Juncker-Nachfolgedebatte jetzt voll entbrannt
Fraktions-, Staats- und Regierungschefs beraten
Heute Vormittag sprachen die Vorsitzenden der Fraktionen im EU-Parlament über Personalfragen, die sich nach dem Bekanntwerden des Wahlergebnisses stellen. Als wichtigste davon gilt die, wer die Nachfolge von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker übernimmt. Der hatte bereits im letzten Jahr angekündigt, nicht mehr für eine weitere Amtszeit zur Verfügung zu stehen (vgl. "Schwer krank oder sternhagelvoll?").
Das Recht, Junckers Nachfolger zu nominieren, haben dem EU-Vertrag zufolge die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer, die sich heute Abend auf einem Sondergipfel treffen. Ihre Entscheidung muss nicht einstimmig fallen, sondern nur von mindestens 72 Prozent mitgetragen werden. Im EU-Parlament, das diese Entscheidung anschließend bestätigen muss, reicht eine einfache Mehrheit.
Spitzenkandidaten sollen Entscheidung "transparenter" machen
Um die Entscheidung "transparenter" zu machen, stellten Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale und andere Fraktionen erstmals vor den EU-Wahlen 2014 als Anwärter auf diesen Posten "Spitzenkandidaten" auf. Die Christdemokraten nominierten dafür Jean-Claude Juncker, die Sozialdemokraten Martin Schulz und die Liberalen Guy Verhofstadt. Bei der Wahl verloren diese drei Fraktionen deutlich. Die Christdemokraten von 274 auf 215 Sitze, die Sozialdemokraten von 196 auf 185 und die Liberalen von 57 auf 45.
Fünf Jahre später nominierten die Christdemokraten den Niederbayern Manfred Weber, die Sozialdemokraten den Niederländer Frans Timmermanns - und die Liberaldemokraten verabschiedeten sich offiziell aus dem Spitzenkandidatensystem und präsentierten dafür ein siebenköpfiges "Spitzenteam". Inoffiziell galt in diesem Team allerdings die dänische EU-Wettbewerbskommissarin Margrete Vestager als Spitzenkandidatin (vgl. EU-Kommissionspräsidentschaft: Vestager statt Weber?), auch wenn sie Fragen nach dem Wunsch, Kommissionspräsidentin zu werden, bis zur Wahl offen ließ.
Aus Liberalen wurden Liberalmacronisten
Erst gestern räumte sie diese Ambition ein und begründete den Anspruch darauf mit einem "aufgebrochenen Machtmonopol", womit sie die informelle große Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten im EU-Parlament meinte. Die beiden Fraktionen haben nun auch gemeinsam keine Mehrheit, weil sie weiter deutlich verloren: Die Christdemokraten von 215 auf 180 Sitze, die Sozialdemokraten von 185 auf 146. Die Liberalen - so deren Fraktionschef Guy Verhofstadt - hätten dagegen von 45 auf 109 Sitze zugelegt.
Das liegt allerdings zu einem großen Teil daran, dass aus diesen Liberalen Liberalmacronisten wurden, die nicht nur die 23 Abgeordneten von Emmanuel Macrons Renaissance-Wahlbündnis aufnahmen, sondern auch mehrere andere mit dieser Plattform verbündete Gruppen - darunter die spanischen Ciudadanos-Zentralisten und die ungarischen Antiorbanisten von Momentum. Von den schon vorher in der liberalen ALDE-Fraktion vertretenen Parteien haben vor allem die britischen Liberaldemokraten stark zugelegt - von vorher einen Sitz auf jetzt 16. Aber diese Sitze fallen nach einem Brexitvollzug weg.
In seiner Heimat Belgien fuhren Verhofstadts Liberale dagegen Verluste in Höhe von 5,64 Prozentpunkten ein. Mit hohen Zugewinnen zu argumentieren, ist für ihn und Vestager aber potenziell nützlich, weil der EU-Vertrag den Staats- und Regierungschefs vorschreibt, das Ergebnis der Europawahl bei der Auswahl des Kommissionspräsidenten zu "berücksichtigen".
Nationaler Faktor wirkte nicht nur bei Schulz, sondern auch bei Timmermans
Der christdemokratische Spitzenkandidat Manfred Weber argumentiert deshalb, seine EVP sei trotz des Verlusts von 36 Sitzen immer noch stärkste Fraktion, weshalb er Anspruch auf den den Kommissionspräsidentenposten habe. Vorbild ist ihm dabei Jean-Claude Juncker, der 2014 ebenfalls gegen deutliche Stimmverluste argumentierten musste. Ihm nützte damals, dass auch die Sozialdemokraten herbe Verluste eingefahren hatten - außer in Deutschland, wo die SPD mit dem Slogan warb: "Nur wenn Sie Martin Schulz und die SPD wählen, kann ein Deutscher Präsident der EU-Kommission werden".
Dieser nationale Faktor wirkte sich auch 2019 aus. Anders als in den meisten anderen Ländern verloren die Sozialdemokraten in der Heimat ihres Spitzenkandidaten Frans Timmermanns 2019 nicht, sondern legten um 8,7 Punkte auf 18,1 Prozent zu. Und auch der Experte für französische Literatur mit der in Fernsehdebatten offenbarten Geschichtsschwäche will noch nicht aufgeben, sondern hofft auf eine "progressive Mehrheit".
"Berücksichtigen" können die Staats- und Regierungschefs das Ergebnis der Europawahl bei der Auswahl des Kommissionspräsidenten im Zweifelsfall aber auch einfach dadurch, dass sie sich auf einen Kandidaten einigen und ihre Parteien im EU-Parlament anweisen, für ihn zu stimmen. Spitzenkandidat muss er dafür vorher nicht gewesen sein. Manche Beobachter spekulieren deshalb, ob die deutsche Bundeskanzlerin Merkel einen Anspruch auf den Posten geltend macht, wenn sich Emmanuel Macron weigert, Manfred Weber zu nominieren (vgl. Merkel als EU-Kommissionspräsidentin?).
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