Jan van Aken über die Linke: "Als ob Migration das größte aller Probleme wäre"
Linken-Politiker van Aken will Parteichef werden. Er sieht Potenzial nach Wagenknecht-Austritt. Doch ein Thema bereitet ihm Sorgen. Ein Telepolis-Podcast.
Die Linkspartei ist in heftigen Turbulenzen. Eine Wahlschlappe folgt der nächsten, wie gerade die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen gezeigt haben. Die beiden Bundesvorsitzenden haben ihren Rückzug angekündigt, und gleichzeitig ist das Bündnis Sahra Wagenknecht auf Erfolgskurs.
Für den früheren Bundestagsabgeordneten der Linken Jan van Aken ist das der Moment zu sagen: Jetzt gehe ich an den Start. Er will beim Bundesparteitag im Oktober als Parteivorsitzender kandidieren. Außerdem hat er gerade ein Buch mit dem Titel "Worte statt Waffen" geschrieben. Darin geht es um die Frage, wie Kriege enden und Frieden verhandelt werden kann. Dietmar Ringel hat im Telepolis-Podcast mit Jan van Aken gesprochen.
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▶ Was gibt Ihnen die Hoffnung, dass die Linke wieder auf die Beine kommen kann?
Jan van Aken: Wir haben einige unserer zentralen Probleme hinter uns gelassen. Ich glaube, viele Menschen wussten in den vergangenen Jahren nicht mehr genau, wofür die Linke steht. Bei zentralen Fragen wurden immer wieder unterschiedliche Botschaften ausgesendet; wir wurden als miteinander streitende Partei wahrgenommen, und niemand wählt gerne Menschen, die sich untereinander streiten.
Streit mit BSW-Abspaltung beendet?
Ich glaube, dass das mit der Absplitterung des BSW hinter uns liegt. Deswegen sehe ich jetzt ein großes Potenzial für uns, wenn wir wieder mit einer Stimme sprechen können, wenn wir Positionen klarmachen und gemeinsam nach außen vertreten. Ich glaube, dann sind wir für viele wieder wählbar.
▶ Aber schon nach dem Parteiaustritt von Wagenknecht und ihren Mitstreitern hieß es, die Störenfriede sind weg, jetzt starten wir durch. Das ist mittlerweile ein paar Monate her. Nun sind gerade die Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen gelaufen. Und es sieht nicht so aus, als ob die Linke davon profitieren könnte.
Die Herausforderung der Landtagswahlen für die Linkspartei
Jan van Aken: Ich glaube, so schnell geht das nicht. Das kennen wir auch aus unseren privaten Beziehungen. Wenn das Vertrauen erst mal weg ist, dann braucht es eine Zeit, es wieder aufzubauen. Und ich glaube schon, dass wir in letzter Zeit einige gute Ansätze gezeigt haben. Wenn man sich in Sachsen etwa den Wahlkampf von Nam Duy Nguyen im Leipziger Osten ansieht.
Ich glaube, die haben an 46.000 Haustüren geklopft. Mit den Gesprächen, die dabei geführt wurden, hat man es geschafft, wirklich wieder Vertrauen bei den Menschen aufzubauen. Er hat dann aus dem Stand 40 Prozent bekommen. Wenn wir methodisch, strategisch richtig ran gehen, dann können wir über die Zeit wieder Vertrauen aufbauen. Aber über Nacht geht das natürlich nicht.
Neue Strategie für die Linkspartei: Zuhören statt reden
▶ Ihre Strategie heißt also: Weiter so?
Jan van Aken: Weiter so wie Nam Duy Nguyen vielleicht, ja. Diese Strategie, die Menschen im direkten Gespräch zu überzeugen und auch erst mal zu horchen, wo drückt eigentlich der Schuh? So nach dem Motto: Die anderen Parteien reden, wir hören zu. Das ist eines unserer Ziele.
Das geht natürlich nicht überall. Wir planen es jetzt gerade auch in Hamburg für den Wahlkampf, dass wir das auf jeden Fall in mehreren Stadtteilen machen werden. Erst zuhören, daraus Forderungen entwickeln, damit in den Wahlkampf gehen, und dann wieder Vertrauen bei den Menschen zurückgewinnen. Haustürgespräche haben wir zwar schon immer gemacht. Aber jetzt wollen wir systematisch dahin gehen, wo es weh tut.
Das Verhältnis zwischen Linkspartei und Bündnis Sahra Wagenknecht
▶ Wie stellen Sie sich das künftige Verhältnis von Linkspartei und Bündnis Sahra Wagenknecht vor?
Jan van Aken: Wie stelle ich mir das Verhältnis von Linkspartei zu Grünen oder SPD vor? Das sind alles andere Parteien mit anderen Schwerpunkten. Alle bedienen gerade ein rassistisches Narrativ. Alle tun gerade so, als ob Migration das größte aller Probleme wäre. Davon grenzen wir uns ganz klar ab.
Und zudem haben wir gerade eine drohende faschistische Gefahr. Nach den Wahlen in Thüringen und Sachsen ist das ja noch mal so richtig evident geworden. Und da ist meine Parole: Alle gemeinsam gegen den Faschismus. Das heißt, auf der einen Seite die anderen Parteien dafür zu kritisieren, dass sie mit ihrer Politik der letzten Jahre – das gilt jetzt nicht für BSW – mit dieser ganzen neoliberalen Umformung der letzten drei Jahrzehnte den Boden bereitet zu haben für diesen Rechtsruck.
Und auf der anderen Seite aber mit ihnen gemeinsam auch gegen den Faschismus zu kämpfen. Das BSW ist eine demokratische Partei. Die würde ich jetzt nicht anders behandeln als SPD oder Grüne.
▶ Aber es ist so, dass im BSW viele sind, die früher in der Linkspartei waren. Das BSW hat zwar erst wenige Mitglieder, aber auch viele Unterstützer kommen aus dem linken Spektrum. Ergibt sich daraus nicht dann doch ein besonderes Verhältnis? Gibt es eine Art Graben zwischen den beiden Parteien?
Jan van Aken: Was Sie schildern, ist etwas Emotionales. Und auf lokaler Ebene kann ich das verstehen. Ich bin auch gerade in vielen Kreisverbänden unterwegs, und da gibt es natürlich auch Verletzungen. Aber strukturell gibt es keine Verletzungen von einer Partei zu einer anderen Partei. Ich habe die nicht. Und deswegen ist der Graben nicht größer oder weniger groß als zu den anderen Parteien. Diese Parteipsychologie funktioniert, glaube ich, nicht.
Migration: Eine Debatte, die die Linkspartei nicht führen will
▶ Die AfD und auch das BSW wurden in Thüringen und Sachsen von vielen Menschen gewählt, die mit der Migrationspolitik der Bundesregierung unzufrieden sind. Mittlerweile haben auch die Ampelparteien und vor allem die Union eine deutlich härtere Gangart in dieser Frage eingelegt. Wird es auch bei der Linken ein Umdenken in dieser Frage geben?
Jan van Aken: Nein, auf keinen Fall. Ich finde, Menschen in Not muss geholfen werden. Da gibt es überhaupt kein Vertun. Und jetzt dieses ganze Gerede davon, dass Menschen anderer Hautfarbe schuld sind an der Misere hier in Deutschland, das ist ein reines Ablenkungsmanöver. Und das geht wirklich von den Grünen über SPD bis zur CDU. Die haben es verbockt.
Die haben in den vergangenen 30 Jahren diese neoliberale Kürzungspolitik zu verantworten. Deswegen funktioniert so vieles nicht mehr. Das ist die Erfahrung, die viele Menschen machen. Nichts funktioniert mehr. Sie haben wirklich Zukunftsängste, weil sie einerseits eine reale Lohnsenkung in den vergangenen Jahren durch die Inflation, auf der anderen Seite die öffentliche Infrastruktur nicht mehr funktioniert.
Und das ist jetzt natürlich ein ganz mieser Schachzucht dieser ehemaligen oder jetzigen Regierungsparteien, die ganze Schuld auf Geflüchtete zu schieben. Das Dumme ist, dass das verfängt. Alle machen es mit, die ganzen Medien reden über Migration, alle Parteien reden über Migration. Kein Wunder, dass jetzt ein Großteil der Menschen denkt, oh, dass ich jetzt weniger verdiene als noch vor ein paar Jahren, das liegt an den Geflüchteten, was komplett albern ist.
Die Mieten steigen, weil Vermieter die Mieten erhöhen und nicht, weil es da Geflüchtete gibt. Aber diese Erzählung verfängt leider bei viel zu vielen. Wir werden unsere Position natürlich nicht ändern. Ich bin Internationalist, wir sind eine internationalistische Partei – fertig.
Herausforderung der Migration: Wie viele Menschen können kommen?
▶ Sie haben kürzlich in einer Fernsehdebatte gesagt, alle Menschen in Not haben ein Recht, nach Deutschland zu kommen. Das wären unterm Strich bestimmt ein paar hundert Millionen. Wie soll das gehen?
Jan van Aken: Die kommen aber nicht. So zu tun, als kämen jetzt plötzlich Hundert Millionen, wenn man sagt, Menschen in Not muss geholfen werden – natürlich kommen die nicht. Es gibt viele Menschen in Not. Denen könnten wir von hier aus auch helfen. Ich meine, gerechtere Wirtschaftsbeziehungen würden sofort ein riesiges Ausmaß an Fluchtursachen beseitigen.
Die Kriege zum Beispiel. Schauen wir uns den Sudan an. Dort tobt ein ganz fürchterlicher, blutiger Krieg. Millionen Menschen sind dort auf der Flucht. Viele von denen werden auch versuchen, nach Europa zu kommen. Und dabei hätte es Deutschland, hätte es Europa in der Hand mit ein wenig politischem Druck auf die Vereinigten Arabischen Emirate, dass sie diesen Krieg nicht weiter befeuern.
Sie hätten es im Griff, diesen Krieg möglichst schnell zu beenden und damit wiederum Fluchtursachen von Millionen Menschen zu beheben. Jetzt immer so zu tun, dass wir hier gar nichts mit den Fluchtursachen zu tun haben und wir nur die Opfer sind, weil so viele hierherkommen, das ist wirklich eine Umdrehung der Tatsachen und auch eine Umdrehung der Schuldfrage.
Ist geregelte Migration inhuman?
▶ Aber die Frage ist ja: Lässt sich Migration unter den Bedingungen, wie wir sie jetzt haben, überhaupt regeln? Also auch darüber zu sprechen, wie viele Menschen am Ende zu uns kommen können. Es sind ja, soweit ich weiß, derzeit rund 200.000 Menschen ohne Recht auf Asyl in Deutschland, von denen man sich nicht trennen kann oder nicht trennen will. Und darüber diskutieren auch viele Menschen. Zugespitzt gefragt: Ist geregelte Migration, die auch eine Begrenzung beinhaltet, grundsätzlich inhuman?
Jan van Aken: Ich habe offen gesagt keine Lust, dass wir die gleiche falsche Debatte hier jetzt auch führen. Wieso muss man überall, wo es um Probleme geht, wenn Menschen jetzt in Ostdeutschland AfD wählen, wieso müssen wir deshalb die ganze Zeit über Migration reden? Damit machen wir genau den Fehler, dass wir einfach in die Falle der AfD tappen.
Warum bitte sehr wählen die Menschen in Sonneberg einen AfD-Landrat, den ersten in Deutschland überhaupt? Warum? Jetzt kann man sagen, wegen der ganzen Geflüchteten in Sonneberg. Die können Sie dort aber mit der Lupe suchen. Ich finde, damit machen wir doch nur den Diskurs der AfD mit. Ich möchte den nicht mitmachen.
Ich habe keine Lust, die ganze Zeit über Migration zu reden. Das geht nicht. Lassen Sie uns über neoliberale Politik reden. Lassen Sie uns über den Mindestlohn reden. 44 Prozent der Menschen in Sonneberg leben vom Mindestlohn. Lassen Sie uns doch darüber reden.
▶ Ich halte es für wichtig, auch über das Thema Migration zu sprechen. Wenn wir uns das Wahlverhalten der Menschen in Thüringen anschauen, also die Probleme, die sie umgetrieben haben, dann sind soziale Fragen ganz wichtig. Also, wenn Leute extrem wenig verdienen, dann prägt das ihr Wahlverhalten. Aber fast genauso viele sagen, das Thema Zuwanderung sei ihnen wichtig, auch die innere Sicherheit. Und gerade da gibt es auch Verbindungen, ich nenne das Stichwort Solingen. Aus meiner Sicht muss man darüber sprechen, auch wenn man dieses Thema ganz anders betrachtet als andere.
Jan van Aken: Ich weiß das nicht. Wir fallen hier wirklich in so eine Falle der AfD, die alle anderen Parteien mitmachen. Jemand sagt dann plötzlich, das ist die Mutter aller Probleme, und schon plappern das alle nach. Vor drei, vier, fünf Jahren haben wir die gleichen Diskussionen geführt, da ging es um Sozialkürzungen, da ging es um die soziale Schieflage und so weiter.
Und damals waren wahrscheinlich die Wahlentscheidungen noch anders geprägt, weil der öffentliche Diskurs ein anderer war. Natürlich – wenn man jeden Tag auf der Titelseite liest, wie schlimm die Geflüchteten mir meine Wohnung wegnehmen und überhaupt für meine Scheiß-Lage verantwortlich sind, dann glauben das immer mehr Menschen. Aber wir müssen das doch nicht noch befeuern.
Soziale Gerechtigkeit: Die Kernmarke der Linkspartei
▶ Dann lasse ich das mal so stehen. Sie haben gesagt, es sei wichtiger, über den Neoliberalismus zu sprechen. Die Linke spricht sich ja für mehr soziale Gerechtigkeit aus, für eine Wirtschaftspolitik, bei der mehr bei den Menschen ankommt. Sieht sich die Linke da allein auf weiter Flur? Was ist die Kernmarke der Linken?
Jan van Aken: Die Kernmarke ist, dass wir die Partei sind für die Menschen, die am Ende des Monats zu wenig Geld in der Tasche haben. Dass wir für sie da sind, mit ihnen und für sie kämpfen. Das tut sonst niemand.
Das sind die Erwerbslosen, die Rentner und Rentnerinnen, das sind auch die, die sich den ganzen Tag krumm legen auf Arbeit und gerade mal vom Mindestlohn leben und oft sogar noch aufstocken müssen. Das heißt, die Menschen, die wirklich keine Stimme in dieser Gesellschaft haben, mit ihnen gemeinsam für ihre Rechte zu kämpfen. Das ist, glaube ich, das Alleinstellungsmerkmal.
Warum kommt die Botschaft der Linkspartei nicht bei den Wählern an?
▶ Aber diese Kernmarke hat die Linke schon lange. Und es hat auch mal relativ gut funktioniert. Es gab Zustimmungswerte von bundesweit zehn Prozent und sogar noch mehr – jetzt liegt man bei drei Prozent und ein wenig. Offenbar kommt es bei den Leuten nicht an. Warum nicht?
Jan van Aken: Wie gesagt, wir haben kein gutes Bild abgegeben. Wir haben uns in den vergangenen Jahren relativ viel gestritten, und wir waren nicht klar in den Aussagen zu allen wichtigen gesellschaftlichen Fragen. Das nimmt man einem natürlich übel, was ich auch völlig verstehe.
Es wird jetzt unsere Aufgabe sein, auch als neues Führungsteam, dass wir sagen, ab jetzt reden wir mit einer Stimme, und vorwiegend gibt es ab jetzt sehr klare Kante mit Forderungen im sozialen Bereich. So wie wir das ja zu unserer Gründungszeit als Linke gemacht haben. 2007 war der Mindestlohn eines der zentralen Themen. Darauf haben wir immer wieder gepocht und am Ende auch gewonnen. Wir haben es damals gekonnt. Ich glaube, wir können das heute immer noch.
Krieg und Frieden: Ein zentrales Thema für die Linkspartei
▶ Ein anderes wichtiges Thema auch für die Linkspartei ist die Frage von Krieg und Frieden. Das war schwierig für die Partei, wenn man an das Verhalten des Parteivorstands zur Friedensdemonstration im Februar 2023 in Berlin denkt. Am Ende war das auch ein Grund für die Abspaltung von Wagenknecht und anderen. Also, auch da wurde viel diskutiert und gestritten bei den Linken. Wie wichtig ist Ihnen dieses Thema?
Jan van Aken: Das ist mein Thema. Seit 25 Jahren mache ich nichts anderes als Friedenspolitik, Abrüstung. Ich habe bei den Vereinten Nationen als Biowaffeninspektor gearbeitet. Ich habe das im Bundestag acht Jahre lang gemacht, hauptsächlich die Waffenexporte zu kritisieren, die Auslandseinsätze. Und es ist auch im Moment mein Job bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, zu dem Thema zu arbeiten. Das ist sozusagen mein Kernthema, und das werde ich natürlich genau so weitermachen.
Ich habe auch nicht umsonst dieses Buch geschrieben. Ich wusste gar nicht, dass es genau in dem Moment herauskommt, wo ich plötzlich für den Parteivorsitz kandidiere. Aber ich glaube, darin wird meine Position gut zusammengefasst, die heißt: Immer erst nach zivilen Lösungen suchen, keine Waffenlieferungen, keine Auslandseinsätze. Aber als Internationalist sage ich auch immer, wir benötigen andere, nämlich zivile Antworten, um den Unterdrückten der Welt zu helfen.
Wie kann man Kriege verhindern und Frieden verhandeln?
▶ Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie erfolgreiche Friedensverhandlungen laufen können, wie sich Kriege schon im Vorfeld verhindern lassen. Da ist viel von bewährter diplomatischer Praxis die Rede, und Sie haben, wie eben beschrieben, auch selbst viel Erfahrung in diesem Bereich. Ich habe dem Buch entnommen, eine ganz entscheidende Frage sei, die Sicherheitsinteressen aller Seiten zu berücksichtigen. Warum haben wir trotz all dieser Erfahrungen und Erkenntnisse trotzdem wieder Krieg mitten in Europa?
Jan van Aken: Ich glaube, die gegenseitigen Sicherheitsinteressen ernst zu nehmen, hat im Kalten Krieg funktioniert. Da standen zwei große Blöcke gegeneinander, die sich ernst genommen und immer aufeinander reagiert haben. Wenn eine Seite sagte, das beeinträchtigt mein Sicherheitsinteresse, dann wurden Lösungen gefunden. Es gibt tolle Beispiele dafür, wie sie das damals in den 70er-Jahren hinbekommen haben.
In den vergangenen 30 Jahren hat es aber nicht mehr funktioniert. Da hat die Nato einen Raketenschild aufgebaut, und Russland hat gesagt, das bedroht unsere Sicherheit. Und der Westen hat geantwortet, ist uns doch egal. Ich glaube, das war der große Fehler, dass man gesagt hat, wir im Westen spielen in der ersten Liga, ihr in Russland spielt in der dritten Liga. Es ist uns egal, was eure Sicherheitsinteressen sind.
Bis heute halte ich das für einen ganz, ganz großen Fehler. Das ist keine Ursache für den Krieg, es ist auch schon gar keine Rechtfertigung für den russischen Angriff, aber es war ein großer Fehler.
Der Krieg in der Ukraine und die Rolle der Linkspartei
▶ Sie gehen in Ihrem Buch auch ganz konkret auf den Krieg in der Ukraine ein, den Russland begonnen hat, der mittlerweile aber auch auf russischem Gebiet geführt wird. Und da sagen Sie einerseits, Sie sind gegen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine. Sie sagen aber andererseits, es kann keinen gerechten Frieden geben, sollte Russland weiterhin große Teile des ukrainischen Territoriums kontrollieren. Wie passt das zusammen?
Jan van Aken: Ich weiß gar nicht, ob ich das so formulieren würde. Ich sage immer, ich sprech mich dafür aus, dass die Waffenlieferungen gestoppt werden, aber das reicht nicht. Man muss dann etwas anderes dafür tun, dass man eine Verhandlungslösung bekommt, was am Ende zu einem gerechten Frieden für die Ukraine führt.
Was genau gerechter Frieden heißt, können nur die Menschen in der Ukraine und in Russland bestimmen. Da mag ich mich gar nicht weit aus dem Fenster hängen. Aber ein Diktatfrieden, in dem Russland einfach sagt, das läuft jetzt so und so – das wäre für mich genauso eine Katastrophe wie ein Weiterführen des Krieges.
Denn damit hätten wir das Völkerrecht zerschmettert, und es wäre eine Einladung an alle Imperialisten, ihre Nachbarn zu überfallen.
▶ Was wäre denn konkret möglich? Mittlerweile spricht selbst der Bundeskanzler davon, dass jetzt Zeit für Friedensverhandlungen sei und dass man auch Russland daran beteiligen müsse. Da hat sich schon ein wenig was bewegt. Sehen Sie Licht am Horizont?
Jan van Aken: Ja, tatsächlich. Seit zweieinhalb Jahren sagen wir als Linke, Ihr müsst was für Verhandlungen tun. Es ist vollkommen egal, ob man für oder gegen Waffenlieferungen ist – alle müssen die Frage beantworten, wie man zu Friedensverhandlungen kommt. Denn drei Viertel aller Kriege enden mit Friedensverhandlungen, das ist der Weg da raus.
Es macht aber einen riesigen Unterschied, ob ich solche Verhandlungen nach drei Monaten oder erst nach 30 Jahren führe. Wenn wir jetzt noch ein paar Jahre warten, dann ist die gesamte Ukraine komplett zerstört, sind Hunderttausende Menschen tot.
Das darf nicht sein. Und deswegen sage ich seit zweieinhalb Jahren, warum bindet der Bundeskanzler oder die Europäische Union nicht viel stärker China ein? China hat ganz klar gesagt, das ist eine völkerrechtswidrige Aggression, sie möchten, dass der Krieg beendet wird, und sie sind bereit, an Verhandlungsformaten mitzumachen.
Aber man muss auf China zugehen, muss sie einbinden, und das wurde bislang verweigert. Deswegen finde ich es erst mal gut, dass Scholz gesagt hat, er sei für Verhandlungen, aber jetzt muss er was dafür tun.
Aus meiner Sicht müsste er morgen einfach mal nach Peking fliegen und China einladen, gemeinsam eine Friedenskonferenz auszurichten. Ich bin mir ganz sicher, wenn Xi Jinping einlädt, dann kommt ein Wladimir Putin.
Aufrüstung in Europa: Eine neue Blockkonfrontation?
▶ Parallel zu diesem Krieg läuft eine massive Aufrüstung auf so ziemlich allen Seiten. Russland rüstet weiter massiv auf und der Westen, einschließlich Deutschland, ebenfalls. Zur Begründung heißt es, wir müssten uns auf diese Weise vor Russland schützen, das möglicherweise auch in Richtung Berlin marschieren könnte. Wie bewerten Sie das?
Jan van Aken: Ich bin Naturwissenschaftler, und da schaue ich mir erst mal die Zahlen an. Die sind relativ klar. Die europäischen Nato-Staaten ohne die USA – also, auch wenn Trump gewählt wird, aus der Nato aussteigt oder was auch immer tut – nur die europäischen Nato-Staaten geben doppelt so viel für das Militär aus wie Russland. Und das ist schon Kaufkraft bereinigt, also umgerechnet auf die reale Kaufkraft.
Wenn ich sehe, dass die westeuropäischen Staaten doppelt so viel wie Russland ausgeben, und wenn man dann noch weiß, dass jeder Angriff gegen ein anderes Land die drei- bis fünffache Schlagkraft erfordert, dann frage ich mich, wie jemand ernsthaft Angst hat, dass Russland die NATO hier in Europa angreifen sollte. Insofern hat dieses ganze Aufrüstungsgerede nichts mit realen Kräfteverhältnissen oder realen Erfordernissen zu tun. Es ist einfach der Einstieg in ein neues Wettrüsten. Da wird eine neue Blockkonfrontation aufgebaut, und die sollten wir verhindern.
▶ In den 1980er-Jahren, als der Kalte Krieg tobte und es im Kontext des Nato-Doppelbeschlusses ebenfalls um konkrete Aufrüstungsfragen ging, hat sich in Deutschland im Westen wie im Osten eine starke Friedensbewegung entwickelt. Derzeit ist die Friedensbewegung hierzulande eher noch dünn besetzt. Es gibt mal die eine oder andere größere Demonstration – gerade wird wieder eine vorbereitet - aber vieles schlummert noch vor sich hin. Welches Potenzial sehen Sie in der Friedensbewegung, und welche Rolle sollte die Linke dabei spielen?
Jan van Aken: Die Linke sollte dabei eine zentrale Rolle spielen, und das Potenzial ist da. Wobei man sagen muss, eine Friedensbewegung gibt es in Deutschland schon lange nicht mehr. Ich komme viel mit Vorträgen überall in Deutschland herum, auch in kleineren Städten.
Und egal, wie klein die Stadt ist, es gibt überall eine örtliche Friedensgruppe. Die machen ganz tolle Arbeit, gehen an die Schulen, wenn die Bundeswehr dahin will und so weiter und so fort. Aber eine Bewegung im Sinne von einer bundesweiten Vernetzung, die gemeinsam was bewegen könnte, sehe ich schon lange nicht mehr. Und darum muss es gehen, das wieder aufzubauen. Mit den allermeisten in diesen Friedensgruppen habe ich 1983 im Bonner Hofgarten gegen den Doppelbeschluss der Nato demonstriert.
Das ist also mehr so meine Generation, 60 plus. Und ich glaube, wir müssen es jetzt schaffen, auch die jüngeren Generationen wieder auf die Straße zu bringen für Abrüstung. Das ist unser Ziel. Wir als Rosa-Luxemburg-Stiftung bereiten gerade eine Kampagne zu einer globalen Abrüstung vor.
Das machen wir im internationalen Netzwerk mit sehr vielen anderen Organisationen in aller Welt. Dabei geht es darum, dass alle Länder gleichzeitig ihren Militärhaushalt um zehn Prozent verringern.
Dietmar Ringel sprach mit Jan van Aken. Er arbeitet derzeit für die Rosa-Luxemburg-Stiftung zu internationalen Konflikten und will im Herbst für den Bundesvorsitz der Linkspartei kandidieren. Sein Buch "Worte statt Waffen" ist bei Econ erschienen.