Jüdische Identität verstehen: Ein Wegweiser abseits von Vorurteilen
Wer ist Jude, wer nicht? Und was hat diese Frage mit dem aktuellen Krieg in Israel zu tun? Warum man nicht in Stereotypen denken sollte. Ein Essay. (Teil 2 und Schluss)
Vielen Juden tut man keinen Gefallen, wenn jede politische oder religiöse Gegnerschaft als antisemitisch diagnostiziert wird
Mitte der 80er-Jahre hatte sich in der Ost-Berliner jüdischen Gemeinde die "Wir für uns"-Gruppe gefunden – Leute meiner Generation mit einem oder zwei, manchmal auch drei oder vier jüdischen Großelternteilen, die sich für ihre Wurzeln zu interessieren begannen.
Unser Lieblingswitz: Wenn sich früher drei Juden trafen, stritten sie über den Messias. Treffen sie sich heute, streiten sie über jüdische Identität. Wir alle waren atheistisch, aber mit Kibbuz-ähnlichen Vorstellungen erzogen. Eine religiöse Identität hatten wir nicht, eine rassische oder beschönigt ethnisch genannte, kam nach dem NS-Wahn nicht infrage.
Warum fühlten wir uns dennoch irgendwie weitläufig verwandt? Das ist rein kulturell- biografisch bedingt, sagten die einen. Mischpoche, widersprachen selbstironisch die anderen. So stritten wir, und wenn wir nicht gestorben sind, dann streiten wir noch heute.
Moshe Zuckermann sprach uns nachträglich frei, als er darauf hinwies, dass man sich im israelischen Verfassungsdiskurs bis heute nicht darauf einigen konnte, "wer oder was ein Jude sei". Aber warum tun wir nach der Nazizeit überhaupt wieder so, als sei das Wissen darum, wer nun "jüdischer Mitbürger" ist, wichtig? Warum betrachten wir es nicht als reine Privatsache, wer warum welche Identität hat?
Ziemlich sicher bin ich mir aus Gesprächen, dass man vielen Juden keinen Gefallen tut, wenn jede politische oder religiöse Gegnerschaft als antisemitisch diagnostiziert wird, also letztlich auf etwas jenseits des eigenen Einflusses der "Semiten". So hält man die "jüdische Frage" am Kochen, die doch einzig eine von Gojim (Jiddisch für Nichtjuden, Anm. d. Red.) gestellte ist. Je mehr es zum gesellschaftlichen Auftrag wird, hinter jeder Fichte einen Antisemiten zu enttarnen, je bedenklicher wird das Ganze.
Der mosaische Historiker Gustav Mayer, der als Student noch Vorlesungen bei Treitschke gehört hatte, drückte in seinen Memoiren aus, was andere jüdische Kommentatoren ähnlich beschrieben: Die immer wiederkehrende Judenfeindschaft sei ein Relikt aus alten Zeiten, verletzend, aber in ihrer schlichten Machart auch "einfach langweilig" geworden. Sie sei wie "letzte Zuckungen mittelalterlicher Verirrung".
"Weil solchen Blicken die Reflexion fehlt, werden die Reflexionslosen davon elektrisiert", befand später Adorno. "Einem solchen Denken ist es egal, ob es überhaupt noch ‚den Juden‘ in der bekämpften Gestalt gibt." Dem Antisemitismus wird vorgeworfen, alles Komplexe auf ein Thema zu reduzieren. Aber der Anti-Antisemitismus tappt in dieselbe Falle, indem er auch nur ein wage umschriebenes Motiv zu kennen vorgibt.
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Um rassistische Inhalte zu kaschieren, würde vornehm von Kultur gesprochen, behaupten wiederum die Anhänger der Theorie vom "Rassismus ohne Rassen". Es sei aber rassistische Praxis, wenn Mehrheiten die Macht besäßen, Minderheiten als "anders" oder "schädlich" zu definieren und sie deshalb zu benachteiligen, wenn nicht zu verfolgen. Demnach wäre die Ausgrenzung von Dissidenten, Kommunisten, Armen, Homosexuellen, Ungläubigen, Ungeimpften auch Rassismus? Da wird analytische Schärfe der Beliebigkeit geopfert.
Oder zweckentfremdet zu Disziplinierung. Jetzt macht man sich schon durch ein Aber verdächtig. Inzwischen ist bald jede Abweichung vom Trampelpfad der öffentlich beglaubigten Einseitigkeit dem Vorwurf ausgesetzt, empathielos, rechtsoffen oder eben antisemitisch zu sein.
Das ist nicht ohne Grund der schlimmste K.-o.-Tropfen, der einem hierzulande auf offener Bühne verabreicht werden kann. Wie gerade wieder auf skandalöse Weise Jeremy Corbyn durch die Berliner Volksbühne. Der Ausgrenzungsfetischismus erfasst inzwischen Juden und Nichtjuden, Freund und Feind. Der verschwurbelte Antisemitismus-Vorwurf wirkt wie ein Verdikt, nicht rational über die eigentlichen Ursachen zu reden: Machtpolitik und Religion. Und man kann sich des Eindrucks schwer erwehren, das sei gewollt.
Wie "die einzige Demokratie im Nahen Osten" den politischen Islamismus genährt hat
"Die Hamas muss vernichtet werden", heißt es. Wer genau ist da zum Töten freigegeben? Die Hamas hatte sich als Zweig der Muslim-Bruderschaft zu Beginn der ersten Intifada von der weitgehend säkularen PLO abgespalten. Weil sie die Zweistaatenlösung, zu der sich der Realist Jassir Arafat schweren Herzens durchgerungen hatte, nicht mittragen wollte. Das kam einigen israelischen Führern sehr gelegen, da sie bekanntlich den Palästinensern auch keinen souveränen Staat gönnten.
Seit 1987 förderte daher Israel den Aufstieg der islamischen Hamas. Brigadegeneral Yitzak Segev sagte dem Investigativ-Portal The Intercept, er habe von der israelischen Regierung ein Budget für die Hamas bekommen, das an die Moscheen übergeben wurde. "Die Hamas ist, zu meinem großen Bedauern, eine israelische Kreation." Ministerpräsident Jitzchak Rabin habe dies später als fatalen Fehler eingestanden.
Und Roger Cohen erinnerte am 22. Oktober 2023 in der New York Times: "Alle Mittel waren gut, um die Idee eines palästinensischen Staates rückgängig zu machen. 2019 sagte Netanjahu bei einem Treffen seiner Likud-Partei: ‚Diejenigen, die die Möglichkeit eines palästinensischen Staates vereiteln wollen, sollten die Stärkung der Hamas und den Transfer von Geld an die Hamas unterstützen. Das ist Teil unserer Strategie.‘"
So hat "die einzige Demokratie im Nahen Osten" den politischen Islamismus genährt. Solange dieser seinen Anhängern weismacht, der Tod für Gott müsse ihr hehrster Wunsch sein, es gäbe keinen direkteren Weg, in Allahs himmlische Nähe zu gelangen, als für ihn im Dschihad zu sterben, solange werden jedem abgeschlagenen Kopf des Terrorismus-Drachens sieben neue nachwachsen. Das Problem ist, wie fast jedes, nicht militärisch zu lösen. Und dieses besonders nicht. Sondern?
Hamas ist ein Geschöpf politischer Doppelmoral und des Teile-und-herrsche-Prinzips. Und sollte daher auf der Ebene der Politik analysiert und bekämpft werden. Das schließt eingeschränkte militärische Aktionen nicht aus, die ihm seine Angriffsfähigkeit nehmen. Die verbrecherischen Gewalttäter der Hamas vom 7. Oktober und ihre religiösen Befehlsgeber sind Verblendete, Verrohte, Verdammenswerte – aber sie sind Menschen. Ich bin generell gegen die Vernichtung von Menschen. Vielleicht ist das mein jüdisches Erbe.
Den Schlüssel zum Haupteingang der Lösung haben die verhandelnden Politiker. Der Hamas werde mit einer Friedenslösung die Existenzgrundlage entzogen, sagt jetzt der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek. Und er spricht von "unseren jüdischen Geschwistern". Die Lebensbedingungen in Gaza und auch im Westjordanland dürfen nie wieder so werden, wie sie waren.
Bei einer Demo in Neukölln sagt ein Palästinenser am Straßenrand: "Ja, wir freuen uns. Aber nicht, weil Menschen getötet wurden, sondern weil es jetzt ohne die Zweistaatenlösung nicht mehr gehen wird. Sogar die Amerikaner sprechen sich dafür aus. Wir hatten lange nicht so viel Hoffnung." Beweggründe erfragen, statt Antisemitismus zu unterstellen.
Den Schlüssel zum Nebeneingang besitzen die Religionsgelehrten. Die Religionen haben mit ihren Schriftrollen und Gesetzestafeln die wohl entscheidendsten Beiträge zur Zivilisation der Menschheit geleistet. Gleichzeitig haben sie diese Fortschritte mit ihren fundamentalistischen Theorien und Praktiken auch immer wieder erbarmungslos zurückgeworfen: mit den Feindseligkeiten zwischen den Glaubensbekenntnissen, ihrer jahrhundertelangen Unterdrückung der Frauen, mit Missionierungen, Pogromen, mit Inquisition, ihren Glaubenskriegen. Zur Religionsfreiheit gehört auch die Freiheit zur Kritik an der Religion.
In der Gründungscharta der Hamas gilt ganz Palästina nach göttlicher Vorgabe bis zur Auferstehung als im Besitz der Muslime. Jede Abweichung sei ein Verstoß gegen Gottes Wille. Deshalb sei die Tötung von Juden die Pflicht jedes Muslims, weil er sonst vor dem Jüngsten Gericht nicht bestehen kann. Diese Charta ist wohl kaum mit dem Koran vereinbar, sie missbraucht ihn für irdische Interessen. Dennoch hat der hier formulierte Hass nichts mit rassistischen Feindseligkeiten zwischen Semiten zu tun. Antisemitismus wäre selbst hier die falsche Zuschreibung.
Das ist keine akademische Spitzfindigkeit, sondern soweit ich sehe, ein bedeutender praktischer Unterschied. Gegen den anhaltenden Vorwurf, einer feindlichen Ethnie anzugehören, kann man sich nicht wehren, da kommt man im wahrsten Wortsinn nicht aus seiner Haut. Aber Schalom – Salam – Frieden ist das oberste moralische Gebot aller Gläubigen und Ungläubigen. Der Friedfertigkeit zum Durchbruch verhelfen – hier besteht wahrlich Verteidigungsbedarf.
Statt die mittelalterliche Verirrung Antisemitismus wiederzubeleben, gilt es den Ausgrenzungsfetischismus generell aufzugeben, die wirklichen Interessen der Gegenseite zur Kenntnis zu nehmen. Dazu gehört, hartnäckige Missverständnisse abzubauen. Etwa die missverstandene Bedeutung von den Juden als von Gott auserwähltem Volk. Man könnte es auch als geschätztes oder besonderes Volk übersetzen.
Dabei geht es nicht um eine Bevorzugung der Juden gegenüber anderen, sondern eher im Gegenteil: Mit der Offenbarung der Tora am Berg Sinai hat Abraham eine große sittliche Verpflichtung entgegengenommen. Nämlich Vermittler für alle Menschen zwischen Gott und der Schöpfung zu sein. Wird Israel, das so viel Wert darauf legt, ein jüdischer Staat zu sein, dieser Verpflichtung mit dem jetzt von ihm angerichteten Inferno in Gaza gerecht? Sicher nicht.
Wir sind auserwählt zum Leid, hatte meine Mutter (die Vaterjüdin) gesagt. Aber nein, Mame, kein Gott, kein Staat und kein Militärb��ndnis hat das Recht, irgendeine Gemeinschaft leiden zu lassen. Aber ja, verdammt sind wir alle auf dieser kleinen, wunderbaren Erde – verdammt uns zu vertragen. Und das geschieht uns recht.
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