Jelzins Sturm auf das Weiße Haus
Seite 3: Ein Präsident stürmt das Parlament
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Am 4. Oktober umstellte die russische Armee bei Sonnenaufgang das Parlamentsgebäude. Um 8:00 Uhr Moskauer Zeit wurde Jelzins Erklärung von seinem Pressedienst bekannt gegeben: "Diejenigen, die sich gegen die friedliche Stadt gestellt und blutige Morde verübt haben, sind Kriminelle. Aber das ist nicht nur ein Verbrechen einzelner Banditen und Pogrommacher. Alles, was in Moskau stattfand und immer noch stattfindet, ist eine vorgeplante bewaffnete Rebellion. Sie wurde von kommunistischen Revanchisten, faschistischen Führern, einem Teil ehemaliger Abgeordneter, den Vertretern der Sowjets, organisiert. Unter dem Deckmantel von Verhandlungen sammelten sie Kräfte, rekrutierten Banditentruppen von Söldnern, die an Morde und Gewalt gewöhnt waren. Eine kleine Bande von Politikern, die mit Waffengewalt versucht haben, ihren Willen dem ganzen Land aufzuzwingen. Die Mittel, mit denen sie Russland regieren wollten, haben sich der ganzen Welt gezeigt."
Jelzin versicherte: "Die faschistisch-kommunistische bewaffnete Rebellion in Moskau wird innerhalb kürzester Zeit unterdrückt werden. Der russische Staat verfügt über die dafür notwendigen Kräfte." Dann gab Jelzin den Befehl, das russische Parlament mit Panzern zu beschießen. Eben jenes Gebäude, vor dem er während des Augustputsches 1991 medienwirksam auf einen Panzer geklettert und für den Schutz der noch jungen sowjetischen Demokratie eingetreten war.
Nach zehn Stunden Beschuss ergaben sich Jelzins Gegner - der ehemalige Vizepräsident Alexander Ruzkoi, Ex-Parlamentschef Ruslan Chasbulatow und etwa 700 Abgeordnete und Bewaffnete. Die zweite Oktoberrevolution forderte offiziell 187 Tote. Später sprach der damalige Verteidigungsminister Pavel Grachev schlicht von "vielen" Toten. Als ein Journalist sagte, "200 bis 400 (Tote) verschiedenen Quellen gemäß", antwortete Grachev vielsagend mit: "Viele, kurz gesagt." Unter Toten befanden sich auch Abgeordnete. Die genaue Zahl ist nicht bekannt. Eine vollständige öffentliche Untersuchung der Ereignisse von 1993 fand nie statt.
Unterstützung aus den USA
Die US-amerikanische Presse jubelte. Die "Washington Post" sprach von einem "Sieg für die Demokratie" und der "Boston Globe" titelte: "Russland entgeht einer Rückkehr ins Verließ seiner Vergangenheit".
Einen Tag nach dem Blutbad rief der US-amerikanische Präsident Boris Jelzin an. Jelzin zeichnete ein extremes Schwarz-Weiß-Bild der Situation. Er nannte seine Gegner "faschistisch", beschuldigte die Opposition und erklärte Clinton, dass die Anhänger des Parlaments "eine Bande von Menschen aus der Region Transnistrien, den Rigaer OMON (eine dem Innenministerium unterstellte Polizei-Einheit), nach Moskau gebracht hatten - das waren Sondereinheiten. Sie ließen sie hierher kommen, gaben ihnen Maschinengewehre und Granatwerfer und ließen sie auf friedliche Zivilisten schießen." Allerdings gibt es keinen nachgewiesenen Fall, in dem Anti-Jelzin-Demonstranten auf friedliche Zivilisten schossen.
Jelzin sagte, er hatte keine andere Wahl, als Gewalt anzuwenden, und bedauerte, dass "einige Menschen getötet wurden, neununddreißig Menschen sind inzwischen auf unserer Seite getötet worden". Clinton fragte nie nach dem Verlust von Menschenleben unter Zivilisten und der Opposition. Stattdessen erkundigte er sich über die Pläne des russischen Präsidenten für die bevorstehenden Wahlen und die politische Einigung nach der Verfassungskrise.
Jelzin versicherte Clinton, dass jetzt der Übergang zur Demokratie und Wirtschaftsreform schneller umgesetzt werden können. Jelzin würde "vorgezogene Präsidentschaftswahlen fordern, weil für mich keine echten Rivalen sichtbar sind." Tatsächlich waren sein Vizepräsident Ruzkoi und der Vorsitzende des Obersten Sowjetischen Chasbulatow nun im Gefängnis und der Generalstaatsanwalt war gezwungen, zurückzutreten. Zudem hatte Jelzin das Verfassungsgericht suspendiert, nachdem sein Vorsitzender Jelzins Dekret 1400 für verfassungswidrig erklärt hatte.
Nichts von Jelzins Handlungen und Aussagen schien seine demokratische Legitimation in Clintons Augen zu untergraben. Clinton lobte den russischen Präsidenten: "Sie haben alles genau so gemacht, wie Sie es tun mussten, und ich gratuliere Ihnen zu der Art und Weise, wie Sie mit der Krise umgegangen sind." Jelzin antwortet: "Danke für alles. Ich umarme sie von ganzem Herzen."
Als der US-Außenminister Warren Cristopher zweieinhalb Wochen nach dem Beschuss des Parlaments Boris Jelzin traf, lobte er den russischen Präsidenten für seinen Umgang mit der Verfassungskrise und gab die "hohe Wertschätzung" des US-Präsidenten weiter. Christopher betonte, dass Clinton Jelzins "hervorragenden Umgang mit der Krise" "sehr stark unterstützt". Laut Christopher bewunderte Clinton "die Zurückhaltung", die Jelzin seit Beginn der Krise an den Tag gelegt habe, und dass er am Ende so handelte, dass "der geringste Verlust von Menschenleben verursacht wurde".
In der US-amerikanischen Administration scheint es nur wenig Kritiker gegeben zu haben. James Collins, der als Chargé d'Affaire in der US-Botschaft in Moskau arbeitete, verwies in seiner Meldung an Warren Christopher zwei Wochen nach dem Beschuss des Weißen Hauses darauf, dass "sogar viele Reformer sich Sorgen um die Errichtung einer neuen russischen Demokratie machen, die so stark auf die Präsidialmacht ausgerichtet ist". Er bezeichnete die neue Verfassung, die Jelzin mit Gewalt durchboxen will, als "unausgereift", weil sie zu viel Macht in die Hände des Präsidenten lege. Er äußerte auch konkrete Kritik an der Durchsetzung des Ausnahmezustandes und starke Zweifel, inwiefern die anstehende Wahl tatsächlich demokratischer Natur sein werde.
Der Liebling des Westens verliert
Am 12. Dezember 1993, noch unter dem Schock der Ereignisse, stimmte die russische Bevölkerung in einem Referendum mit knapper Mehrheit für eine neue Verfassung. Sie gab dem Präsidenten im Kreml nahezu uneingeschränkte Macht. Er konnte nun im Prinzip nicht mehr des Amtes enthoben werden. Zudem drängte die neue Verfassung das Parlament an den Rand des politischen Prozesses. Das am selben Tag gewählte Parlament (mit einer Wahlbeteiligung von lediglich 53 Prozent) war jedoch eine beeindruckende demokratische Ohrfeige für Jelzins neoliberales Wirtschaftsprogramm.
Das Wahlergebnis war für den Präsidenten eine Katastrophe. Die nationalistische Liberaldemokratische Partei von Wladimir Schirinowski wurde mit 23 Prozent stärkste Partei. Jelzins Partei, die Russische Wahl unter der Führung von Jegor Gaidar, erreichte nur 15 Prozent. Die Kommunistische Partei von Gennadij Sjuganow erhielt immerhin 12 Prozent.
Die USA und der IWF entschieden sich nun für weniger Schock und mehr Therapie für Russland. Eine späte Einsicht. Die angesehene Wissenschaftszeitschrift "The Lancet" veröffentlicht 2009 eine Studie, die einen direkten Zusammenhang zwischen massenhafter Privatisierung und Reduzierung der Lebenserwartung herstellt. Aber die negativen Schlagzeilen der russischen Wirtschaft sollten auch in den weiteren Jahren unter Jelzin nicht abreißen.
Am 11. Oktober 1994 verlor der Rubel innerhalb eines Tages 21 Prozent an Wert gegenüber dem US-Dollar. Am 17. August 1998 kam es gar zum Staatsbankrott. Erst ab dem Jahr 2000 und dem steigenden Ölpreis ging es der russischen Wirtschaft deutlich besser.
Nachwirkungen der Panzerschüsse
Die damalige Clinton-Regierung betrachtete auch mit Abstand Jelzin als Garanten für den demokratischen Übergang Russlands und das Ergebnis der Krise daher als Sieg für die demokratischen Kräfte, so bedauerlich der Verlust von Menschenleben auch gewesen sein mag.
Der damalige US-Botschafter in Moskau Thomas Pickering betonte später, dass es "keine andere Wahl" gab, als Jelzin zu unterstützen: "Es gibt einige, die argumentieren, dass Jelzins Handlungen illegal waren. Ich bin völlig anderer Meinung. Hätte Jelzin es versäumt, das zu tun, was er getan hat, so gab es gute Chancen, dass es an der Spitze eine weitere Anstrengung gegeben hätte, Russland wieder in den Kommunismus zurückzuführen. Ich kann nur glauben, dass das zu mehr Blutvergießen und einem langen Bürgerkrieg geführt hätte."
Lässt man aber die Reihe von nicht-demokratischen Entscheidungen, einen klaren Verfassungsbruch und den Einsatz übermäßiger Gewalt gegen das Parlament noch einmal Revue passieren, erscheint die dargestellte Haltung zumindest fragwürdig. Aber auch in der damaligen US-Botschaft gab es andere Haltungen. Said E. Wayne Merry, Leitender politischer Analyst an der US-Botschaft in Moskau, gibt sich später kritisch: "Die US-Regierung wählte das Wirtschaftliche über das Politische. Wir haben uns für die Preisfreigabe, die Privatisierung der Industrie und die Schaffung eines wirklich ungehinderten Kapitalismus entschieden und im Wesentlichen gehofft, dass sich Rechtsstaatlichkeit, Zivilgesellschaft und repräsentative Demokratie irgendwie automatisch daraus entwickeln würden."
Betrachtet man die leidvolle Geschichte Russlands zu Beginn der 1990er Jahre, so scheint Naomi Klein Recht zu behalten, wenn sie darauf hinweist: "Der Kommunismus mag zusammengebrochen sein, ohne dass ein einziger Schuss abgefeuert wurde, aber wie sich herausstellte, brauchte der Kapitalismus à la Chicagoer Schule jede Menge Gewehrläufe, um sich zu verteidigen."
Vielsagend und nachdenkenswert sind auch die Zeilen von Jeffrey Sachs, der für die Schocktherapie Russlands zuständig war. In einem Brief an den Herausgeber der Financial Times schreibt Sachs: "Im Falle Osteuropas haben wir diesen Ländern geholfen, auch weil es so aussah, als würden sie die neuen Mitglieder der NATO sein. Wenn es um die ehemalige Sowjetunion ging, haben wir diesen Ländern nicht geholfen, weil sie als strategische Gegner angesehen wurden."
Blinder Fleck
Vor Hintergrund der Stürmung des Parlamentes "erscheint die These von Boris Jelzin als einem Symbol der russischen Demokratie zumindest gewagt", bemerkt Mikhail Evstyugov-Babaev zu Recht. "Zumal die Machtfülle, die Wladimir Putin immer wieder vorgehalten wird, in jener Verfassung festgehalten ist, die Jelzin im Dezember 1993 den Russen in einem Referendum zur Abstimmung vorlegte. (…) Darüber hinaus gerät auch das seit der Machtübernahme von Wladimir Putin gültige Narrativ vom Totengräber der russischen Demokratie ins Wanken. Sofern es eine solche Demokratie je gab, starb sie unter aktiver Sterbehilfe westlicher Regierungen und Medien eines frühen Todes im Oktober vor 25 Jahren."
Viele russische Demokraten betrachteten die Ereignisse von 1993 als den Wendepunkt von der Demokratie zu einer zunehmend paternalistischen und autokratischen Politik durch Jelzin und seinen Nachfolger. War bis dahin die Erfahrung der Demokratie "nur" mit massiv verschlechterten Lebensbedingungen einhergegangen, drohte nun gar ein Bürgerkrieg. Für Svetlana Savranskaya vom National Security Archive der Universität Washington führte daher Jelzins Verhalten, das von den USA unterstützt wurde, "zum Verlust des Glaubens an die Demokratie".
So traumatisch die Ereignisse des Jahres 1993 für die russische Bevölkerung waren, so gering ist ihr Platz in der kollektiven Erinnerung des Westens. Am Rande im Nachrichtenalltag mitbekommen, ist es heute gleichsam vergessen.
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