Kann Russland den Erdgaspreis senken?
Nach Expertenansicht kann Russland kurzfristig gar nicht so viel mehr liefern, dass der Erdgaspreis wieder auf das alte Niveau sinkt. In den nächsten Jahren sind hohe Energiepreise vorprogrammiert
Hieß es zunächst von vielen deutschen Medien und Politikern, Russland verursache vorsätzlich die aktuell hohen Erdgaspreise auf dem europäischen Markt, wurden nun die Anklagen zumindest teilweise eine Stufe zurückgenommen.
Die Anschuldigung wechselt
Den neuen Konsens der Berichterstattung fasst die Frankfurter Allgemeine Zeitung gut zusammen:
Russland ist nicht schuld am hohen Gaspreis. Aber der Staatskonzern Gazprom hilft auch nicht ihn zu senken. Denn Moskau hat Interesse am Scheitern der europäischen Klimawende.
FAZ
Hier lohnen drei Aspekte einer näheren Erörterung: Hat Russland tatsächlich objektiv ein Interesse daran, Gaspreise länger in rekordverdächtigen Höhen zu halten? Fügt es damit der Klimawende Schaden zu? Und hat Russland aktuell die Möglichkeit, den Preis für Erdgas massiv zu senken, wie es weite Teile der deutschen Berichterstattung suggerieren?
Inwieweit nützt ein längeres Preishoch Russland?
Kurzfristig gedacht sind hohe Preise für Großproduzenten wie Gazprom ein schönes Geschäft. Wo immer man das Erdgas hin pumpt - es lässt sich mit großen Gewinnen verkaufen. Auch wenn der Konzern im Staatsbesitz ist, darf man nicht vergessen, dass es sich doch um ein kapitalistisches Wirtschaftsunternehmen handelt, das nach Gewinnmaximierung strebt. So finanziert sich Russland - über die Einnahmen der Staatskonzerne, die Rohstoffe ins Ausland verkaufen.
Doch lässt sich der Gewinn mit einem anhaltend überhöhten Preis für Gazprom tatsächlich maximieren? Ein für Produzenten unangenehmer Nebeneffekt überhöhter Preise ist in Russland bekannt: Die Kunden fangen an beim Gasverbrauch zu sparen und - wenn es irgendwie geht - nach Alternativen zur Befriedigung ihres Energiebedarfs zu suchen. Gegebenenfalls nach dauerhaften Alternativen.
Das ist keine Theorie, sondern ein aktueller Fakt. So berichtet die Financial Times, dass der Stahl-Großproduzent ArcelorMittal seine Produktion sogar komplett unterbrochen hat, so lange die Energiekosten so hoch sind. Das ist kein Einzelfall. Die Moskauer Zeitung Kommersant schreibt, dass der Gasabsatz gegenüber der Zeit vor der Pandemie in Europa um 12 Prozent zurückging. Neben Stahlherstellern hätten wiederum deren Großkunden wie Werften oder Kraftwerksausrüster unter dem Preishoch zu leiden.
Russland will inzwischen selbst "grüner" werden
Suchen Wirtschaftsunternehmen aus Kostengründen nach Alternativen zur blauen Flamme, treibt russlandkritische Kräfte im Westen aus politischen Gründen die Alternativsuche um. Gerade der grüne Flügel der äußerst russlandkritischen Politik nutzt den Preishype für die Forderung nach einer Beschleunigung der Wende zu erneuerbaren Energien. In Deutschland werden die Grünen bald mitregieren und die erwartungsvolle Klimabewegung sitzt ihnen bei diesem Thema bereits ungeduldig im Nacken.
Sollte Russland tatsächlich mit einem anhaltenden Preishoch die grüne Energiewende blockieren wollen, ging der Schuss wohl nach hinten los. Mit diesem Bild, Russland betrachte die Energiewende als etwas "feindseliges", sind einige kritische politische Beobachter Russlands nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit. Sie sollten sich über die aktuelle russische Regierungspolitik besser informieren.
Diese hat sich im Zuge klimabedingter Naturkatastrophen wie beispielloser Waldbrände im ganzen Land jüngst geändert.
Zwar gilt Putin persönlich nicht gerade als Freund der Stromerzeugung aus Wind oder Sonne. Dennoch hat er mit zeitlicher Verzögerung die Notwendigkeit der Energiewende erkannt und sieht den Klimawandel als ernstes Problem. Russland hat nach langer Diskussion 2021 ein eigenes CO2-Gesetz verabschiedet.
Es ist nicht nur Mitunterzeichner aller Klimaabkommen, sondern seit Kurzem auch selbst aktiv etwa bei der Steigerung der E-Mobilität im eigenen Land. Der Kreml hat sich in den letzten beiden Jahren mehrere Fachkräfte für erneuerbare Energien ins Team geholt.
Warum will Russland über Nord Stream 2 liefern?
Nun stellt sich noch die Frage, inwieweit Russland zur Senkung des Gaspreises kurzfristig beitragen kann? Da das Preishoch im Wesentlichen eine Folge einer gesteigerten Nachfrage in Europa und Ostasien ist, könnte Gazprom mit einer entsprechenden Steigerung des Gasangebots in Europa gegensteuern? Absichtserklärungen hierzu von Putin oder anderen russischen Spitzenpolitikern dazu bestehen ja.
Weil die neue Erdgaspipeline Nord Stream 2 noch keine deutsche Betriebserlaubnis besitzt, müsste hierzu durch die vorhandenen alten Sowjetleitungen via Belarus und Ukraine mehr Gas gepumpt werden. Das ist für Gazprom nicht sonderlich attraktiv, denn es ist schlicht und ergreifend teurer für die Russen, über diese Leitungen Gas zu liefern. Transitgebühren fallen - anders als bei der neuen Meeresleitung - an, die Leitungsverluste sind höher. So gäbe es schon eine gewinnorientierte Motivation mit der Einspeisung von zusätzlichem Gas bis zur Nord-Stream-2-Inbetriebnahme zu warten.
Wenn Putin hier in der russischen Presse angibt, schon aus ökologischen Gründen sei es nicht sinnvoll, mehr Gas über die alten Sowjetpipelines zu pumpen, hat er ebenfalls recht - die CO2-Bilanz dieser Leitungen ist im Vergleich zu Nord Stream 2 miserabel. Klimaschädliches Methan tritt aus den porösen Leitungen. Aber natürlich spielt der höhere Preis dieser Lieferung für Gazprom in Wirklichkeit die größere Rolle, die Meeresleitung zu bevorzugen.
Das wissen auch die Ukrainer - und so macht der dortige Staatskonzern Naftogaz den Russen gerade ein Sonderangebot, zusätzliches Erdgas zum halben Transitpreis durch das eigene Land zu leiten - die Hälfte der dadurch entstehenden Mehreinnahmen ist auch Geld. Doch ganz unabhängig vom Weg - wie viel Gas kann Russland mehr liefern?
Inwieweit kann Russland mehr Erdgas liefern?
Mit dieser Frage hat sich der russische Energieexperte Marcel Salichow in einer Analyse für das Moskauer Carnegiezentrum beschäftigt. Zunächst stellt er fest, dass die weiteren Gasproduzenten wie Norwegen aktuell nicht die Möglichkeit haben, über eine Mehrproduktion wirkungsvoll Einfluss auf den Preis für Erdgas zu nehmen.
Bei Russland schaut es nach seiner Meinung nur wenig besser aus. Die Förderung des Landes beruht auf wenigen großen Feldern. Während einige davon weitgehend ausgebeutet sind, laufen zahlreiche Lieferungen über das 2012 eröffnete Feld Jamal - die nächste Erschließung eines größeren Feldes ist erst für 2023 projektiert.
Salichow beziffert nach Angaben von Gazprom die 2020 noch nicht ausgeschöpfte Überkapazität auf 100 Milliarden Kubikmeter. Davon seien 60 Milliarden durch 2021 bereits vorgenommene Kapazitätssteigerungen schon ausgeschöpft. Den Rest könne man nicht komplett für die Füllung der europäischen Gasspeicher reservieren. Denn Gazprom habe auch die Pflicht, die innerrussischen Gasspeicher zu füllen und hier steige der Verbrauch ebenso wie in Europa. Insgesamt könne Gazprom nicht mehr als 15 Millionen Kubikmeter zusätzlich nach Europa liefern.
Die russischen Gazprom-Konkurrenten kontrollieren zusammen nur etwa ein Drittel der Gesamtproduktion, dürfen ihr Gas jedoch nur auf dem Inlandsmarkt oder per Flüssiggasexport anbieten, also nicht über die großen Pipelines. Keiner dieser Produzenten habe jedoch auch bei einer Aufhebung dieser Exportbeschränkung die Kapazität, eine nennenswerte Gasmenge nach Europa zu liefern, die den Gasengpass beseitigt.
Die Mehrproduktion, die möglich ist, wird ausreichen, gemeinsam mit dem Inhalt der Gasspeicher den Winter zu überstehen - jedoch nicht, den Preis für Erdgas wieder auf das frühere Normalniveau zurückzufahren. Johannes Benigni, Chef des Beratungsunternehmens JBC Energy, prognostiziert gegenüber dem US-Sender CNBC sehr hohe Erdgaspreise bis 2025.
Da auch die übrigen fossilen Energieträger wie Kohle oder Erdöl im Preishoch sind, wird den Europäern gar nichts anderes übrig bleiben, als ihren Umbau auf erneuerbare Energien zu forcieren. Denn dort wird günstig geliefert, sobald die Kapazität über Investitionen geschaffen wurde.
Allerdings nicht gleichmäßig, so dass Erdgas und andere fossile Energien in den nächsten Jahren weiter die Rolle des Brücken-Energieträgers spielen müssen. Auf hohe Kosten sollte man sich einstellen.