Im Vorwurf des Rassismus überlebt der Rassegedanke

Klagemauer in Jerusalem - Symbol der jüdischen Geschichte und Einheit

Die Klagemauer in Jerusalem: Ein Ort des Gebets und der Reflexion für Juden weltweit.

(Bild: MoneyforCoffee, Pixabay)

Jeder weiß heute, was Antisemitismus bedeutet und ist oft bereit, das Wort zu benutzen. Unsere Autorin fragt: Weiß auch jeder, was Semitismus bedeutet? Ein Essay. (Teil 1)

Das mittelalterliche Pogrom der Hamas gegen friedlich feiernde, meist palästinenserfreundliche Israelis und die sich in vielen Ländern wie Schallwellen ausbreitenden Feindseligkeiten gegenüber Juden haben eine Debatte über Antisemitismus ausgelöst, die mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet.

Wenn all die weltweiten Proteste und Appelle gegen Fremdenfeindlichkeit und Hass den Radikalismus seither hier wie dort nur verschlimmert haben, wenn Präventionsprogramme genauso erfolglos waren wie staatliche Antisemitismus-Beauftragte oder harte Gerichtsurteile, sind wir offenbar auf einem falschen Pfad. Deshalb eine Überlegung, tastend, unsicher, wie alles derzeit.

Das zionistische Versprechen von einem Juden sicher beschützenden Israel ist zerplatzt, oft auch normales Alltagsleben in jüdischen Einrichtungen weltweit. Selbst einst nach Südafrika ausgewanderte und wegen der dortigen Apartheid später in England hängengebliebene Verwandte sagen mir jetzt im Zoom-Gespräch: Schon vor dem Anschlag fürchtete die Hälfte der britischen Juden, keine Zukunft im Land zu haben. Bisher trösteten wir uns, dann gehen wir eben zur Mischpoche nach Haifa. Doch der Ausweg ins gelobte Land ist für lange Zeit, wenn nicht für immer, verschlossen.

Diese Traurigkeit wird auch genährt durch die grell ins Bewusstsein zurückgeholte Gewissheit, dass der ungelöste Nahostkonflikt immer noch eine Folge des deutschen Faschismus ist. Er gehört zu der Vergangenheit, die nicht vergeht. Der industrielle Völkermord an den Juden war pervertierter Rassismus. Das kann man nicht "wiedergutmachen".

Wer lange verfolgt wird, wird schuldig, sagt Camus. Verfolgt wurde wohl kein Volk öfter, opferreicher und bestialischer als die Juden. Nach der Shoah war die mit knapper Mehrheit zustande gekommene Geste der UN, sie in Palästina willkommen zu heißen, folgerichtig. Doch sie waren nicht willkommen. Stattdessen Bürgerkrieg mit den Bewohnern der Region, Überfall arabischer Länder und die von den jüdischen Einwanderern betriebene Vertreibung der Palästinenser.

All das verbaute eine einvernehmliche Zukunft. Über die Nakba erfährt man in israelischen Schulbüchern bis heute eher nichts. In den Schulbüchern der arabischen Welt wiederum wird der Holocaust weitgehend ausgespart. Wie will man Empathie füreinander entwickeln, wenn die Leidensgeschichte des Nachbarn unbekannt ist? Wahrheit werde durch das Herausschneiden aus dem Zusammenhang zur Unwahrheit, hat Adorno in seinem 1967 gehaltenen Vortrag "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus" beklagt.

Was für eine Schande, wenn sich 80 Jahre nach der Shoah Juden alten Vorurteilen und neuem Hass ausgesetzt sehen! Die allemal gebotene Wachsamkeit sollte allerdings auch für die inflationäre Zuordnung von Antisemitismus gelten, sobald kritisches Ursache-Wirkung-Denken gegenüber Politik, auch der israelischen, artikuliert wird. Als Bruno Kreisky, der einzige jüdische Politiker im deutschsprachigen Raum, der es je an die Regierungsspitze geschafft hat, gefragt wurde, weshalb er eine besonders kritische Haltung zu Israel habe, antwortete er sinngemäß, man könne seinen besten Freunden nur durch offene Kritik ihrer Fehler helfen.

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