Japans Corona-Management: zwischen Resilienz und falscher Sparsamkeit

Seite 2: Ein Vergleich der Gesundheitssysteme

Japan und Deutschland haben ähnliche Gesundheitsausgaben (11,04 Prozent respektive 11,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts), aber sie werden anders gewichtet. Das asiatische Inselreich verfügt mit 13 "normalen" Krankenhausbetten je 1000 Einwohner über die höchsten Kapazitäten weltweit, es sind fast doppelt so viele wie Deutschland.

Pro Spitalbett stehen in Japan aber nur 0,17 Mediziner zur Verfügung, während es in Deutschland 0,54 und in Österreich im Schnitt sogar 0,75 sind. Ähnlich verhält es sich beim Pflegepersonal. Dieses Verhältnis hatte zu massiven Engpässen in der Versorgung der Covid-19-Patienten im Sommer 2021 beigetragen und wird auch jetzt während der sich aufbäumenden Omikron-Welle zum Problem. In Tokio sind derzeit bereits über die Hälfte der für Covid-19-Patienten bereitgestellten Betten belegt.

Die hohe Bettenzahl ist dem Umstand geschuldet, dass das System der nachgeordneten Einrichtungen, von Rehabilitationszentren bis zu Geriatrie- oder Pflegeheimen oder der Hauskrankenpflege, im Vergleich zu Westeuropa unzureichend ausgebaut ist und deren Aufgaben Krankenhäuser stemmen müssen. Die durchschnittliche stationäre Aufenthaltsdauer japanischer Patienten gehört zu den weltweit längsten, weil Krankenhäuser gleichzeitig auch als Pflegeeinrichtungen bettlägerigen Menschen dienen. Das erklärt wieso Japans Puffer bei einer großen Infektionswelle gegenüber vielen anderen Industrienationen geringer ist.

Bis zum Infektions-Peak mit der Delta-Variante im August 2021 wurden fast alle Patienten mit Symptomen in Krankenhäusern behandelt und blieben dort auch, als sie nicht mehr infektiös waren. Dadurch blockierten sie die Betten für andere schwerer erkrankte Patienten.

Das lag an der mangelnden Kooperation zwischen den Krankenhäusern, die anderenfalls eine rasche Verlagerung erlaubt hätte, aber auch an der schwerfälligen Bürokratie. Angesichts der dramatischen Lage entschied die Regierung unter dem damaligen Premierminister Suga Yoshihide, leicht bis moderat Erkrankte die Infektion zu Hause oder in angemieteten Hotels aussitzen zu lassen, was im August des Vorjahres japanweit zu 250 (allein in Tokio zu über 20) Todesfällen in der Heimquarantäne geführt hat.

Nebenbei bemerkt besiegelte Suga mit dieser Entscheidung seinen politischen Abgang. Geplante Operationen und Behandlungen mussten ausgesetzt werden – in manchen Präfekturen wurde sogar akut lebensbedrohlich erkrankten Patienten die Aufnahme in Hospitäler verwehrt.

Ärztliche Hausbesuche oder ein präklinisches Notarztsystem waren vor der Pandemie keine Selbstverständlichkeit und – je nach Präfektur – nur teilweise von der Krankenversicherung abgedeckt. Der mobile Ärztedienst (etwa mit dem Ärztlichen Bereitschaftsdienst vergleichbar) ist in privater Hand und steht meist nur an ein bestimmtes Krankenhaus angebundenen Patienten zur Verfügung.

Es war kaum möglich, das System angesichts steigender Zahlen an schwer Erkrankten personell rasch aufzustocken. Es gab Berichte von Patienten in Rettungswägen, die von mehreren Tokioter Krankenhäusern abgelehnt wurden – ein Erkrankter, der eine solche Tour nicht überlebte, kam zuvor auf ganze 30 Spitäler, weitere abgelehnte Patienten mussten in andere Präfekturen überführt werden.

Die Regierung appellierte an die Kliniken, mehr Betten zur Verfügung zu stellen, ein Appell, der bei den Betreibern größtenteils auf taube Ohren stieß. Denn über 80 Prozent der Krankenhäuser befinden sich in privater Hand. Wohl aus monetären Gründen und aus Angst vor Imageverlust folgten nur ganz wenige von ihnen den Apellen der Tokioter Bürgermeisterin Koike Yuriko und des Regierungschefs Suga, während das Gros der Patienten von den personell oft unterbesetzten öffentlichen Einrichtungen aufgenommen werden musste.

Drei der 14 städtischen Krankenhäuser wurden in reine Covid-19-Spitäler umgewandelt. Selbst öffentliche Spitäler, wie etwa jene der Japan Community Health Care Organization (JCHO), die eigens dafür ausgerichtet waren, auf unerwartete Gesundheitskrisen, wie eine Viruspandemie, zu reagieren, kamen der Bitte der Regierung unzureichend nach.

Mit etwa einem Prozent der Patienten, die bei einer Covid-19-Infektion eine künstliche Beatmung benötigen, stießen Intensivstationen rasch an ihre Kapazitätsgrenzen. Die Sommerwelle ebbte zwar rasch wieder ab, aber angesichts der sechsten Welle mit dem Omikron-Stamm wurde dieses Problem bislang nicht angegangen-Yushoukai Medical, einer der größten Hauskrankenpflege-Betreiber Japans musste Gelder über Crowdfunding aufbringen, um Ressourcen aufzubauen.

Die mobilen Pflegedienste sind meist kleine Firmen, die nur wenig medizinisches Personal beschäftigen, das zudem diese Arbeit neben dem eigenen Hauptberuf im Krankenhaus ausübt. Die Hauskrankenpflegeverbände kritisieren, dass die Regierung noch immer keine Richtlinien zur Behandlung von Covid-19-Patienten ausgearbeitet hat und diese Einrichtungen auf sich allein gestellt sind.

Als Lösungsansatz wurden in Quarantänehotels einiger Städte versuchsweise ärztliche Praxen eingerichtet, wo Sauerstoff gegeben und neue Therapien wie Antikörper-Cocktails für leichter erkrankte Patienten mit Vorerkrankungen unter ärztlicher Observanz intravenös verabreicht werden.

Strenges Grenzregime

Während sich Japan als Inselstaat weitgehend abschottet, die meisten Ausländer an der Einreise hindert und die wenigen, die es ins Land geschafft haben, zu einer streng überwachten Quarantäne in Hotels verdonnert, war es in Europa mit Ausnahme kurzer Unterbrechung möglich, sich relativ frei zwischen den Staaten zu bewegen. Für viele war die Aussicht auf eine Ferienreise der Hauptgrund, sich impfen zu lassen – aus japanischer Sicht ein Kuriosum.

Auch ausländische Arbeitskräfte konnten zwischen der alten und neuen Heimat relativ frei hin- und herpendeln. Der "Covid-Pass" wurde an den Grenzen nur sporadisch kontrolliert. Das erleichterte die Ausbreitung von Infektionen. Allerdings blieb das Ziel der japanischen Behörden, durch das strenge Grenzregime das Übergreifen der Virusvarianten nach Japan zu verhindern, illusorisch. Sowohl im Falle der Delta-Variante als auch bei Omikron stiegen die Infektionszahlen explosionsartig.

Testen oder nicht testen?

In Deutschland wurden seit dem letzten Sommer täglich zwischen 150.000 und 250.000 Corona-Tests durchgeführt. Seit dem Omikron-Ausbruch hat sich die Zahl der Tests beinahe verdoppelt. Im Vergleich dazu waren es in Japan, bei einer etwa eineinhalbmal größeren Bevölkerung, gerade mal rund 50.000 PCR-Tests am Tag, zuletzt stieg ihre Zahl auf bis zu 220.000 und erreichte damit die Kapazitätsgrenzen des Testsystems. Noch krasser war der Unterschied zum 14-mal kleineren Österreich, wo tagtäglich bis zu 800.000 Tests durchgeführt werden.

Zum Test zugelassen werden in Japan nur Personen mit hohem Fieber, nach Auslandsreisen oder nach Kontakt mit bestätigten Covid-19-Fällen bzw. mit einer schweren Lungenerkrankung, die eine Hospitalisierung erfordert. Erst Ende Dezember 2021 wurden in Großstädten Teststraßen errichtet, wo sich jeder nach Voranmeldung kostenlos testen lassen kann. Die Wartezeit dauert derzeit mehrere Tage. Bislang ging es einzig darum, Personen mit Symptomen sowie Infektions-Cluster zu identifizieren.

In Ermangelung von Testmöglichkeiten wurden in Spitälern zunächst oft nur Lungen-CTs zur Diagnose herbeigezogen oder Personen mit Fieber auf Verdacht als Covid-Verdachtsfälle klassifiziert. Das Gesundheitsministerium begründete die niedrige Zahl der Untersuchungen mit der "Ermessensfreiheit der Ärzte". Die japanische Ärztekammer befragte Anfang 2021 dazu Mediziner und 290 von ihnen gaben an, dass angeforderte Corona-Tests von den Gesundheitsbehörden abgelehnt worden wären. Sie seien angewiesen worden, die Symptome der Lungenentzündungen "weiterhin zu beobachten".

Die Studie der Ärztekammer ergab, dass das Bezirkssystem mit den Aufgaben schlichtweg überfordert war. Demnach lag es weniger am Unwillen der Behörden als an einer starren und hierarchischen Bürokratie, die mit einer ineffizienten und veralteten Kommunikationsinfrastruktur ausgestattet nicht im Stande war, Testkapazitäten zu erweitern.

Was bislang von zahlreichen Experten, auch von der WHO, als großes Handicap in Japan identifiziert und bemängelt wurde, wird retrospektiv weniger kritisch betrachtet. Nicht ganz ohne Häme jubeln japanische Kommentatoren über den japanischen Weg der Pandemiebekämpfung, der sich im Vergleich zu Europa oder den USA bisher als erfolgreicher erwiesen hätte.

Prof. Nishimura Hidekazu vom Sendai Virus Research Center, einer der führenden Virologen des Landes, bezeichnete im Gespräch mit dem Autor die bevölkerungsweite Teststrategie in vielen Ländern als nicht zielführend. Die Tests seien nicht standardisiert, die Qualität des Abstrichs nicht überprüfbar. Er argumentiert, die Geräte müssten von einem erfahrenen Personal bedient werden, das es in dem Ausmaß in Japan nicht gäbe.

Falsch negative Ergebnisse oder unverlässliche CT-Werte würden die Patienten in falscher Sicherheit wiegen und zum riskanten Verhalten verleiten. Gleichzeitig verschließt er sich nicht vor der Kritik, dass in Japan zu wenig getestet werde und er fordert eine "vernünftige Balance zwischen dem Notwendigen und dem Machbaren".

In Japan verweist man auch auf negative Erfahrungen mit Massentests gegen Influenza in der Vergangenheit. Während der Grippesaison hatten japanische Ärzte in der Vergangenheit bei jedem Influenza-Verdachtsfall einen Schnelltest durchgeführt.

Patienten entwickelten in der Folge eine Erwartungshaltung, bei jeder viralen Infektion einen relativ kostspieligen Schnelltest zu bekommen. Das mag einer der Mitgründe gewesen sein, weshalb die japanischen Behörden beim Ausrollen des Gratis-Corona-Testsystems so zögerlich blieben.

Die Idee hinter der österreichischen Strategie schien plausibel: mit einem breiten und niederschwelligen Testangebot könne man neben manifest Erkrankten auch möglichst viele asymptomatische Virusträger frühzeitig erkennen und isolieren. Man würde damit die Infektionszahlen unter Kontrolle bekommen, ohne neuerliche Lockdowns verhängen zu müssen.

Geschätzt wird, dass rund 40 Prozent der Corona-Infektionen ohne Symptome und die meisten mit nur leichten Beschwerden ablaufen. Somit bedeuten viele Tests auch, dass entsprechend viele symptomlose Infektionen gefunden werden.

Nur ging diese Rechnung nicht ganz auf: im Vergleich zu Deutschland und der Schweiz – beides Länder, wo zwar mehr als in Japan, aber wesentlich weniger als in Österreich getestet wird – konnte in Österreich die Zahl der Intensivpatienten und der Todesfälle im Vergleich zu den Nachbarländern nicht gesenkt werden.

Der Kulturkampf ums Impfen

Vor dem Bahnhof in Sendai, einer Millionenstadt im Norden Japans, verteilen junge Menschen mit Mundschutz und Einweghandschuhen Flugblätter an die eilig vorbei schreitenden Passanten. Ein Mann, ausgestattet mit einer handgeschriebenen Tafel, auf der in Japanisch und Englisch "Corona = Lüge" steht, spricht übers Megaphon.

Die Gruppe ist aus dem rund 400 Kilometer entfernten Tokio eigens für diese Demonstration angereist. Es sind kaum mehr als zehn Menschen, sie sind freundlich, verneigen und bedanken sich bei jedem, der ihnen ein Flugblatt abnimmt. Auch Japan hat seine Corona-Skeptiker und Impfgegner. Diese Aktivitäten bleiben aber, anders als in Europa, fast nur auf Internet-Foren beschränkt.

Der Gruppendruck in dieser stark kollektivistisch organisierten Gesellschaft bewirkt, dass sich selbst Impfunwillige letzten Endes ihren Stich holen. Bedingt durch die langen Arbeitszeiten taten sich viele Berufstätige schwer, Impfzentren aufzusuchen. Hierbei hat sich die Einbindung der betriebsärztlichen Praxen und der Vorsorgeeinrichtungen als sehr wirkungsvoll erwiesen.

In Deutschland, Österreich und der Schweiz wurden bisher nur knapp 75 Prozent der Menschen mindesten einmal immunisiert. Der Schweizer Soziologe Oliver Nachtwey sprach in einem Interview für den österreichischen Standard von einer langen Tradition antiautoritärer Bewegungen in den deutschsprachigen Ländern, angefangen von den Studentenprotesten von 1968.

In diesem Milieu werde das Impfen als autoritärer Eingriff des Staates abgelehnt. Von diesen Gruppen – es sind auch viele gebildete Menschen dabei – gehe eine starke Wissenschaftsfeindlichkeit- oder Kritik aus. Ein weiterer Faktor sei die Etablierung starker rechtspopulistischer Parteien. So werden regelmäßig Corona-Demonstrationen gegen Impfen, Maskenpflicht und Lockdowns organisiert, wo alternative und rechtsextreme Gruppen gemeinsam auftreten.

Im Unterschied zu Japan, wo sich die Menschen sogar bei sehr niedrigen Corona-Zahlen an die Empfehlung zum Maskentragen auch im Freien, zur sozialen Distanzierung und zum freiwilligem Reiseverzicht strikt halten, neigen Europäer dazu, nach jedem Ende des Lockdowns in gewohnte Alltagsmuster zurückzufallen.

In Japan kommen "kulturimmanente" Züge der Gesellschaft hinzu, wie das traditionelle Abstandhalten, die hohen Hygienestandards und das bedingungslose Befolgen der Anweisungen der Behörden. Das Tragen des Mundschutzes war auch schon vor der Pandemie, vor allem in der kalten Jahreszeit und in der Pollen-Saison üblich und wurde folglich nicht zu einem ideologischen Glaubenskrieg hochstilisiert.

Die Aufgabe der eigenen Interessen für das Wohl der Gemeinschaft stand und steht außer Frage. Möglicherweise ist die japanische Gesellschaft aufgrund ihrer Erfahrungen mit Naturkatastrophen wie Erdbeben, Tsunamis und Taifunen insgesamt resilienter gegenüber Großkrisen, als es im Westen der Fall ist.

In seinem Buch "Die resiliente Gesellschaft" schreibt der Princeton-Ökonom Markus Brunnermeier, Resilienz sei "der Polarstern, der bei der Gestaltung einer Post-Corona-Gesellschaft der Orientierung dienlich sein kann". Japan setzte bei der Bekämpfung der Pandemie, ähnlich wie Südkorea, statt auf Zwang mehr auf soziale Normen, argumentiert der Autor.

Sparen an der falschen Stelle

In Japan zeigte sich, dass selbst eine relativ niedrige Zahl an Covid-19 erkrankten Patienten das Gesundheitssystem an den Rand des Kollapses führen kann. Durch Einsparungen, vor allem durch Privatisierungen im Gesundheitssektor, infolge des Rückzug des Staates aus der Gesundheitsversorgung seit den 1990er-Jahren und der daraus resultierenden mangelnden Kooperation zwischen den Privatspitälern, ist ein gefährlicher Engpass in der Versorgung entstanden.

Wie dieser Vergleich zeigt können zwei so unterschiedliche Staaten wie Japan und Deutschland einiges voneinander lernen. Ein gut funktionierendes System der Krankheitsprävention und eine gute Bevölkerungsgesundheit, basierend auf einer gesunden und ausgewogenen Ernährung, sowie Aktivität bis ins hohe Alter, wie sie in Japan praktiziert werden, können dabei helfen, künftige Pandemien besser unter Kontrolle zu halten.

Andererseits ist ein gut ausgebautes und effizientes Gesundheitssystem mit ausreichend ärztlichem Personal und Pflegekräften notwendig, um in Krisenzeiten adäquat zu reagieren. Vor und auch nach der Pandemie gilt: Sparen im Gesundheitssystem ist Sparen am falschen Ort.

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