Jugoslawische Rundfunkreporter warnen vor Bombenangriffen
Unabhängige Radio- und Fernsehstationen in der Republik Jugoslawien fürchten Repressalien
ANEM, der Verband der Unabhängigen Elektronischen Medien in Jugoslawien, richtet sich mit einem dramatischen Appell an die internationale Gemeinschaft, von Bombenangriffen auf Jugoslawien in Zusammenhang mit der Kosovo-Krise abzusehen. Veran Matic, ANEM Vorsitzender und einer der Köpfe von Radio B92, dem Sender, der via Internet auch während des Bosnienkriegs die Verbindungen zur Außenwelt aufrecht halten hatte können, argumentiert in einem über das Internet verbreiteten Rundschreiben, daß die NATO-Drohungen bezüglich eines Militärschlages eine wahrhaft dramatische politische und soziale Situation geschaffen haben.
Sowohl die staatlichen Medien als auch extremistische nationalistische Parteien führen schon seit einiger Zeit eine intensive Kampagne gegen alle, die abweichende politische Ansichten vertreten. Der stellvertretende serbische Ministerpräsident Vojislav Seselj sprach offene Drohungen gegen unabhängige jugoslawische Medien aus, die mit ausländischen Medien, wie Deutsche Welle oder BBC, zusammenarbeiten. Laut Matic soll Seselj gesagt haben "nichteinmal die Genfer Konvention schützt diese Journalisten". ANEM fürchtet nun, daß im Falle eines Bombenangriffs ein nationalistischer Lynch-Mob auf Journalisten gehetzt, oder daß sie als Geiseln genommen werden könnten.
Radio B92 und alle weiteren Mitglieder des ANEM Radio Netzwerks erreichen zusammen 80% der Bevölkerung der aus Serbien und Montenegro bestehenden Republik Jugoslawien. Über ihre Sender verbreiten sie auch Programme der Voice of America, der BBC und von Radio Free Europe. Eine größere Anzahl von Journalisten des ANEM Netzwerks arbeiten auch als Korrespondenten für internationale Medien.
Radio B92 und ANEM können für sich beanspruchen, mit ihrer unabhängigen Berichterstattung während des Bürgerkriegs in Kroatien und Bosnien der kriegstreiberischen Propaganda des Belgrader Regimes entgegengearbeitet zu haben. Tägliche objektive Berichterstattung über die Vorgänge im Kosovo würde auch gegenwärtig Zweifel in der Bevölkerung über die offizielle Linie wachrufen, daß durch militärische Repression die territoriale Einheit aufrechtzuerhalten sei.
Neben individueller, physischer Gewalt fürchten die Journalisten auch, daß die Regierung demnächst zu totalitären Maßnahmen greifen könnte. B92 und andere Sender des ANEM Netzwerks waren in den vergangenen Jahren mehrfach von Schließungen bedroht gewesen. Bislang hatten diese Bedrohungen jedoch auf Maßnahmen innerhalb des legalen Rahmens beruht, wie etwa Kündigung von Lizenzverträgen und Neuverhandlungen auf Basis der Forderung hoher Lizenzgebühren. Die Gründung von ANEM erfolgte teilweise in Reaktion auf derartige Maßnahmen. Im Falle von Bombenangriffen seien aber radikalere Maßnahmen zu befürchten, wie Massenschließungen von Sendern und Ausübung strikter Zensurkontrolle über die, denen es weiterhin erlaubt ist, zu senden.
Daher bekräftigen die ANEM Mitglieder ihre Position, daß eine internationale militärische Intervention ein falscher politischer Schachzug sei, der nur Schaden anrichten könne, von politischer und staatsmännischer Unfähigkeit zeugt, ebenso wie von einem Mangel an einer langfristigen Lösung für das politische Drama am Balkan. Mögliche Luftangriffe auf Jugoslawien würden den nationalistischen Kräften eine mächtige Waffe in die Hand geben. Das verbreitete Gefühl, daß die serbische Nation Opfer einer internationalen Verschwörung gegen sie sei, würde nur den Geist der Rache und des Isolationismus schüren, was eines der Ziele des Milosevic-Regimes sei, seitdem es die Macht ergriffen hat.
Die Warnungen von ANEM gewinnen umsomehr Gewicht, als die gestrigen Verhandlungen zwischen US-Sondervermittler Richard Holbroke und Präsident Slobodan Milosevic ergebnislos beendet wurden. Ein Militärschlag der internationalen Staatengemeinschaft, der nach britischen Quellen "technisch innerhalb weniger Stunden" möglich sei, hängt nun hauptsächlich von der Bewertung des Kosovo-Berichts von UNO Generalsekretärs Kofi Annan durch die Mitglieder des UN-Sicherheitsrates ab.
Opennet, der Internetzweig von Radio B92