Japans Corona Zickzack-Kurs

Seite 4: Ein Déjà-vu?

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In wohl kaum einem anderen OECD-Staat üben diverse Industrielobbys einen so starken Einfluss auf die Politik aus wie in Japan. Ähnlich wie nach der Tsunami-Katastrophe von 2011, als Energieunternehmen trotz Strahlenbelastung und unermesslichen finanziellen Kosten und menschlichen Opfern eine Abkehr von Atomkraft verunmöglichten, sah sich auch diesmal der Premierminister dem Druck der Wirtschaftsbosse und Sponsoren ausgesetzt, die Olympischen Spiele um jeden Preis auszutragen.

Shinzo Abe hat ein Naheverhältnis zur Keidanren, dem "Verband der Japanischen Wirtschaftsorganisationen." Seine Partei, die LDP, lenkt seit 60 Jahren nahezu ununterbrochen die Geschicke des Landes. Auf das Konto der LDP geht ein System von wechselseitigen Abhängigkeiten der Bürokraten, der Industrie- und Baulobby und der Politik. Angesichts des internationalen Drucks und nachdem immer mehr Staaten ihre Teilnahme absagten, sah sich die Abe-Administration Ende März gezwungen, die Olympischen Spiele zu verschieben. Plötzlich begannen die Infektionszahlen rascher anzusteigen und in den Aussagen der Politiker klang Dringlichkeit durch. Hamsterkäufe nahmen zu und auch die Opposition begann, an Abe Kritik zu üben, dass diesem die Olympiade wichtiger wäre als die Gesundheit der Japaner.

Bei seinen zögerlichen Entscheidungen erschien der Regierungschef zwischen den Interessen der Industrie und der Olympia-Sponsoren hin und hergerissen zu sein. Die Regierung sandte widersprüchliche Botschaften aus. Erst am 7. April verkündete Shinzo Abe den Ausnahmezustand über die Metropolen Tokio und Osaka, dabei bestimmte er: "Wir werden die Städte nicht lahmlegen."

Der Premierminister ließ an alle japanischen Haushalte jeweils zwei wiederverwendbare Gesichtsmasken verschicken, was ihm sogleich viel Hohn einbrachte. Die Aktion war teuer und schlecht vorbereitet. Die Verteilung der Abenomasks, wie der Mund- und Nasenschutz in Anlehnung an seine als Abenomics bezeichnete Wirtschaftspolitik getauft wurden, wurde zum PR-Desaster. Sie waren oft fehlerhaft, verschmutzt oder schimmelig.

Zu Abes größter Kritikerin und Gegnerin erwuchs ausgerechnet jene Politikerin, die einst seine Mitstreiterin und Ministerin der regierenden LDP gewesen war, Tokios Bürgermeisterin Yuriko Koike. Entgegen den laschen Empfehlungen der Zentralregierung, forderte sie die Bürger ihrer Stadt auf, für zwei Wochen strikt zu Hause zu bleiben und das Haus nur für dringende Besorgungen zu verlassen. Und sie appellierte an Abe, den Notstand zu verhängen.

Zwar gab der Premierminister dann schließlich nach, von der Schließung ausgespart blieben jedoch Baumärkte, Restaurants, Kosmetik- und Friseursalons. Der Gouverneurin bleiben die Hände gebunden. Sie kann letztlich nur Empfehlungen aussprechen und darf die Menschen für das Nichtbefolgen der Maßnahmen nicht sanktionieren. So trotzen viele Betreiber von Bars und Spielsalons der Verordnung und lassen etwa ihre Pachinko-Spielhallen weiterhin offen.

Bei Überlegungen zur Eindämmung der Infektionen spielt ein weiterer landesspezifischer Aspekt eine nicht minder unbedeutende Rolle: Japans Arbeits- und Beschäftigungskultur. Der Konfuzianismus fordert Loyalität und Gehorsam gegenüber einer strikten Hierarchie, auf Ebene des Staates, der Gesellschaft oder gegenüber der eigenen Firma. Andererseits fühlen sich auch die Unternehmen dazu verpflichtet, ihre Angestellten um jeden Preis in Beschäftigung zu halten.

Für die Regierung wäre es ein schier unvorstellbarer Gesichtsverlust, vorsätzlich Arbeitslosigkeit erzeugen zu müssen. Kurzarbeit, Arbeitslosengeld oder finanzielle Handouts sind nicht nur gesellschaftlich geächtet - dem japanischen Staat, der mit 237 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verschuldet ist, fehlt es dazu schlichtweg an finanziellen Mitteln. Bei einem Lockdown, wie ihn die meisten europäischen Staaten vorlebten, müsste die Regierung Japans Transferzahlungen an die betroffenen Arbeitnehmer leisten. Als der Journalist und Talkmaster Soichiro Tawara Premierminister Abe nach den Gründen für eine diesbezügliche Verweigerungshaltung seiner Regierung fragte, antwortete jener, dass alle seine Minister dagegen gestimmt hätten. Ein Lockdown wäre nicht finanzierbar und hätte zu viele Bürger in den Selbstmord getrieben.

Nun rächt sich die zögerliche Haltung der Regierung. Viele Tokioter Spitäler sind bereits an ihre Kapazitätsgrenzen angelangt, Berichte vom überforderten Pflegepersonal, das den Krankenhäusern den Rücken kehrt, mehren sich. Das Land hat zwar nach wie vor die höchste Anzahl an Krankenhausbetten pro Einwohner - bei der Zahl von Ärzten und von Intensivbetten hinkt Japan nach Jahren des Sparens anderen Industrienationen jedoch nach. Je 100.000 Einwohner gibt es nur fünf Betten auf den Intensivstationen, halb so viele wie in Italien bzw. nur ein Sechstel der deutschen Kennzahl.

Die landesspezifischen Merkmale, wie etwa hohe Hygienestandards und eine gute Volksgesundheit könnten Japan, dem organisatorischen Chaos zum Trotz, vor Zuständen wie in den USA oder Großbritannien bewahren - laut offiziellen Zahlen sind in Japan bisher etwas über 15.000 Menschen am COVID-19 erkrankt und nur rund 540 verstorben. Dennoch entblößt die Corona-Krise, wie zuvor bereits die Dreifachkatastrophe von 2011, die Schwächen der Japan Inc., eines mächtigen Wirtschafts- und Politnetzwerkes, welches das Wohlergehen der Industrie vor dem Wohl des Einzelnen stellt.

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