Jelzins Sturm auf das Weiße Haus
- Jelzins Sturm auf das Weiße Haus
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Vor 25 Jahre starben hunderte Menschen in den Straßenkämpfen Moskaus und dem Beschuss des russischen Parlaments. Das National Security Archiv veröffentlicht hierzu Dokumente der US-Regierung
Die Verfassungskrise von 1993, die zu Straßenschlachten in Moskau und dem Befehl des Präsidenten Boris Jelzin führte, Panzer auf das Parlament des russischen Staates schießen zu lassen, ist ein Ereignis, das im Westen erstaunlich wenig bekannt ist, während es in Russland eine gravierende Zäsur in der eigenen Geschichte bildet. Die offiziellen Opferzahlen belaufen sich auf 187 Tote sowie 437 Verletzte. Inoffizielle Angaben liegen deutlich höher. Das National Security Archiv der George Washington Universität (Washington) hat nun eine Reihe von Dokumenten der US-Regierung veröffentlicht, die ein schärferes Licht auf die Rolle der USA in der größten Staatskrise Russlands seit dem Zerfall der Sowjetunion werfen.
Die Geschichte beginnt mit einem Schock. Im Verlauf des Jahres 1990 hatte sich der Jubel über die Deutsche Wiedervereinigung in der Welt und die Dankbarkeit für den sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow schon etwas gelegt. Gorbatschow stand hingegen vor einem Land, das wirtschaftlich in die Knie ging und sich auflöste. In dieser Lage veröffentlichte "The Economist" am 22. Dezember 1990 einen Wirtschaftsrat an die Sowjetunion und forderte den sowjetischen Präsidenten auf, als "starker Mann" zu regieren und "den Widerstand zu zerschlagen, der eine ernsthafte Wirtschaftsreform blockiert". Ein Kapitel des Artikels war sogar mit "Michail Sergejewitsch Pinochet?" überschrieben. Dort ahnte der Autor, dass eine Durchsetzung der gewünschten Wirtschaftsreformen in der Sowjetunion "möglicherweise Blutvergießen" bedeuten würde.
Als Gorbatschow im Juli 1991 zum G7-Treffen eintraf, erwartete ihn kein Marshallplan und auch keine Wirtschaftshilfe, sondern es gab konkrete Forderungen. Erst wenn die Sowjetunion bewiesen hätte, dass sie es mit ihren Wirtschaftsreformen ernst meine, würden die USA Wirtschaftskredite gewähren, so die kompromisslose Haltung des US-Präsident George Bush Sr., die die anderen G7-Chefs teilten. Später schrieb Gorbatschow über den Gipfel: "Ihre Vorschläge für das Tempo und die Methoden des Übergangs waren erstaunlich."
Ohne Wissen des sowjetischen Präsidenten erklärten dann am 8. Dezember 1991 Boris Jelzin, Präsident der Teilrepublik Russland, und seine Amtskollegen aus der Ukraine und Weißrussland die Auflösung der Sowjetunion. Diese wurde am 22. Dezember tatsächlich vollzogen.
Die Wirtschaftsreformer um den Harvard-Ökonomen Jeffrey Sachs warteten nur eine Woche, bis sie ihr wirtschaftliches Schocktherapieprogramm unter der Regierung Jelzins starteten. Es sah neben einer Freihandelspolitik auch die erste Phase einer schnellen Privatisierung von rund 225.000 Staats-Unternehmen vor.
Ein Schock zeigt Wirkung
Ende 1991 machte der russisch Präsident Jelzin dem Parlament den Vorschlag, ihm ein Jahr lang Sonderbefugnisse einzuräumen, damit er Gesetze dekretieren lassen konnte, ohne diese im Parlament abstimmen lassen zu müssen. Innerhalb von "sechs bis acht Monaten" wäre die Wirtschaftskrise überwunden.
Jelzin sollte sich täuschen.
Der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz, der zu dieser Zeit als Chefökonom an der Weltbank arbeitete, beschrieb später die Folgen der Schocktherapie: "Die sofortige Freigabe der Preise löste erwartungsgemäß Hyperinflation aus. In der Ukraine stiegen die Preise um 3300 Prozent jährlich. Mit restriktiver Geld- und Kreditpolitik (hohen Zinsen bei geringem Kreditangebot) und fiskalischer Austerität (eiserne Sparpolitik der öffentlichen Hand) wollte man die Hyperinflation bekämpfen, tatsächlich würgte man damit auch die Wirtschaft ab, die daraufhin in eine tiefe Rezession und Depression abglitt. Unterdessen wurde Volksvermögen im Wert von Hunderten von Milliarden Dollar verscherbelt, mit der Folge, dass eine neue Klasse von Oligarchen entstand."
Darüber hinaus verringerte sich von 1991 bis 1994 die Lebenserwartung in Russland um fünf Jahre. Mit 57 Jahren war die durchschnittliche Lebenserwartung die niedrigste in allen Industriestaaten. Die Sachbuchautorin Naomi Klein beschreibt: "Nach nur einem Jahr hatte die Schocktherapie einen verheerenden Tribut gefordert: Millionen Russen aus der Mittelschicht hatten mit der Wertminderung des Rubels ihre Lebensersparnisse verloren, und aufgrund abrupter Subventionskürzungen erhielten Millionen von Arbeitern monatelang keinen Lohn. Der durchschnittliche Russe konsumierte 1992 40 Prozent weniger als 1991, und ein Drittel der Bevölkerung rutschte unter die Armutsgrenze ab."
Aber nicht alle Menschen litten unter der Situation. Naomi Klein zitiert das "Wall Street Journal": "Suchen Sie nach einer Investitionsmöglichkeit, die in drei Jahren 2000 Prozent abwerfen kann? Nur ein Aktienmarkt bietet diese Aussicht - Russland."
Den meisten Russen blieb neben der Armut nur der Humor. So lautet ein bekannter Witz: "Alles, was die Sowjets uns über den Kommunismus erzählt haben, war eine Lüge. Was sie uns über den Kapitalismus erzählt haben, war aber leider alles wahr." Oder: "Was hat Jelzin in einem Jahr erreicht, was früherer Präsidenten der Sowjetunion in 70 Jahren nicht geschafft haben? Er lässt den Kommunismus gut aussehen."
Kooperation unter Freunden
Das gute Verhältnis und die enge Kooperation zwischen dem russischen und dem neuen US-amerikanischen Präsidenten ist aus heutiger Perspektive beeindruckend. Kurz nach seinem Amtsantritt rief Bill Clinton Bors Jelzin an. Clinton stellte seine außenpolitischen Zielsetzungen dar und betonte, dass "Russland während meiner Amtszeit eine der obersten Prioritäten der US-Außenpolitik sein" würde. Er sei entschlossen, "eine möglichst enge Partnerschaft zwischen den USA und Russland aufzubauen" und "alles zu tun, was in unserer Macht steht, um die demokratischen Reformen Russlands zum Erfolg zu führen."
Auch bei ihrem ersten Gipfel im April 1993 klang es brüderlich. Clinton betonte: "Herr Präsident, unsere Nation wird nicht am Rande stehen, wenn es um die Demokratie in Russland geht. Wir wissen, wo wir stehen. Wir sind mit der russischen Demokratie. Wir sind mit den russischen Reformen. Wir sind mit den russischen Märkten. Wir unterstützen die Gewissensfreiheit, die Meinungs- und Religionsfreiheit. Wir unterstützen die Achtung ethnischer Minderheiten. Wir unterstützen aktiv Reformen und Reformer und Sie in Russland."
Bereits im Juli 1993 führten die USA und Russland erfolgreiche Verhandlungen über zahlreiche wichtige Themen: über die Lösung für die ukrainischen Atomwaffen, den Kernwaffenteststopp-Vertrag, die Nichtverbreitung und Begrenzung des russischen Verkaufs von Reaktoren, Raketen und U-Booten an den Iran und Indien, die Friedenssicherung in Georgien und Bergkarabach oder den Abzug der russischen Truppen aus dem Baltikum.
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