Janukowitsch verteidigen, Steuerhinterzieher jagen
Ukraine-Konflikt, Assange oder Gaza-Krieg: Die Briten haben Eier
Wikileaks, Ukraine-Krieg, Gaza-Krieg, internationale Steuerhinterziehung - in Großbritannien folgen Abgeordnete, Medien und Anwälte nicht den Direktriven von Think-Tanks aus Washington. Was auf dem Kontinent als neoliberaler Widerstand gegen die überreglementierte EU-Bürokratie interpretiert wird, ist oft Ausdruck einer Haltung, die schön britisch mit "They've got balls" bezeichnet werden könnte. Ein aktueller Ausflug in die Zivilcourage im Land der Erfindung der Menschenrechte, in dem das Parlament "House of Commons" heißt, was man auch mit "Haus der Gemeingüter" übersetzen könnte, und in dem abweichende Meinungen als Ausdruck von Charakter nicht nur respektiert, sondern in der breiten Öffentlichkeit gewürdigt werden.
Graham Aaronson besitzt einen Magister des Rechtes an der Trinity Hall in Cambridge und ist Mitglied des Queen's Counsel. Er gilt mit seiner Kanzlei Joseph Hage Aaronson LLP als einer der führenden Steueranwälte des Vereinigten Königreiches und klagte für seine Mandanten erfolgreich gegen EU-Recht. Seine Referenzliste führt den mutigen Zusatz "representing the successful taxpayers", wobei Aaronson sozusagen in Doppelfunktion agiert: Er verteidigt Unternehmen gegen ungerechtfertigte Steuern, erklärt aber auch in der Times, dass aggressive Steuervermeidungstricks "sein Blut kochen" ließen. Aaronson prophezeit gar Straßenunruhen, wenn die Steuerhinterziehung im großen Stil weitergehe.
Aaronson war Mitglied des Tax Law Reviewing Committees, einer Einrichtung, von der Außenstehende glauben mögen, sie sei inmitten der Londoner City und ihrer 17 Steueroasen, unter ihnen die beliebten Virgin Islands, Jersey, die Isle of Man und Guernsey, eine verfolgte oder unerwünschte Initiative. Tatsächlich wird in der britischen Oberschicht und im Parlament viel offener über Steuerhinterziehung und ihre Folgen debattiert als etwa in Deutschland.
Nun hat Aaronsons Kanzlei einen spektakulären Fall übernommen: Am 14. Mai reichte er beim Europäischen Gerichtshof eine Klage gegen die Beschlagnahmung des Vermögens des ukrainischen Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch sowie von dessen Söhne Wiktor und Olexandr ein.
Die Begründung hat es in sich. So sei die EU nur deshalb gegen Janukowitsch vorgegangen, um ihn als demokratisch gewählten Präsidenten absetzen und die EU-Anbindung durchsetzen zu können. Die Begründung wirft ein Licht auf die Politik der Sanktionen, die oft keiner rechtlichen Überprüfung standhalten. In der Klageschrift verlangen Aaronson LLP auch die Herausgabe aller Dokumente und Quellen, aufgrund derer seit dem 6. März 2014 Sanktionen gegen die Familie Janukowitsch verhängt wurden - ein geschickter Schachzug, handelt es sich doch nur um Verdächtigungen aus Geheimdienstkreisen und von den politischen Gegnern Janukowitsch, die aber kaum in einem Gerichtsverfahren standhalten werden.
Die hohe Kompetenz der Kanzlei stammt seit kurzem auch vom Aaaronson-Partner Paul Farmer, der selbst in hoher Funktion im europäischen Gerichtshof tätig war, dessen mutige Entscheidungen zunehmend auf Interesse in der demokratischen Öffentlichkeit stoßen. Sollte der Klage stattgegeben werden, könnten auch die Sanktionen gegen Wladimir Putin und andere russische Politiker als rechtswidrig verworfen werden - eine unerfreuliche Aussicht für die Falken in der US-Regierung und in einigen europäischen Staaten.
Staatsgast Julian Assange
Während die USA den Wikileaks-Informanten Bradley Manning zu fast lebenslanger Haft verurteilt haben, residiert Julian Assange seit Juni 2012 in der Botschaft von Ekuador. Das britische Königreich lässt sich den prominenten Gast einiges kosten: 11.000 britische Pfund pro Tag, so hat der Guardian jüngst ausgerechnet, kostet es, etwa drei Scotland-Yard-Mitarbeiter rund um die Uhr vor der Botschaft stehen zu lassen, um Assange beim Verlassen des Gebäudes im vornehmen Knightsbridge sofort festnehmen zu können.
Eine listige Begründung, denn die größte Gefahr für Assange liegt nicht in der Festnahme in Großbritannien, wo Öffentlichkeit und Bürger fast geschlossen hinter ihm stehen, sondern in seiner Entführung durch den amerikanischen Geheimdienst. Anders gesagt: Die inzwischen 6 Millionen Pfund werden für den Schutz von Assange aufgewandt, nicht für den Schutz des britischen Rechtsstaates gegen den gesuchten Verräter Assange.
Indes empfing Assange in der Botschaft unter anderem den US-Regisseur Oliver Stone, die Designerin Vivienne Westwood und Lady Gaga, aber auch den legendären spanischen Ankläger Balthazar Garzon und den italienischen Anti-Mafia-Enthüller Roberto Saviano.
Aber im Grunde ist es die schützende Hand von Vaughan Smith, dem britischen Philanthropen und klassischem Gentleman, die das britische Establishment dazu bringt, Assange als Staatsgast mit listigen Begründungen zu beherbergen. Der von Vaughan im mittelständischen Paddington gegründete Frontline Club in London hat in Deutschland schon deshalb kein Pendant, weil er ein eigenes Restaurant mit heimischen Spitzenprodukten betreibt. Der Frontline-Club ist Think-Tank und News-Börse britischer Investigativ-Journalisten, die sich keiner Zensur oder ideologischen "Redaktionslinie" beugen.
Vom 7. bis 10. August werden Journalisten des Clubs in einem Park des edlen Oxfordshire über den israelisch-palästinensischen Konflikt diskutieren. Bereits in der Ankündigung lässt sich ablesen, dass es dort nicht um einen Weltkrieg gegen den Islam, nicht um in Bunkern ausharrende israelische Familien geht, sondern um die, "die den höchsten Preis dafür zahlen, viele von ihnen Kinder".
Gaza-Morde in den Mainstream-Medien, Aufforderung von der Times
Während in Deutschland ein Demonstrationsverbot für antiisraelische Demonstrationen erwogen wird, während in der Bild-Zeitung nur davon berichtet wird, dass die Israelis in Bunker vor den Raketenangriffen der Hamas flüchten müssen (bisher 1 Toter, Gaza: 800), bringt die Boulevardzeitung Daily Mail Meldungen, die es in Deutschland in kein Medium schaffen würden.
So wird berichtet, Sniper der israelischen Armee hätte einen unbewaffneten Helfer zuerst verwundet und dann erschossen. 13.000 Facebook-Empfehlungen und 2600 Kommentare künden davon, dass derartige Ereignisse der britischen Öffentlichkeit nicht gleichgültig sind. Daily Mail verlinkt nicht nur das bisher in Deutschland nicht gezeigte Video, sondern veröffentlicht auch zahlreiche Fotos. Sie zeigen, dass Gaza Aleppo und Homs gleicht, die Angriffe der israelischen Armee also in einer wahllosen Zerstörung aller Gebäude und Infrastruktur bestehen.
Die Times, wahrlich nicht als pazifistisches Blatt bekannt, fordert im Leitartikel am 25. Juli 2014 eine sofortige Einstellung der Angriffe - und zwar durch Israel, nicht durch die Hamas. Auch den Bericht über den Angriff auf die Flüchtlinge in der UN-Schule (Gaza: Wenn der Krieg in die nächste Eskalation kippt) betitelt die Times mit "Massacre of families who took shelter in UN school". Die Süddeutsche titelte am 25.7. "Tödlicher Angriff auf Schule in Gaza". Bild dagegen: "Nie wieder Judenhass!"
Das Massaker wird gar nicht erst erwähnt. Stattdessen erfahren wir von Kai Diekmann:
Wer als Deutscher die Lehren und die Verantwortung aus dem Holocaust ernst nimmt, dessen Platz muss immer an der Seite Israels sein, wenn die Existenz des jüdischen Staates bedroht ist.
Fazit: Die Briten sehen die Auseinandersetzungen um amerikanische Kriegsverbrechen, wie sie Wikileaks veröffentlicht hat, den Ukraine-Konflikt und den Krieg in Gaza völlig ohne historische Scheuklappen. London beherbergt russische Exilanten mehrerer Regierungen ebenso wie den politischen Flüchtling Julian Assange. Selbst im internationalen Kampf um Steuern nehmen die Briten zunehmend die Haltung ein, Steuervermeidung sei sozial schädlich und deshalb abzuschaffen. In einer Studie ("A bit rich") der Londoner New Economic Foundation wurde gar ausgerechnet, dass der Steuerberater der für die Gemeinschaft am schädlichsten wirkende Beruf sei.
Graham Aaronson, der beste Steuerberater des Landes, scheint damit keine Schwierigkeiten zu haben. Er hat nämlich Eier.