Israels Kampf gegen die Hamas: Mehr als nur Terrorbekämpfung?
Neben dem Krieg in Gaza droht der Konflikt die gesamte Region zu erfassen. Israel kämpft inzwischen auch gegen die Hisbollah und den Iran. Ein Telepolis-Podcast.
Seit über einem Jahr führt Israel im Gazastreifen Krieg gegen die Hamas, die zuvor in einem barbarischen Angriff auf Israel mehr als tausend Menschen tötete und fast 300 verschleppte. Mittlerweile hat der Krieg den Libanon erreicht, kämpft Israel gegen die Hisbollah-Miliz, zerstört aber auch Wohnviertel in Beirut und beschädigt sogar Stützpunkte der im Südlibanon stationierten UN-Blauhelm-Soldaten. Die Sorge ist groß, dass der Krieg die gesamte Region des Nahen Ostens erfassen könnte, die seit Jahrzehnten bereits Schauplatz zahlreicher Kriege war.
"Krieg ohne Ende?" ist deshalb der Titel des neuen Buchs von Bestsellerautor Michael Lüders. Er hat sich als Zivildienstleistender bei der Aktion Sühnezeichen in Israel, als Nahost-Korrespondent der Wochenzeitung Die Zeit, Präsident der Deutsch-arabischen Gesellschaft und Publizist immer wieder mit der Region beschäftigt und gehört zu den gefragtesten Nahost-Experten hierzulande.
Für Telepolis hat Dietmar Ringel mit ihm gesprochen.
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▶ Sie sind jemand, der regelmäßig aneckt, weil er scheinbar unumstößliche Grundsätze infrage stellt. In ihrem neuen Buch betrifft das nichts Geringeres als die deutsche Staatsräson, also die Verpflichtung Deutschlands, sich für die Sicherheit Israels und die Wahrung seines Existenzrechts einzusetzen. Was ist daran kritikwürdig?
Michael Lüders: Wenn man sich solidarisch mit Israel erklärt oder den Begriff der Staatsräson bemüht, dann ist es natürlich hilfreich, wenn man erst einmal klärt, was man damit meint. Sollte es um eine verbindliche Solidaritätserklärung mit Israel gehen, die Staatsräson also bedeuten, dass Deutschland für das Existenzrecht Israels einsteht, so ist dazu mindestens zweierlei anzumerken?
Erstens: Welches Israel ist gemeint? Innerhalb welcher Grenzen? Israel hat die eigenen Staatsgrenzen niemals definiert. Ist also Solidarität mit Israel in den Grenzen gemeint, soweit sie international anerkannt sind, also bis zum 4. Juni 1967? Oder ist das Israel gemeint, das im Sechstagekrieg 1967 zusätzlich das Westjordanland, Ostjerusalem, den Gazastreifen, den Sinai und die syrischen Golanhöhen erobert hat? Gibt es die Verpflichtung, dafür einzutreten, dass Israel als eine Besatzungsmacht auch weiterhin Siedlungskolonialismus betreiben kann? Ja oder nein?
Diese Fragen muss man sich beantworten. Und zweitens: Was bezeichnet denn die Staatsräson? Das ist ein Begriff, der weder juristisch noch politisch klar zu fassen ist. Es ist eigentlich ein Wohlfühl-Ausdruck, der besagen soll: Ja, wir stehen aufseiten Israels.
Dagegen ist auch nichts zu sagen, wenn es sich auf die Grenzen bis zum 4. Juni 1967 bezieht. Aber es kann nicht sein, dass die viel gerühmte Staatsräson höher bewertet wird als geltende internationale Rechtsnorm. Denn erstens ist die Siedlungspolitik Israels von A bis Z völkerrechtswidrig, und zweitens ist die Kriegsführung Israels im Gaza-Streifen, im Westjordanland, im Libanon, ganz eindeutig in vielerlei Hinsicht rechtswidrig. Nicht ohne Grund hat Südafrika im vorigen Dezember Strafanzeige gegen Israel vor dem internationalen Gerichtshof in Den Haag gestellt – wegen des Vorwurfes des Völkermordes.
Das sind gravierende Anschuldigungen, und ich denke, es würde der Bundesregierung gut anstehen, sich hier differenzierter zu positionieren und nicht lediglich darauf zu setzen, dass man auch weiterhin Waffen nach Israel liefern werde, wie Bundeskanzler Olaf Scholz gerade erst wieder verkündet hat.
▶ Sie sagen, Deutschland solle sich differenzierter verhalten, nicht nur auf Waffenlieferungen setzen. Was müsste sich noch ändern in der deutschen Haltung? Welche konkreten Schritte halten Sie für notwendig?
Michael Lüders: Fangen wir mal mit der Sichtweise der Europäischen Union an. Die ist, was Israel betrifft, nicht eindeutig. Es gibt Staaten, die sich wie Deutschland uneingeschränkt und ohne Wenn und Aber auf die Seite Israels stellen. Dazu gehören etwa die Niederlande, Tschechien und auch Österreich und Ungarn.
Aber es gibt auch Länder, die in eine ganz andere Richtung gehen. Norwegen, das zwar nicht zur EU gehört, aber vielfach assoziiert ist mit der EU. Norwegen, Spanien, Irland und Slowenien haben den Staat Palästina anerkannt. Die Bundesregierung unternimmt dagegen alles, was sie kann, um in Brüssel die Anerkennung eines solchen Staates Palästina durch die EU zu verhindern.
Warum tut sie das? Der französische Präsident Macron verlangte kürzlich die Einstellung aller Waffenlieferungen an Israel. Als Replik darauf ging Olaf Scholz genau den entgegengesetzten Weg. Auch hier stellt sich die Frage, was soll das?
Hätte man sich nicht gemeinsam mit Frankreich überlegen können, wie man ein Konzept erarbeitet, einen konstruktiven Ansatz findet? Es ist auch sehr befremdlich, dass sich Deutschland als einziges Land der Welt im Völkermordverfahren Südafrikas gegen Israel als sogenannte Drittpartei auf die Seite Israels gestellt hat.
Spanien und Irland beispielsweise haben genau das Gegenteil getan. Sie haben sich auf die Seite des Klägers, also Südafrikas gestellt. Warum muss sich Deutschland als einziges Land der Welt auf die Seite Israels stellen, anstatt erst einmal abzuwarten, was das Gericht entscheidet?
Nicht einmal die USA haben das getan. Und zwar aus gutem Grund, denn kaum hatte Deutschland sich auf die Seite Israels gestellt, hat Nicaragua wiederum Deutschland verklagt wegen Beihilfe zum Völkermord, insbesondere mit Blick auf die Waffenlieferungen Deutschlands an Israel. Deutschland ist der zweitgrößte Waffenlieferant für Israel nach den USA. Nach der Klage Nicaraguas sind die deutschen Waffenexporte erst einmal Richtung Null gegangen.
Vor allem aus Sorge der Bundesregierung, dass man wegen dieser Beihilfe zum Völkermord juristisch belangt werden könnte. Wir sind immerhin Moralweltmeister! Da wäre das nicht so gut. Aber nun hat Kanzler Scholz eine Kehrtwende vollzogen, und obwohl Israel seinen Krieg im Libanon intensiviert, ist die Entscheidung der Bundesregierung gefallen, wieder Waffen an Israel zu liefern.
Das ist eine erstaunliche Entscheidung, für die es keinen Grund gibt. Es gibt auch Überlegungen, Boykott-Maßnahmen gegen Israel einzuführen, vergleichbar jenen gegenüber Russland.
Man muss in der Tat fragen, wie es sein kann, dass man Russland wegen des Krieges gegen die Ukraine von internationalen Veranstaltungen ausgeschlossen hat, von Sportveranstaltungen oder dem Eurovision Song Contest zum Beispiel. Für Israel dagegen gilt das alles nicht.
Israel genießt weiterhin vollumfänglich alle Privilegien der engen Partnerschaft mit der Europäischen Union. Es ist zwar nicht Teil der EU, kann aber zu denselben Bedingungen wie die Mitgliedsstaaten Waren in die EU exportieren. Und auch hier fragen viele, auch Völkerrechtler, warum ist das so? Man könnte diese Meistbegünstigung für Israel streichen, solange die Völkermordvorwürfe im Raum stehen.
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▶ Über Boykottmöglichkeiten wird schon lange diskutiert. Es gibt auch gesellschaftliche Bewegungen, die gerade das fordern. In Deutschland kommt dann aber häufig das Argument, Antisemiten, Leute, die schon immer Israel-Hasser waren, könnten sich genau hinter solchen Forderungen verstecken. Wie lassen sich aus Ihrer Sicht sachbezogene Israel-Kritik und Antisemitismus trennen?
Michael Lüders: Das ist eine wichtige Frage. In Deutschland gehen die Dinge gerne durcheinander. Antisemitismus wird mit Kritik an Israel verwechselt, der sogenannte israelbezogene Antisemitismus ist in der Politik und den Medien hierzulande sehr en vogue, wenn ich so sagen darf. Kritik an Israel wird leicht der Kategorie des israelbezogenen Antisemitismus zugeordnet.
Es sei gewissermaßen antijüdisch, Israel zu kritisieren, heißt es. Das ist vor allem eine Sichtweise, wie sie pro israelischen Lobbygruppen in den Sinn kommt. Die finden das natürlich prima, wenn man sachliche und berechtigte Kritik an Israel zurückweisen kann, mit dem vermeintlichen Argument, es handele sich dabei um Antisemitismus.
Man muss die Begriffe klar trennen, was in Deutschland viel zu selten geschieht. Niemand würde auf die Idee kommen, Kritik an der französischen Regierung als Ausdruck einer antifranzösischen oder gar antikatholischen Gesinnung zu verorten, aber im Falle Israels geschieht das immer wieder. Hier muss man trennen.
Antisemitismus besagt im Kern die Ablehnung von Juden, weil sie Juden sind – mit allem, was sich daraus an Diskriminierungsmaßnahmen ergeben kann, bis hin zur Ermordung. Das ist natürlich uneingeschränkt zu verurteilen. Aber diejenigen, die den Zionismus, die staatliche Ideologie Israels oder die Politik der israelischen Regierung kritisieren, sind ja keine Antisemiten.
Es mag unter denen solche geben. Aber die Kritik an Israel ist ja mittlerweile fast schon universell, und sie schließt sehr viele Menschen jüdischer Herkunft und jüdischer Identität ein, die mit der Politik Netanjahus ebenfalls nicht einverstanden sind.
Es ist tragisch, dass Israel ständig gleichgesetzt wird mit dem Judentum. Denn das hat zur Folge, dass angesichts des großen Hasses, der sich in der Region gegenüber Israel wegen dessen brutaler Kriegsführung aufbaut, Juden weltweit Gefahr laufen, Opfer von Racheakten gegen die Politik Israels zu werden. Das würden wir dann vermutlich als Antisemitismus bezeichnen, zu Recht ja auch, aber es wäre vor allem eine Reaktion auf diese Politik im Nahen Osten, die dann möglicherweise Unschuldige trifft.
Man muss also deutlich trennen zwischen der Regierung Netanjahu und dem Judentum. Das Judentum ist sehr, sehr viel komplexer, vielschichtiger, intellektuell ausgewogener als das, was die israelische Regierung zu bieten hat. Die ist ja fast eine böse Karikatur dessen, was man unter jenem jüdischem Universalismus verstehen könnte, wie er einst von Hannah Arendt oder anderen intellektuellen Granden vertreten wurde.
Ich glaube, dass es in Deutschland wie auch im Ausland viele Juden betrübt zu sehen, wie im Namen des Judentums eine Politik betrieben wird, die sich dem Vorwurf des Völkermordes ausgesetzt sieht.
Es ist immer das Argument, dass der 7. Oktober 2023 ein furchtbares Massaker war, was ja auch richtig ist. Und dass man sich auf israelischer Seite überlegt hat, wie man darauf reagieren kann, ist vollkommen legitim. Aber es geht ja in Israel um weit mehr als nur darum, den Terror zu bekämpfen. Die israelische Seite versucht gerade im Einklang mit den USA, eine neue Karte des Nahen und Mittleren Ostens zu zeichnen.
Das bedeutet konkret, dass die israelische Regierung zweierlei möchte: Erstens zu gewährleisten, dass das gesamte Eretz Israel, also das vermeintlich biblisch verheißene Land zwischen Mittelmeer und Jordanfluss und damit das eigentliche Palästina, ausschließlich jüdisches Land sei.
Was macht man dann aber mit der palästinensischen Bevölkerung? Seitens der israelischen Militärs gibt es Pläne, einen Großteil der Palästinenser zu vertreiben – vor allem aus dem Gazastreifen. Allerdings ist unklar, wohin die Menschen abgeschoben werden sollen.
▶ Ich würde gern noch mal in die Vergangenheit zurückgehen. Sie beschreiben in Ihrem Buch ausführlich die Entstehungsgeschichte des Staates Israel. Und auch da spielt Vertreibung eine entscheidende Rolle, denn diese Entstehungsgeschichte war ja mit der Vertreibung eines Großteils der palästinensischen Bevölkerung verbunden. Nun kann man das, was geschehen ist, nicht wieder rückgängig machen. Welche Rolle spielt dieser Konflikt für die Lösung der heutigen Probleme?
Michael Lüders: Sie haben vollkommen recht. Man kann die Uhr nicht zurückdrehen, und im Grunde wissen alle Beteiligten, dass es eine Lösung nur in Gestalt einer Zwei-Staaten-Lösung geben kann. Genau das war ja auch vorgesehen, es wird von den Vereinten Nationen seit 1967 ohne Unterbrechung propagiert.
Gerade erst wurde eine weitere Resolution verabschiedet, aus der unmissverständlich hervorgeht, dass alle Siedlungsaktivitäten Israels im Westjordanland illegal sind. Das interessiert nur niemanden in Israel. Das Kernproblem ist in der Tat, dass der Staat Israel 1948 auf der Grundlage der Vertreibung eines Großteils der Palästinenser gegründet wurde.
Das ist die Ursünde, mit der man sich in Israel, aber auch in der jüdischen Diaspora mehrheitlich nie auseinandergesetzt hat. Man hat dieses Thema immer verdrängt, aber dieses Verdrängte holt jetzt gewissermaßen die Region, holt Israel wieder ein. Denn man kann nun mal die Realität der Palästinenser nicht einfach verdrängen oder glauben, man könne dieses Problem mit militärischen Mitteln allein unter Kontrolle halten.
Genau das ist aber die Haltung, die man in Israel zu haben scheint. Allein mit militärischer Gewalt das Projekt Groß-Israel dauerhaft zu verwirklichen. Dazu bedarf es der Vertreibung möglichst vieler Palästinenser, also einer weiteren Nakba, einer weitere Katastrophe, wie die Palästinenser sagen. Die erste große Vertreibung fand 1948 im Zuge der israelischen Staatswerdung statt, die zweite 1967 im Zuge des Sechs-Tage-Krieges.
Den wenigsten ist bewusst, dass in dem Zusammenhang nicht nur Palästinenser vertrieben wurden, sondern auch eine große Zahl an Syrern aus den von Israel mittlerweile annektierten Golanhöhen.
Es ist leider immer so gewesen – ich habe versucht, das in meinem Buch zu beschreiben – dass die israelische Seite zwar rhetorisch zu Kompromissen bereit war, aber nie in der Realität. Man hat sich zum Frieden und zum Ausgleich mit den Palästinensern bekannt, gleichzeitig aber durch einen immer weiter ausufernden Siedlungskolonialismus Fakten geschaffen, die die Gründung eines palästinensischen Staates unmöglich machen.
Mittlerweile hat sich die Siedlungsbewegung in ihrer religiösen wie auch in ihrer säkularen Variante den israelischen Staat sich gewissermaßen untertan gemacht. Die israelische Politik wird heute geprägt von ultrarechten Bewegungen, Ultranationalisten, die in vielerlei Hinsicht an faschistoide Bewegungen erinnern und die nicht auf Ausgleich setzen, sondern auf Vertreibung, Unterdrückung und auch auf die Ausweitung des Krieges. Das ist ja das Konzept der israelischen Regierung.
Widersacher müssen ausgeschaltet werden, um das eigene Groß-Israel-Projekt verwirklichen zu können. Das betrifft die Hamas, das betrifft die Hisbollah, die Partei Gottes im Libanon, und es betrifft perspektivisch auch den Iran.
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▶ Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich Israel immer wieder zur Wehr setzen musste gegen Terrorangriffe oder feindselige Aktionen seiner arabischen Nachbarn. Israel war ja praktisch dauerhaft in einer Art Kriegszustand bzw. im Kampf gegen den Terror. Nehmen wir die Hamas, die im Westen als Terrororganisation gilt. Sie beschreiben sie in ihrem Buch komplexer. Aber die Frage ist doch: Wie kann man mit solchen Kräften umgehen?
Michael Lüders: Indem man dafür Sorge trägt, dass ihnen der gesellschaftliche Nährboden entzogen wird. Warum sind die Hamas und die Hisbollah entstanden? Beide entstanden als Reaktion auf die israelische Besatzung, auf eine unerträgliche Lebenswirklichkeit für Millionen von Menschen.
Wenn ein Land oder ein Volk versucht, ein anderes dauerhaft zu unterdrücken, dann erntet man auf diese Art und Weise Widerstand. Dieser Widerstand wird im Westen als Terrorismus gesehen und bezeichnet, natürlich auch in Israel selbst. Aus palästinensischer, aus arabischer Sicht aber sind Hamas und Hisbollah keine Terrororganisationen, sondern Kräfte, die sich gegen die Anmaßung Israels zur Wehr setzen, sich das gesamte Palästina und darüber hinaus auch andere Regionen des Nahen Ostens untertan zu machen.
Das muss man verstehen, obwohl es in Deutschland nicht üblich ist, die Dinge so zu betrachten. Im Gazastreifen werden die Menschen seit Jahrzehnten eingesperrt. Vergessen wir nicht, 2006 gab es dort Wahlen, die die Hamas gewann. Es waren freie und geheime Wahlen, aber dieser Wahlsieg wurde vom Westen, von der EU, den USA und von Israel nicht anerkannt. Seither leben die Palästinenser im Gaza-Streifen wie in einem Käfig, in einem Freiluftgefängnis, aus dem man nicht herauskommt.
Auf diese Art und Weise züchtet man die Gewalt. Hätte man einen wirklichen Friedensprozess eingeleitet, nämlich den Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten, dann wäre die Geschichte wahrscheinlich anders verlaufen. Nun werden die meisten sagen, Israel hat sich doch 2005 aus dem Gazastreifen zurückgezogen, und die Antwort war trotzdem Terror und Gewalt.
Dabei übersieht man allerdings, dass die Israelis sich zwar aus dem Gaza-Streifen zurückgezogen haben, ihre Panzer aber nur neu positioniert wurden, nämlich unmittelbar vor dem Gaza-Streifen. Und gleichzeitig wurde der Gaza-Streifen belagert. Daran hat sich über all die Jahre nichts geändert, weswegen er aus der Perspektive des Völkerrechtes noch immer als von Israel besetzt gilt.
Das wissen die meisten hierzulande nicht oder wollen es nicht wissen. Auf diese Zusammenhänge hinzuweisen, heißt nicht, die Hamas oder die Hisbollah in einer Weise in Schutz zu nehmen. Natürlich haben die viel Blut an ihren Händen, gar keine Frage. Und das sind auch keine Sympathieträger, zumindest nicht was ihre Führungsebene angeht.
Aber man muss sehen, dass die einfachen Menschen, die sich diesen Organisationen anschließen, sich tatsächlich als Widerstandskämpfer betrachten und als solche auch bereit sind, in den Tod zu gehen.
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▶ Trotzdem bleibt die Frage, wie man jetzt mit der Hamas umgehen soll, die für das fürchterliche Massaker vom 7. Oktober vorigen Jahres verantwortlich ist. Viele Hundert Zivilisten, unschuldige Menschen wurden auf grausame Weise ermordet. Israel sagt, unser Recht auf Selbstverteidigung gebietet, dass wir die Hamas nicht nur in die Schranken weisen, sondern sie als Terrororganisation auslöschen. Sie sagen, das funktioniert nicht, weil ihre Wurzeln viel tiefer liegen. Was also muss passieren?
Michael Lüders: Es müsste diplomatische Bemühungen geben, um den Konflikt grundlegend einzuhegen und zu entschärfen.Das bedeutet, Israel als die stärkste Macht in der Region, als den entscheidenden Machtfaktor dazu zu bewegen, sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen und die Gründung eines palästinensischen Staates in den 1967 von Israel eroberten Gebieten zuzulassen. In dem Moment, in dem es diese Perspektive für die Palästinenser gibt, werden radikale Bewegungen die große Unterstützung, die sie genießen, verlieren.
Die Hamas ist trotz der Ermordung ihres Chefs Sinwar noch immer eine starke Organisation, die auch von vielen Arabern außerhalb der palästinensischen Kreise aktiv unterstützt wird. Erst kürzlich haben mehr als 100.000 Menschen in der jordanischen Hauptstadt Amman für die Unterstützung der Palästinenser demonstriert und dabei gerufen: "Wir alle sind Yahya Sinwar!".
Aus unserer Perspektive kann das gar nicht sein, denn er war ja ein Massenmörder und Terrorist. Warum also identifizieren sich die Menschen in Jordanien, darunter viele Palästinenser, mit diesem Mann?
Weil er aus ihrer Sicht ein Widerstands- und Freiheitskämpfer gegen die israelische Besatzung war. Das ist eine Perspektive, die uns nicht gefällt und auch nicht gefallen kann. Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass die Dinge dort so gesehen werden. Und deshalb ist es auch illusorisch, dass die israelische Armee die Hamas besiegen könnte. Das kann sie nicht.
Stattdessen hat sie durch ihre brutale Kriegsführung mit Zehntausenden von Toten und der Zerstörung der gesamten Infrastruktur die Saat für mindestens zwei, drei neue Generationen bewaffneter Widerständler gelegt. Und dieser Kreislauf der Gewalt wird sich nicht durchbrechen lassen, ohne dass es eine Perspektive für die Palästinenser gibt.
Es gibt keine einfachen Lösungen, aber das Hauptproblem bleibt die ungelöste Palästina-Frage und bleibt der Umstand, dass die USA aus geostrategischen Erwägungen heraus Israel ohne Wenn und Aber unterstützen und mit Waffen beliefern – allein in diesem Jahr im Wert von sage und schreibe 47 Milliarden US-Dollar.
Das tun die Amerikaner vor allem deshalb, weil sie ein Interesse daran haben, dass Israel den Iran in Schach hält. Israel spielt ja auch tatsächlich mit dem Gedanken, den Iran anzugreifen, wohl wissend, dass die US-Amerikaner ihnen beiseite stehen dürften. Dass es einen solchen Angriff auf den Iran geben wird, scheint mir unausweichlich.
Die Frage ist nur, welche Ziele Israel dort angreift und welche Reaktionen es geben wird. Es bleibt eine sehr explosive Situation, und die Annahme, man könne mit militärischer Gewalt allein Frieden schaffen, ist eine Illusion. Denn man kann nicht ein Land wie Israel auf Tod und Verderben so vieler Palästinenser und jetzt auch zunehmend Libanesen begründen. Das kann nicht gelingen. Zwischen Mittelmeer und Jordanfluss leben etwas mehr als 14 Millionen Menschen. Weniger als die Hälfte davon sind Juden.
Und wenn die israelische Regierung der arabisch-islamischen Welt mit mehr als zwei Milliarden Menschen praktisch den Krieg erklärt, wie das dort von vielen wahrgenommen wird, dann ist das schon Hybris, also Selbstüberschätzung und wird nicht gut enden für Israel. Obgleich Israel über Atombomben verfügt, kann es mit seiner Nachbarschaft nicht gänzlich in Unfrieden leben.
Auf politischer Ebene gibt es zwar in den arabischen Staaten Opportunismus. Aber was die einfachen Menschen dort angeht, so gibt es kaum jemanden, der nicht verzweifelt, wütend und voller Hass angesichts der Politik Israels ist, die das Sterben so vieler Menschen zur Folge hat.
Dietmar Ringel sprach mit dem Nahost-Wissenschaftler und Publizisten Michael Lüders. Sein neues Buch "Krieg ohne Ende? – Warum wir für Frieden im Nahen Osten unsere Haltung zu Israel ändern müssen" ist bei Goldmann erschienen.