte er Janine du Monferrand kennengelernt, geschwängert und vor der Geburt des Kindes verlassen.

Doppelgänger und gefühlter Jude (8 Bilder)

La sirène du Mississippi

Truffaut teilte nur seiner Ex-Frau Madeleine und einigen wenigen Vertrauten mit, was er erfahren hatte. Unklar blieb, warum Roland die schwangere Janine nicht geheiratet hatte. Seine ihm entfremdete Mutter konnte Truffaut bald nicht mehr fragen; sie starb im August 1968. Im September fuhr er nach Belfort und wartete gegenüber der ermittelten Adresse, bis Roger Lévy abends aus dem Haus kam - so wie Jean-Paul Belmondo in La sirène du Mississippi abends vor dem Haus mit der Wohnung von Catherine Deneuve wartet, gedreht ein paar Monate danach.

Während Belmondo aber schließlich die Fassade erklimmt und bei Deneuve einsteigt fuhr Truffaut mit dem Zug zurück nach Paris, ohne mit seinem mutmaßlichen Vater gesprochen zu haben (wie belastbar die Ermittlungsergebnisse der Detektei sind ist ungewiss). Aufschluss über die Umstände seiner Geburt erhoffte er sich von der Familie seiner Mutter. Eine Großtante war die einzige, die auf seine Briefe antwortete. Die alte Dame schrieb, dass sie ihn beruhigen könne: obwohl sie den Namen seines Vaters nicht kenne sei sie ganz sicher, dass er, François, ein "waschechter Franzose" sei. Eine "Dummheit" Janines mit einem Juden hätte sein Großvater nie zugelassen.

Truffaut bestärkte das in der Vermutung, dass die Monferrands, strenggläubige Katholiken, die Beziehung zwischen seiner Mutter und Roland Lévy hintertrieben hatten, weil sie einen Juden in der Familie nicht geduldet hätten. Wie es wohl in seinem Inneren aussah, als er - nun etwas mehr als ein "gefühlter" Jude - im Herbst 1972 mit seinem Funkgerät an der Straße nach Saint-Martin-Vésubie stand, um als Regisseur Ferrand (der verkürzte Mädchenname seiner Mutter, Monferrand) den tödlichen Autounfall von Pamela zu inszenieren, der weiblichen Hauptfigur in einem klischeehaften und eher oberflächlichen Melodram?

Kartoffelsalat und Antisemitismus

Natürlich hätte Truffaut eine Szene einfügen können, in der die Bauern mit dem Eselskarren erzählen, was im Krieg in ihrem abgelegenen Tal geschehen ist. Aber das war nicht seine Art. Die Methode Truffaut geht anders. Unter der Oberfläche von La nuit américaine verbirgt sich ein Subtext, dem man folgen kann wie Ferrand und seine Crew den "Pamela"-Schildern, die sie von der rue Jean Vigo in das Tal der Vésubie bringen. Unterwegs begegnet man - als Zitat oder Verweis verpackt - noch anderen Regisseuren und deren Filmen.

Nehmen wir Jean Renoir. Er kommt ins Spiel, wenn Julie Baker - als Beispiel für abstruse Starallüren - einen Haufen Butter verlangt. Nicht rechteckig portioniert soll die Butter sein, sondern ein Klumpen wie auf dem Bauernmarkt. Um den Film zu retten holt Bertrand ein paar Päckchen aus dem Laden und verknetet sie mit Joëlles Hilfe zur gewünschten Form (nicht einmal die Original-Bauernbutter ist echt beim Film). Jetzt muss das Ding noch jemand zu Julie in die Garderobe bringen. Das bleibt an Ferrand hängen, weil Joëlle sich weigert.

"Nein nein nein", sagt sie, "ich bin wie der alte Koch aus La règle du jeu: Diäten lasse ich gelten, aber keine Manien." Die Spielregel ist "eine Dokumentation über den Zustand der Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt", wie Renoir sein Meisterwerk von 1939 selbst charakterisierte. Der Zeitpunkt ist der Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Dokumentiert wird das Leben der französischen Oberschicht und ihrer Dienerschaft. Wenn sich Joëlle mit dem Koch vergleicht ist das mehr als die Zitierwut eines Filmverrückten von der Nouvelle Vague.

Kartoffelsalat und Antisemitismus (13 Bilder)

La règle du jeu

Wer die Anspielung nicht versteht wird nicht als Dummkopf vorgeführt, sondern überhört sie und sieht noch immer eine komische Szene. Für den, der weiß, was gemeint ist, öffnet sich ein neues Fenster, was die Seherfahrung reicher und La nuit américaine vielschichtiger macht. Man denkt dann den von Renoir vorausgeahnten Zweiten Weltkrieg mit, oder es fällt einem auf, dass Truffaut einiges von La règle du jeu übernommen hat: von einzelnen Handlungselementen und der Struktur bis zum Charakter beider Filme als Ensemblestück.

Ferrands Gang über das Studiogelände, von Lajoie mit den Autos bis zu Bernard mit den Pistolen, ist von der berühmten Küchenszene inspiriert. Mit einer Kamerafahrt, parallel zum langen Esstisch, stellt uns Renoir einige von den Dienern vor. Sie teilen die schlechten Eigenschaften der Aristokraten in der Etage über ihnen, und auch den Antisemitismus. So mokiert sich die Dienerschaft über die jüdische Herkunft des Marquis de la Chesnaye. Plötzlich taucht im Hintergrund der Koch auf und mischt sich in das Gespräch ein. Die Leute aus der Oberschicht, sagt er, essen wie die Schweine.

Der Marquis hingegen habe ihn über seinen Kartoffelsalat ausgefragt und sich dabei als ein wahrer Kenner gezeigt, der weiß, wie wichtig die Details sind, und ihre Reihenfolge bei der Zubereitung. Darum sei der Mann, Jude hin oder her, für ihn ein feiner Herr. Der Koch vergisst da einen Moment lang seinen Antisemitismus und beurteilt den Marquis nicht nach seiner Herkunft, sondern als Person; danach, wer er ist und was er kann. Joëlle hat gute Gründe, wenn sie sich mit ihm vergleicht. Auf die Einzelheiten kommt es an.

Verdrängte Schuld und Filmzensur

À propos Lajoie. Der Aufnahmeleiter ist für einen der drei Running Gags in La nuit américaine zuständig (die beiden anderen sind Alexandres tägliche Fahrt zum Flughafen und die Frage von Alphonse, ob Frauen etwas Magisches haben). Lajoie (Gaston Joly) sieht man öfter mit einer grimmigen Dame, die immer ihr Strickzeug dabei hat und ihm folgt wie ein Schatten. Magisch ist da nichts. Einmal muss Ferrand die Dame bitten, ein paar Meter zur Seite zu gehen, weil sie sonst mit im Bild sitzt. Dabei erfahren wir, dass das Lajoies Gattin ist.

Joëlle erzählt, dass Madame Lajoie ihren Mann nie aus den Augen lässt, weil sie furchtbar eifersüchtig ist und glaubt, dass alle Frauen mit ihm schlafen wollen. Im Filmteam heiße das Paar nur das Leid (chagrin) und das Mitleid (pitié). Das ist mehr als ein Wortspiel (aus Freude/Lajoie wird Leid und das Team hat Mitleid mit dem Aufnahmeleiter, dem seine Frau das Leben zur Hölle macht). Le chagrin et la pitié (1969) ist ein Dokumentarfilm von Marcel Ophüls über Widerstand, Kollaboration, Antisemitismus und das alltägliche Leben im Frankreich der Jahre 1940 bis 1944.

Le chagrin et la pitié

La nuit américaine wirkt, als reihe er locker Episoden aneinander und ist doch sehr sorgfältig konstruiert. Das Leinwandleben von Pamela (als fiktive Figur hat sie kein anderes) beginnt und endet mit Hinweisen auf die Okkupationszeit. Bei ihrer "Geburt" (der ersten Einstellung mit Pamela im Film im Film) fahren sie und Alphonse im blauen Auto des Regieassistenten beim Haus der Eltern vor, eingeführt durch Joëlles Wortspiel mit Le chagrin et la pitié. Bei ihrem Tod stürzt sie mit diesem Auto in die Schlucht im Tal der Vésubie, das den Juden eine Zuflucht bot, während anderswo die Kollaborateure Juden ans Messer lieferten (wie die Mutter von Suzanne Schiffman, dem Vorbild für Joëlle).

Verdrängte Schuld und Filmzensur (10 Bilder)

La nuit américaine

Anhand von La nuit américaine ließe sich auch eine kurze Geschichte der Filmzensur in Frankreich erzählen, beginnend mit dem frühen Tonfilm. Jean Vigo hatte Anfang der 1930er genauso mit der Zensur zu kämpfen wie Jean Renoir am Ende des Jahrzehnts. La règle du jeu wurde gleich zweimal verboten, kurz nach Beginn des Krieges und nach Kriegsende schon wieder. In der Zeit zwischen den beiden Verboten, im besetzten Frankreich, war das französische Kino Teil der deutschen Propagandamaschinerie. Ophüls’ Le chagrin et la pitié ist der beste Dokumentarfilm über diese Zeit.

In Deutschland lief er ohne größere Widerstände im Fernsehen (als Das Haus nebenan). In Frankreich, wo Jacques Chirac 1995 ein Tabu brach, weil er - als Staatspräsident - erstmals eine französische Mitschuld an den Judendeportationen anerkannte, war Le chagrin et la pitié 1969 ein Politikum. Erste private Aufführungen sorgten gleich für einen Skandal. Auf Druck der Regierung verweigerte das französische Fernsehen die Ausstrahlung (ein Bann, der bis 1981 andauern sollte). Als sich Truffaut der Sache annahm gelang es, den Film in einige Kinos zu bringen. Die Zuschauerresonanz war enorm.

Treue zu den Toten

Truffaut verweist nicht nur auf die Werke anderer Filmemacher, er zitiert sich auch selbst. Am offensichtlichsten ist das bei der Szene mit dem Kätzchen und dem Frühstückstablett. Das hatte man zuvor in La peau douce gesehen. Beide Male folgt das Frühstück einem Ehebruch. In Die süße Haut hat eine junge Stewardess (Françoise Dorléac) mit einem verheiraten älteren Mann geschlafen. In "Je vous présente Paméla" hat Pamela Sex mit dem Vater von Alphonse. Daraus resultieren - nach der Logik des Melodrams - zwei Todesfälle. Pamela stirbt beim Autounfall. Alphonse erschießt seinen Vater (wie die betrogene Ehefrau in La peau douce ihren Gatten).

Für einen Film, der so leicht und locker daherkommt wie La nuit américaine, wird überraschend viel gestorben, im Film im Film und darum herum. Séverine wird nach den Dreharbeiten zu ihrem Sohn fahren, der Leukämie im Endstadium hat. Gérard, einer aus der Crew, bittet Ferrand um drei Tage Urlaub, weil er zum Begräbnis seiner Mutter muss. Es gibt so viel Tod und Sterben, dass es fast frivol wirkt, wenn sich Stacey mit ihrem Fünfmonatsbauch zum Gruppenphoto aufstellt.

Treue zu den Toten (19 Bilder)

La peau douce

Einmal erhebt sich ein Flugzeug mit lautem Dröhnen über den Kulissen. Das leitet eine Szene ein, in der sich Ferrand bei Alexandre dafür entschuldigt, dass er in "Je vous présente Paméla" sterben muss. Alexandre nimmt es gelassen. In nunmehr 80 Filmen, antwortet er amüsiert, sei er 24-mal auf die eine oder andere Weise ums Leben gekommen, aber noch nie eines natürlichen Todes gestorben (vgl. die Projektionsgeschwindigkeit beim Tonfilm: 24 Bilder pro Sekunde). Das sei richtig so, weil er den Tod für nichts Natürliches halte. Wie im Kino, so im Leben. Beim Drehen der Ballszene bringt Bertrand die Nachricht, dass Alexandre einen tödlichen Autounfall hatte. Auf der Straße zum Flughafen von Nizza.

1967 hatte Françoise Dorléac einen Unfall mit einem Mietwagen. Sie war unterwegs zum Flughafen von Nizza. Bei der Autobahnausfahrt nach Villeneuve-Loubet, rund 50 Kilometer von dem Ort entfernt, wo Pamela mit ihrem Wagen in die Schlucht stürzt, überschlug sich der Wagen und geriet in Brand. Françoise konnte sich nicht befreien und verbrannte bei lebendigem Leib. Seine Bekanntheit (aber das ist wirklich ein Zufall) verdankt Villeneuve-Loubet einem berühmten Bewohner. Marschall Pétain, der "Held von Verdun" und Chef der mit den Nazis kollaborierenden Vichy-Regierung, besaß dort ein Landhaus, das er 1942 zum letzten Mal besuchte und das nach dem Krieg viele Rechtsextreme anzog.

Als Truffaut die Nachricht von Françoises Tod erreichte drehte er gerade La mariée était en noir, in den Seealpen und nicht weit weg vom Unfallort. Er war so getroffen, dass er den Film zunächst abbrechen wollte. Die Autounfälle von Pamela und Alexandre sind (nicht die einzigen) Stellen in La nuit américaine, wo die Fiktion mit der Wirklichkeit verschmilzt. Vielleicht war das Truffauts ganz persönliche Art der Konfrontationstherapie. Vielleicht mussten die Unfälle sein, weil er den Tod von Françoise Dorléac weder vergessen konnte noch wollte. "Ich bin den Toten treu", sagte er 1978 in einem Interview, "ich lebe mit ihnen."

Schüsse im Schnee

Alexandre wird beigesetzt. Dann kommt die merkwürdigste Szene des Films. Ferrand sitzt in einem Auto und fährt auf dem Studiogelände im Kreis herum. Aus dem Off hören wir seine (Truffauts) Stimme: "Mit Alexandre ist eine ganze Kino-Epoche verschwunden. Die Ateliers veröden, die Filme werden auf der Straße gedreht, ohne Stars und ohne Drehbuch. Filme wie Je vous présente Paméla werden nicht mehr gemacht." Dann fährt er aus den Victorine-Studios hinaus. Was soll das heißen? Dreht Ferrand seinen Film in den 1940ern oder 1950ern, als das Studiosystem zerbrach, obwohl wir im Nizza der frühen 1970er sind?

Ist das der Grund, warum Ferrand und seine Crew nie die Klamotten wechseln? Sind wir aus der Zeit gefallen und in einem Paralleluniversum gelandet, in dem die Nouvelle Vague noch gar nicht stattgefunden hat? Man weiß es nicht. Jedenfalls muss der Film irgendwie gerettet werden. Aus London reist ein Herr von der Versicherungsgesellschaft an. Ihn spielt Graham Greene, der Autor von Der dritte Mann (mit einer Paraderolle für Orson Welles als Harry Lime). Truffaut hielt ihn angeblich für einen pensionierten englischen Geschäftsmann und erfuhr erst später, um wen es sich da handelte, aber das dürfte nicht viel mehr als eine amüsante Anekdote sein.

Schüsse im Schnee (17 Bilder)

La nuit américaine

Der Engländer hat als Dolmetscher den französischen Repräsentanten seiner Firma mitgebracht. Ihn spielt Marcel Berbert, der Produzent von La nuit américaine und das Vorbild für Bertrand, den Produzenten von "Je vous présente Paméla". Das Original und sein Doppelgänger stehen nebeneinander, wenn Greene die schlechte Nachricht verkündet: Die Versicherung zahlt für fünf zusätzliche Arbeitstage. Alle Szenen Alexandres mit einem anderen Schauspieler neu zu drehen kommt nicht in Frage. Viel zu teuer. Die Filmhandlung muss nun gekürzt und gestrafft werden.

Ferrand ist mindestens so pragmatisch wie Truffaut. Der Film muss fertig werden, und wenn Alexandre für seine Sterbeszene nicht mehr da ist zeigt man sie eben aus der Distanz. Alphonse erschießt seinen Vater jetzt von hinten (damit man das Gesicht des Doubles nicht sieht). Das ist sowieso viel besser, sagt Ferrand. Joëlle schlägt vor, die Szene auf einem verschneiten Platz zu drehen. Das kostet eigentlich nur Geld, lohnt sich aber trotzdem, weil es eine schöne Hommage an Orson Welles ist.

Im schon erwähnten Vorwort zum Buch von André Bazin schreibt Truffaut, Welles habe Filme "mit rechts" (Citizen Kane, The Magnificent Ambersons, die Shakespeare-Adaptionen) und "mit links" gedreht (Thriller wie The Stranger, The Lady from Shanghai): "In den ersteren gibt es stets Schnee, in den letzteren fallen stets Schüsse. Doch sie alle sind, wie Jean Cocteau es nannte, ‚filmische Poesie’." In La nuit américaine, Truffauts Liebeserklärung an das Filmemachen und an seine Kinohelden, gibt es Schnee und es fällt ein Schuss.

Ein Regisseur, der nicht bumst

Der Film wird doch noch fertig. Alle machen sich zur Abreise bereit. Ein Filmteam ist - im Guten wie im Schlechten - wie eine Großfamilie auf Zeit. Man kommt zusammen, bildet eine Gemeinschaft, geht wieder auseinander, wenn der Film abgedreht ist. Truffaut will - Godard zum Trotz - keine die Konventionen zertrümmernde, sondern eine gut konstruierte Geschichte erzählen, mit Anfang, Mitte und Schluss in der üblichen Reihenfolge. Darum taucht am letzten Tag wieder der Fernsehreporter auf, der auch am ersten Tag schon da war. Den Film schließt das ab wie die zwei Deckel vorn und hinten ein Buch.

Es will sich nur keiner vor das Mikrophon stellen mit Ausnahme des Requisiteurs. Bertrand weiß, was verlangt wird. "Wir hoffen, dass das Publikum beim Anschauen dieses Films das gleiche Vergnügen hat wie wir beim Drehen", sagt er direkt in die Kamera und kommt ihr so nahe, dass man kurz erschrecken kann. Am Anfang wie am Ende wird die von der Filmindustrie verkaufte Illusion zerstört, dass wir unsichtbare Beobachter sind, die im Kino ein Stück vom echten Leben sehen dürfen. Zum Abschluss schlüpft Truffaut in die Rolle des allwissenden Erzählers. Aus der Vogelperspektive stellt er uns noch einmal die Darsteller vor wie Medaillons in einem Erinnerungsalbum, begleitet von Delerues jubilierender Musik.

Godard war nicht vergnügt. Am Tag, nachdem er Die amerikanische Nacht gesehen hatte, schrieb er Truffaut einen Brief, in dem er gleich zur Sache kommt. "Wahrscheinlich wird dich niemand einen Lügner nennen", lautet der zweite Satz, "also tue ich es." Das sei keine größere Beleidigung als "Faschist", denn Filme wie La nuit américaine "hinterlassen nur die Abwesenheit von Kritik, und die beklage ich. Du sagst: Filme sind wie große Züge in der Nacht, aber wer nimmt den Zug, in welcher Klasse sitzt man, und wer ist es, der den Zug steuert, mit dem ‚Spitzel’ von der Direktion an seiner Seite?"

Ein Regisseur, der nicht bumst (13 Bilder)

La nuit américaine

Nach weiteren Anwürfen kommt Godard zum eigentlichen Zweck des Briefes. Er wirft Truffaut vor, sich bei denen eingereiht zu haben, die "klotzend produzieren" und das Geld verbrauchen, das dann für Filme wie die seinen nicht mehr zur Verfügung stehe: "Euch hindert niemand daran, den Zug zu nehmen, aber ihr hindert andere." Godard arbeitete damals an einem neuen Projekt, "Un simple film", das unvollendet blieb, weil ihm mitten unter den Dreharbeiten das Geld ausging. Truffaut forderte er nun auf, sich mit zehn Millionen Francs an den Kosten zu beteiligen: "Angesichts von La nuit américaine müsstest du mir helfen, damit die Zuschauer nicht glauben, es würden nur Filme wie deine gemacht."

Erst beleidigen und dann Kohle einfordern: sehr diplomatisch war das nicht. Doch es war typisch für Godard, der immer und aus Prinzip auf Konfrontationskurs ging und daraus seine Energie bezog. Wie für Bert Brecht beim Zoff wegen der Verfilmung der 3Groschenoper war der Streit für ihn ein "soziologisches Element", das Machtstrukturen sichtbar machte. Heute strahlt Godard eine gewisse Altersmilde aus, aber das ist wahrscheinlich trügerisch. Damals war es bestimmt nicht leicht, sein Freund zu sein.

Der persönlichste Angriff steckt in diesem Satz: "Lügner, denn die Einstellung von dir und Jacqueline Bisset neulich abends bei Francis [Chez Francis ist ein Luxusrestaurant gegenüber dem Eiffelturm in Paris] fehlt natürlich in deinem Film, und man fragt sich, warum der Regisseur der einzige ist, der in La nuit américaine nicht bumst.". Mit anderen Worten: Jeder weiß, dass du immer mit der Hauptdarstellerin schläfst, und dann drehst du einen Film, in dem der Regisseur ohne Jacqueline Bisset im Bett liegt. Diese Auslassung ist eine von deinen Lügen, du mieser Kerl.

Bei Truffaut gibt es dazu eine interessante Szene. Ferrand und sein Kameramann Walter stehen im Korridor des Hotel Atlantic und schauen sich Starphotos von Julie Baker an. "Die kenne ich", sagt Walter. "Ich habe sie in einem Film mit einer Autoverfolgungsjagd gesehen" (Bullitt mit Bisset als Partnerin von Steve McQueen). Einen traurigen Blick habe die Schöne, meint Ferrand, aber sexy sei das auch. Die zwei Männer sind Profis und könnten doch auch Filmfans sein, die Photos von ihrem Leinwandidol sammeln.

Truffaut war beides: Der Regisseur und Autor mit eigener Produktionsfirma und der ewige Fan, der als Junge Aushangphotos aus den Pariser Kinos geklaut hatte wie der junge Ferrand in Die amerikanische Nacht. Als Regisseur kriegte er Schauspielerinnen ins Bett, die er als Fan nur anhimmeln konnte, aus der Distanz. Das war auch eine Möglichkeit, das Gitter zu überwinden, das den Jungen in den Traumsequenzen von den Bildern trennt, die er schließlich mit nach Hause nimmt. In seiner privaten Korrespondenz beschreibt Truffaut das Filmemachen als ganzheitliches erotisches Erlebnis, den Sex mit der Hauptdarstellerin als Mittel zur Steigerung seiner Kreativität als Künstler.

Verachtung auf halber Treppe

Heute kann man das nicht mehr bringen. Die #MeToo-Debattierenden würden Truffaut solche Erklärungen um die Ohren hauen. Aber warum war Godard der Bisset-Vorwurf so wichtig, dass er auch noch mit dazu musste, eingebettet in einen kryptischen Hinweis auf verschwiegene NS-Verbrechen und die erste Erwähnung seines eigenen Filmprojekts? Als 1988 ein dickes Buch mit Briefen von Truffaut erschien, in dem der von Godard mit abgedruckt war, ging die Suche nach den Gründen los. Warum hatte Godard diesen gehässigen Brief geschrieben? Nur wegen künstlerischer Differenzen, oder war da mehr?

Einige Interpreten führte ihr Spürsinn zu Godards Charlotte et son jules (Charlotte und ihr Typ), einem Kurzfilm von 1958. Charlotte (Anne Colette, Godards damalige Freundin) hat einen erfolglosen, von Jean-Paul Belmondo gespielten Romanschriftsteller für einen Filmregisseur mit Cabrio verlassen, kommt zurück und muss einen langen Monolog über Dummheit, Unmoral und großmütiges Verzeihen über sich ergehen lassen, ehe sie sagen kann, dass sie nur ihre Zahnbürste holen wollte. Das ist das erste (und nicht das letzte) Mal bei Godard, dass man eine Tirade über das Filmgeschäft als eine Form von Prostitution und Zuhälterei hört.

Verachtung auf halber Treppe (18 Bilder)

Charlotte et son jules

Beim Film, ereifert sich Belmondo, schläft jeder mit jedem. Es gibt keine Moral. Beziehungen haben nicht viel zu bedeuten. Rollen werden im Bett vergeben. Frauen wie Charlotte machen es sogar umsonst, weil sie weder das Gewerbe noch den Unterschied zwischen Liebe und einer Illusion davon verstanden haben. Das ganze Medium Film ist eine einzige große Lüge. Die Tirade hat etwas Selbstironisches, etabliert aber auch ein Thema, das Godard weiter beschäftigen sollte: in À bout de souffle, in Vivre sa vie, in Le mépris und so weiter. Die besondere Note erhält der Monolog dadurch, dass er von Godard gesprochen wird und nicht von Belmondo, der bei der Nachsynchronisation zum Militärdienst in Algerien war.

In La nuit américaine übernimmt Madame Lajoie die Belmondo/Godard-Rolle. Nachdem Julie mit Alphonse geschlafen und sich eingeschlossen hat gibt es eine kleine Versammlung vor ihrer Garderobentür. Madame Lajoie (Zénaïde Rossi), die bisher nur geschwiegen und grimmig zugeschaut hat, ergreift das Wort: "So geht das also zu beim Film! Was ist denn das für ein Beruf? Jeder schläft mit dem Nächstbesten, jeder küsst den anderen ab, alle duzen sich, alle lügen! Was soll das alles sein? Finden Sie das normal? Ich finde euer … ich finde euer Kino unausstehlich! Ich verachte euch und euer Kino! Ich verachte es! Ich verachte es!"

In der deutschen Synchronfassung hat man das Verb mépriser leider mit "hassen" übersetzt: "Ich hasse euch und euer Kino!" Es sollte aber schon die Verachtung und nicht der Hass sein, da La nuit américaine Truffauts Antwort auf Godards Le mépris ist. Vielleicht ist es Zufall oder einfach dem Drehort geschuldet, dass Madame Lajoie ihre Verachtung auf halber Treppe bekundet. Einen besseren Platz hätte Truffaut trotzdem nicht finden können. Auch bei Godard ist es ein Treppenhaus, in dem Camille ihrem Mann zum ersten Mal sagt, dass sie ihn verachtet, nachdem er sie mit dem Produzenten verkuppeln wollte.

Truffaut hat Madame Lajoies Tirade nicht wortwörtlich von Charlotte et son jules übernommen, wie in einigen Deutungen des Zerwürfnisses zu lesen, sinngemäß aber sehr wohl. Sah sich Godard also zuerst als kleiner Mann mit Hut karikiert und dann auch noch als geifernde Spießerin, die so eifersüchtig über ihren Gatten wacht wie er einst über Karina, von der er verlangt hatte, ihre Filmkarriere aufzugeben, damit sie nicht mit anderen Regisseuren drehen (schlafen) konnte? Verwunderlich wäre das nicht. Mit der Besetzung von Ernest Menzer ließ ihm Truffaut fast keine andere Wahl. War der Bisset-Vorwurf die Retourkutsche?

Godard jedenfalls war Jacqueline Bisset so wichtig, dass er auch in seiner Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos (1980) nicht auf sie verzichten wollte. "Ich habe mich vollständig und endgültig mit Truffaut überworfen", erzählt er da. "Wir reden nicht mehr miteinander." Das liege zum einen an einer "Geldgeschichte" und zum anderen daran, dass er Truffaut auf die fehlende Einstellung mit Bisset und dem Regisseur angesprochen habe. Dann legt er nach und behauptet, dass Truffaut den Film überhaupt nur gemacht habe, um mit Jacqueline Bisset ins Restaurant gehen (mit ihr schlafen) zu können.

Ein Arschloch auf seinem Sockel

Truffaut, behauptet Godard in der Wahren Geschichte des Kinos, habe ihm nie geantwortet. Das stimmt nicht ganz. Truffaut war so verletzt, dass er Godard seinerseits einen zwanzig Seiten langen Brief schrieb, in dem er auflistete, was sich in ihm angestaut hatte. In dem Brief wirft er Godard ein taktisches Verhältnis zum politischen Engagement vor und Feigheit, weil er sich nicht an konkreten Aktionen wie dem von Sartre initiierten Verkauf von La cause du peuple beteiligt hatte. Godard, so Truffaut, gefalle sich in der Rolle des unangepassten und unkorrumpierbaren Kämpfers gegen das System und sei doch nur ein "elitärer Scheißer", der "wie ein Arschloch auf seinem Sockel" stehe.

"Die Kunst, dich als Opfer bemitleiden zu lassen, hast du schon immer beherrscht", schreibt Truffaut. Dabei sei es Godard, der andere Leute beleidige und terrorisiere ("diese Art umgekehrte Speichelleckerei"). "Ich hatte schon immer den Eindruck, die wahren Militanten sind wie Putzfrauen, sie verrichten täglich eine undankbare, aber notwendige Arbeit. Du bist eher wie Ursula Andress, du zeigst dich vier Minuten lang der Öffentlichkeit, damit die Kameras blitzen können, gibst zwei, drei recht verblüffende Statements, und das war’s, zurück in die vorteilhafte Versenkung." Statt mit einer Xanthippe wie Madame Lajoie verglich er Godard jetzt also mit dem Sexsymbol aus einem James-Bond-Film.

Dazu führt er Schauspielerinnen auf, die Godard als Nutten denunziert habe, weil sie mit ihm drehen wollten; die er unter (sexuellen) Druck gesetzt habe; oder auf die er sich gestürzt habe "wie Charlie Chaplin auf seine Sekretärin in The Great Dictator." "Ich zähle das alles auf", so Truffaut weiter, "um dich daran zu erinnern, in deinem Wahrheitsfilm über Kino und Sex ja nichts zu vergessen". Selbstverständlich durfte auch Jean-Pierre Léaud nicht fehlen, das "Kind der Nouvelle Vague". Godard hatte einen Brief an Léaud beigelegt, in dem er offenbar auch ihn um Geld für sein scheiterndes Projekt "Un film simple" anging.

Darüber ärgerte sich Truffaut ganz besonders. Statt den Brief weiterzugeben beschuldigte er Godard, Léauds Bewunderung für ihn auszunützen, ihn durch zu niedrige Gagen auszubeuten und beim Drehen mit dem sensiblen Darsteller keinerlei Empathie zu zeigen. Das war das Ende der Beziehung von François Truffaut und Jean-Luc Godard, die dem französischen Film so viel gegeben hatte wie kaum eine andere. Soweit bekannt redeten die beiden nie mehr ein Wort miteinander. Godard schlug wohl vor, sich auszusprechen, aber Truffaut hatte daran kein Interesse mehr.

So traurig soll es nicht enden. Am besten, man schaut sich gleich einen ihrer Filme an. Alles von Godard mit Anna Karina kann ich sehr empfehlen. Oder die erstaunlich unterhaltsamen Filme aus seiner Dziga-Vertov-Phase. Truffauts Jules et Jim, Tirez sur le pianiste, La sirène und Les deux anglaises. La peau douce nicht zu vergessen. Dieses Melo, mit dem Truffaut angeblich die Nouvelle Vague verriet, ist viel besser als sein Ruf. Eine Sezierübung an der Scheinmoral der Bourgeoisie, vorgenommen mit den Instrumenten von Alfred Hitchcock. Als Godard noch für die Cahiers du cinéma schrieb nahm er Die süße Haut in seine Liste mit den zehn besten Filmen des Jahres auf. Man lernt nie aus.

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