Jeroen Dijsselbloem: Nicht die Ausnahme, sondern die Spitze des Eisberges

Seine offene Beleidigung setzt nur fort, was der Norden seit Ausbruch der Krise mit dem Süden treibt

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Ja, es ist schlimm. Es ist schlimm, wenn ein Mensch aus dem Norden all seine Vorurteile gegenüber denen in Europas Süden in aller Öffentlichkeit auspackt. Dass Jeroen Dijsselbloem, der das in einem Interview mit der FAZ (nicht frei verfügbar) tat, Chef der Eurogruppe ist, also just der Gruppe, die regelmäßig über Länder im Süden quasi zu Gericht sitzt, ist doppelt schlimm (hier ein Bericht des Standard dazu).

Dass sich, wie einige Medien (hier das Handelsblatt) berichten, Politiker des Südens darüber aufregen und sagen, so einer wie der dürfe nicht Chef der Eurogruppe bleiben, kann man verstehen. Warum aber erst jetzt? Dass der ehemalige Premierminister Italiens Matteo Renzi erst spät sagte, "Leute wie Dijsselbloem […] verdienen nicht die Rolle, die sie einnehmen", das kann ich nicht nachvollziehen. Dijsselbloem hat diese Rolle noch nie verdient, nur hat Herr Renzi das seltsamerweise nicht gemerkt. Und dass es eine brutale Beleidigung brauchte, damit Herr Renzi das versteht, das zeigt die ganze Misere Europas.

Ich finde es auch bezeichnend, dass sich Sven Giegold, Europaparlamentarier der Grünen, ganz ungeheuer über diese Beleidigung aufregt. Er verbreitet ein Video, wo er neben einem spanischen Kollegen sitzt, der Dijsselbloem im europäischen Parlament nach der Aussage befragt und eine Entschuldigung fordert (hier). Giegold sitzt daneben und ist offensichtlich verärgert über Dijsselbloems Arroganz.

Wie weit aber ist der Weg von einer offenen Beleidigung durch einen niederländischen Minister bis hin zu der Aufforderung eines deutschen Europaparlamentariers an Frankreich, "Reformen wirklich auf den Weg zu bringen, die dem Land wieder Selbstbewusstsein geben würden und bei den sozialen Problemen etwas lösen könnten" (siehe einen Bericht dazu hier)?

Beleidigungen und Vorteile

Der Weg ist nicht weit. Fast alles, was in den vergangenen Jahren im Norden zu den Problemen in Süden gesagt wurde, ist eine Beleidigung. Das gilt für die deutschen Stammtische genau so wie für die deutsche Politik. Ob man die überragende Qualität der deutschen Produkte lobt, ob man sich über Korruption in Griechenland aufregt, ob man den langen Urlaub in den Südländern beklagt, ob man den "zu hohen" französischen Staatsanteil zum Problem macht, all das ist immer genau dann eine Beleidigung, wenn man nicht dazu sagt, auf welche Weise sich Deutschland seine Vorteile erschlichen hat.

Daran aber hapert es bei fast allen nördlichen Europäern und eben auch bei solchen, die sich jetzt über die Beleidigung aufregen. Wo ist das Bekenntnis der Grünen zu ihrem Fehler in der Rot-Grünen Koalition, die Gewerkschaften systematisch zu schwächen und Schröder zu helfen bei seiner genuin sozialdemokratischen Aufgabe, "in Deutschland den besten Niedriglohnsektor der Welt zu schaffen"? Wo ist die Einsicht der Sozialdemokraten in diesen historischen Fehler? Wer feiert Partys (hier), um sich an den "Errungenschaften" von Agenda 2010 und Hartz IV zu berauschen, die Südeuropa in die Krise gedrängt haben? Nicht nur die AfD liegt in ihrer Analyse der Eurokrise beleidigend weit neben der Wahrheit, sondern alle Parteien mit Ausnahme eines Teils der Linken.

Kein Grund zur Selbstgerechtigkeit

Nein, es gibt keinen Grund zur Selbstgerechtigkeit angesichts des Ausfalls eines kleinen Repräsentanten des großen Systems, das von Deutschland angeführt wird und das es im systematischen Leugnen der Schuld der Nordländer zu großer Meisterschaft gebracht hat. Man muss sich vorstellen: Es bedurfte eines amerikanischen Präsidenten, der sich um neoliberale Ideologien einen Teufel schert, damit das Thema der deutschen Überschüsse es überhaupt wieder in die deutschen Medien gebracht hat.

Man muss im obigen Video nur Dijsselbloem zuhören, wie er von Verantwortung spricht und davon, dass sich jeder an die Regeln halten müsse, weil er sonst keine Solidarität erwarten könne, um zu verstehen, wie arrogant und zynisch das System ist (vgl. dazu eine längere Analyse aus dem Jahr 2015 hier). Bis heute dürfen deutsche Leistungsbilanzüberschüsse kein Problem sein, wie mit nur noch lächerlich zu nennenden Verrenkungen gerade wieder der deutsche "Sachverständigenrat" dargelegt hat (hier ein Papier dazu).

Jeder, der schweigt, trägt genauso Schuld an der großen europäischen Krise wie der, der die anderen offen diskriminiert oder beleidigt. Jeroen Dijsselbloem, der übrigens Agrarökonomie studiert und sich auch im Übrigen vorher nie mit makroökonomischen Fragen befasst hat, ist ein besonders dünnes Licht und weiß sich genau deswegen nur durch Beleidigungen in Szene zu setzen. Aber er wird getragen von großen Massen, denen man die bittere Wahrheit über die nordische Schuld vorenthält.

Jetzt sagt man zu seiner Verteidigung, er habe mit den falschen Worten ein richtiges Prinzip verteidigt (hier). Aber welches Prinzip? Das Prinzip, dass man keine genaue Analyse braucht, weil sowieso immer die Anderen schuld sind? Oder gar das Prinzip, dass der nordische Mensch immer Recht hat? Oder noch besser: Das Prinzip, dass derjenige, der durch Hinterlist an die Macht gekommen ist, die Ohnmächtigen nach Belieben unterdrücken darf?

Der Text wurde mit freundlicher Genehmigung von der Website makroskop übernommen. Deren Herausgeber Heiner Flassbeck und Paul Steinhardt sehen ihre Aufgabe darin, "das massive Versagen der Politik zu thematisieren und Lösungswege aufzeigen, die sich auch am Interesse derjenigen orientieren, die in der Gesellschaft keine eigene Stimme haben".