Japans Corona Zickzack-Kurs

Seite 2: Tradition der physischen Distanzierung

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Japans Experten und Politiker spekulierten in den Medien über mögliche Ursachen der niedrigen Fallzahlen, darunter über das in der Kultur des Landes verankerte natürliche Abstandhalten. Dies erschien durchaus plausibel. In zahlreichen Blogs und Artikeln wurden, nicht ohne Stolz und der Betonung der eigenen Einzigartigkeit nationale Eigenheiten debattiert.

Mund-Nasen-Schutz wird das ganze Jahr über, vor allem aber in der kalten Jahreszeit und in der Pollen-Saison, von einem bedeutenden Teil der Bevölkerung getragen. Nicht, um sich selbst zu schützen, sondern aus Rücksicht auf andere. Auch ist körperliche Nähe der japanischen Kultur fremd. Händeschütteln, Wangenküsse, Umarmungen, selbst mit nahestehenden Personen und Familienangehörigen, sind verpönt, die Begrüßung erfolgt auf Distanz und durch eine Verneigung. Weitere Faktoren sind das Ausziehen von Schuhen in geschlossenen Räumen, saubere öffentliche Toiletten, die sprichwörtliche Reinlichkeit der japanischen Bevölkerung, Telefonierverbote in öffentlichen Verkehrsmitteln, wie auch die generelle Wortkargheit der Japaner, die im öffentlichen Raum zur Etikette gehört.

Der Infektiologe Kentarō Iwata möchte allerdings die Ursachen nicht an der Kultur der Japaner festmachen: "Kultur hin oder her, wenn man nicht wachsam bleibt, wird man bald mit einer großen Ausbreitung (des Virus) konfrontiert werden", sagte er in einem Interview.

Tatsächlich scheint die Distanzierung nur ein Teil der Wahrheit zu sein. Die japanische Gesellschaft strebt nach Konformität und Anpassung. Ein gängiges Sprichwort besagt: "Der herausstehende Nagel wird eingeschlagen." Stigmatisierung und Benachteiligung durch Anderssein gehören zum Alltag. Personen mit COVID-19-Symptomen scheuen die Testung auf das SARS-Coronavirus aus Angst, anderen Menschen dadurch Probleme zu bereiten. Man will nicht schuldig sein an Werkschließungen, an Quarantäne von Mitarbeitern oder an einem schlechten Image der eigenen Firma.

Japaner neigen dazu, die Ursachen für gesundheitliche Probleme zunächst bei sich selbst zu suchen. Das ist Teil der sogenannten "Schamkultur" als Reaktion auf Kritik und Bloßstellung. Allein ein Coronavirus-Abstrich, ob positiv oder negativ, könnte demnach den Verdacht erwecken, etwas falsch gemacht zu haben. Stigmatisierung und sozialer Ausschluss von Menschen nach Tuberkulose oder Lepra-Infektionen, von Atomüberlebenden von Hiroshima und Nagasaki, aber auch von Aussiedlern aus der Umgebung des havarierten Atommeilers von Fukushima Daichi, sind nur einige Beispiele für die weit verbreitete Diskriminierung von vermeintlich Kranken. Diese Menschen und ihre Nachkommen gelten als "unrein".

Japanische Medien berichten bereits über Krankenschwestern aus COVID-19-Spitälern und sogar ihren Verwandten, deren Kindern der Zutritt zu Kindergärten verwehrt wurde. Genesene COVID-19-Patienten, die von ihren Erfahrungen im Fernsehen berichten, werden verpixelt, ihre Stimme verfremdet.

Niedrige Testzahlen

Der Hauptgrund für die offiziell niedrigen Infektionszahlen in Japan sind wohl die im internationalen Vergleich sehr niedrigen Testzahlen. Zum Test zugelassen werden lediglich Menschen mit hohem Fieber über einen Zeitraum von mindestens vier Tagen, Personen nach Auslandsreisen oder nach einem Kontakt mit bestätigten COVID-19-Fällen bzw. mit einer schweren Lungenerkrankung, die eine Hospitalisierung erfordert.

Es besteht wenig Bedarf an der Kenntnis von annährend wahren Infektionszahlen, der Begriff Dunkelziffer fiel in öffentlichen Debatten bisher kaum. Es ging bislang nur darum, Personen mit Symptomen zu behandeln, und Infektionsherde, sogenannte Cluster, zu identifizieren. In Ermangelung von Testmöglichkeiten wurden in Spitälern oft nur Lungen-CTs zur Diagnose herbeigezogen. Die solcherart getesteten Patienten wurden auf Verdacht einer COVID-19-Erkrankung behandelt, ohne dass sie in der Statistik aufschienen.

Die Kapazitäten des 120 Millionen Einwohner zählenden Staates betrugen Mitte März 7500 Tests pro Tag. Tatsächlich wurden aber im Schnitt bei weniger als 1200 Menschen pro Tag Virus-Abstriche abgenommen. Das nur halb so große Südkorea testete 20.000 Menschen täglich. Mit nur einem Test je 1000 Einwohner wurden in Japan 25 Mal weniger Personen als in Deutschland gescreent.

Das Gesundheitsministerium begründete die niedrige Zahl der Untersuchungen mit der "Ermessensfreiheit der Ärzte". Die japanische Ärztekammer befragte dazu Mediziner und 290 von ihnen gaben an, dass angeforderte Corona-Tests von den Gesundheitsbehörden abgelehnt worden wären. Sie seien angewiesen worden, die Symptome der Lungenentzündungen "weiterhin zu beobachten". Die Studie der Ärztekammer ergab, dass das Bezirkssystem mit den Aufgaben schlichtweg überfordert war. Demnach lag es weniger am Unwillen der Behörden, als an der starren und hierarchisch aufgebauten Verwaltung, die ineffizient arbeitet und mit veralteter Kommunikationsinfrastruktur ausgestattet ist. So müssen etwa die Testanforderungen vielerorts aufwendig per Hand ausgefüllt und an zuständige Gesundheitsbehörden gefaxt werden.

Am 16. April appellierten die Spitäler Kyotos an die Regierung, die Corona-Testung auf asymptomatische Patienten auszuweiten, um das Krankenhauspersonal vor Übertragungen zu schützen. Dass dies dringend notwendig ist, zeigen die Zahlen der Keio Universitätsklinik in Tokio. Dort wurden asymptomatische Patienten, die für geplante Eingriffe, oder Schwangere, die zur Entbindung aufgenommen wurden, auf SARS-Coronaviren gescreent. In dieser Gruppe testeten ca. sechs Prozent positiv, was zugleich Rückschlüsse auf die Dunkelziffer der Infektionen im Großraum Tokio erlaubt.

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