Kapitalismus-Visionen und das Gespenst des Sozialismus

Deutsche Bank-Chef Josef Ackermann sieht die marktwirtschaftliche Ordnung in Gefahr

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Kein Zweifel, Franz Müntefering, der Herz- und Schließmuskel der guten alten Sozialdemokratie, hat seine Kapitalismus-Kritik zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt vorgetragen. Jedenfalls aus Sicht der Genossen, die in Nordrhein-Westfalen mit dem neuesten Programmpunkt auf Granit zu beißen scheinen. Schließlich fragt sich so kurz vor der Landtagswahl im roten Schlaraffenland selbst der unbedarfteste Betrachter, warum die Berliner Koalition annähernd zwei komplette Legislaturperioden auf der Regierungsbank verbringen musste, um ihr soziales Gewissen wiederzuentdecken. Der Vorwurf der bloßen Wahltaktik setzt den Urheber in scheinheiliges Zwielicht, doch der Inhalt seiner zornigen Rede zeigt gleichwohl Wirkung.

Denn auch wenn die Nordrhein-Westfalen und mit ihnen alle anderen Deutschen nicht daran glauben, dass der Parteivorsitzende es wirklich ernst meint, ist die große Mehrheit fest davon überzeugt, dass im einstigen Wirtschaftswunderland einiges aus der Balance geraten ist. Im Zentrum der Kritik stehen Konzerne, die trotz erstklassiger Bilanzen und spektakulärer Gewinnspannen Arbeitsplätze im großen Stil abbauen und ihren Vorständen astronomische Gehälter zukommen lassen.

Rolf-E. Breuer und Josef Ackermann während der Jahreshauptversammlung. Bild: Deutsche Bank

Zu ihnen gehört auch die Deutsche Bank, deren Vorstandssprecher Josef Ackermann jüngst in einem Atemzug einen Jahresgewinn von 2,5 Milliarden Euro und den Abbau von 6.500 Arbeitsplätzen verkündete. Ackermann, dessen persönliches Jahresgehalt auf rund zehn Millionen Euro geschätzt wird, setzte damit eine Unternehmenstradition fort, die seit geraumer Zeit auf den maximalen Imageschaden zielt. Nach der Milliardenpleite des Baulöwen Jürgen Schneider sprach Hilmar Kopper von "Peanuts", und Rolf Breuer philosophierte öffentlich über die Kreditwürdigkeit seines Kunden Leo Kirch, bevor bereits erwähnter Josef Ackermann auf den Plan trat und sich in einem Gerichtssaal, in dem über die nicht ganz unbeträchtlichen Mannesmann-Abfindungen verhandelt wurde, mit einem Victory-Zeichen sehen ließ.

Der Vorstandssprecher der Deutschen Bank geriet also nicht ganz zufällig ins Visier des sozialdemokratischen Parteivorsitzenden, doch bei der Jahreshauptversammlung, die am Mittwoch in Frankfurt am Main stattfand, schlug Ackermann in seiner Rede zurück. Zunächst mit den bekannten Zahlen:

In 2004 ist der Gewinn vor Steuern um 46% auf 4 Mrd. Euro gestiegen, der Gewinn nach Steuern sogar um 81% auf 2,5 Mrd. Euro. Im ersten Quartal dieses Jahres erzielten wir einen Gewinn vor Steuern von 1,8 Mrd. Euro und nach Steuern von 1,1 Mrd. Euro.

Josef Ackermann

Gute Nachrichten also für die Aktionäre, deren Dividende gegenüber dem Vorjahr um 20% erhöht wird. Doch Ackermann denkt nicht nur an die Deutsche Bank-Familie. Die schwere Krise, in der sich die gesamte Republik derzeit befindet, erfordert eine "Neuordnung des Verhältnisses zwischen Staat und Bürgern", sprich: mehr Marktwirtschaft und weniger staatliche Fürsorge.

Öffentliche Leistungen werden überprüft. Verantwortung wird an die Bürger zurückgegeben. Das ist gut so. Denn durch mehr Bürgerfreiheit und "weniger Staat" entstehen neue Handlungsmöglichkeiten.

Josef Ackermann

Schade nur, dass nicht alle die Gunst der Stunde erkennen. Ackermann ist fest davon überzeugt, dass Deutschland ein "Global Winner" werden kann, aber die Deutschen wollen aus vorerst unverständlichen Gründen nicht ihres Glückes Schmied werden. Hilf- und ratlos muss der Vorstandssprecher mit ansehen, wie die missliche Situation von den demoralisierten Einheimischen nicht als "Gewinn an Freiraum" wahrgenommen wird, "sondern als Verlust von Sicherheit und Stabilität". Dabei bemüht sich gerade sein Unternehmen auch um das geistige Klima und stellt pro Jahr rund 70 Millionen Euro für Kulturelles und Soziales bereit, "zum Beispiel für die Unterstützung der Berliner Philharmoniker oder die Förderung deutscher Olympiakandidaten". Ackermann nennt das die "zweite Dividende" und empfindet Münteferings Vorstoß auch deshalb als "beschämend" und die Art der Wortwahl als beängstigenden Rückfall in überwunden geglaubte Zeiten, wenn nicht gar als veritable Gefährdung der marktwirtschaftlichen Ordnung.

Niemand – zumindest niemand, den ich kenne – will einen "Kapitalismus pur" und schon gar nicht einen "Raubtier-Kapitalismus". Das sind Vokabeln aus der Zeit des realen Sozialismus, und wohin der geführt hat, ist ja bekannt.

Josef Ackermann

Immerhin lässt Josef Ackermann keinen Zweifel daran, wohin er sein Unternehmen führen will.

Wertschöpfung, Wohlstand und Wachstum sind nur möglich, wenn die Unternehmen angemessene Erträge erwirtschaften können. (...) Wir können es uns nicht leisten, erst dann zu handeln, wenn wir rote Zahlen schreiben. (...) Wir alle hier in Deutschland sollten mehr Zuversicht, mehr Optimismus ausstrahlen, und vor allem sollten wir den jungen Menschen in unserem Land eine klare Perspektive geben.

Josef Ackermann

Die Erträge sollen gesteigert und die Risiken minimiert werden. Das bedeutet Kosteneffizienz (auch) durch Personalabbau, denn als Global Player will Ackermann mit seinem Unternehmen in den zentralen Geschäftsfeldern ein ehrgeiziges Ziel erreichen. Ihm geht es darum, "schneller zu wachsen als der Markt und so das profitable Wachstum der Bank zu beschleunigen." Stolz verweist Ackermann auf den wachsenden weltweiten Einfluss der Deutschen Bank, der auch durch den Kauf konkurrierender Unternehmen oder die Beteiligung an ihnen gesteigert werden kann. Er selbst nennt eine Reihe eindrucksvoller Beispiele aus Deutschland (Erwerb der Wilhelm von Finck AG), der Schweiz (Erwerb des Bankhauses Rüd, Blass & Cie), den USA (Erwerb des Baufinanzierers Berkshire Mortgage), Russland (Beteiligung an der Investmentbank United Financial Group), der Türkei (Übernahme des Brokerhauses Bender Securities) oder China (Joint Venture mit dem Vermögensverwalter Harvest Asset Management).

Kein Wunder also, dass sich der international Erfahrene auch ernsthafte Sorgen um den Gemütszustand ausländischer Investoren macht, die mit einer Mischung aus fassungslosem Unverständnis und angeborenem Ekel Richtung Deutschland blicken:

Im Ausland wird die deutsche Debatte aufmerksam verfolgt, und zwar mit Verwunderung und Kopfschütteln. Man fragt sich dort: Was hat man in Deutschland gegen ausländische Investoren? Was gegen erfolgreiche Unternehmen? Was gegen Unternehmer, die neues Kapital in unser Land bringen und damit neue Arbeitsplätze schaffen? Sollen die künftig einen großen Bogen um unser Land machen?

Josef Ackermann

Die Frage, ob ausgerechnet der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, der sich gerade damit beschäftigt, allein in Deutschland 1.920 Arbeitsplätze abzubauen, geeignet ist, über die Schaffung neuer Jobs zu philosophieren, mag durchaus interessant sein. Allerdings löst sie den aktuellen Streit vermutlich ebenso wenig wie der jüngste Beschluss der Bundesregierung, die Aktien-Gesellschaften nun doch gesetzlich verpflichten will, die Gehälter ihrer Vorstandsmitglieder zu veröffentlichen. Die Bekanntgabe des Salärs verrät schließlich noch nicht, ob der Empfänger die teilweise astronomischen Summen auch tatsächlich verdient hat, und diese Frage gehört immerhin zum Kernbereich der Kapitalismus-Debatte.

Doch sie wird seltsamerweise nicht ernsthaft gestellt. Nicht einmal in Frankfurt am Main, wo sich Ackermanns Kritiker in staatlicher Anzahl einfanden, um vor der Halle zu protestieren oder – wie Aktionärsvertreter Hans-Martin Buhlmann – ihren Unmut in gewählten, lange nachhallenden und unbedingt zitierfähigen Worten mitzuteilen. "Die Deutsche Bank macht nicht alles richtig", ließ Buhlmann wissen, "aber in der Öffentlichkeitsarbeit macht sie alles falsch." Und auch Klaus Nieding von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz erregte sich über den "medialen GAU", den das Unternehmen in den letzten Jahren produziert hat.

Wer mit am Tisch sitzt, meckert dann eben doch nur über das Aussehen der Speisekarte oder das bisschen Schmutz auf der Reklametafel. Aber kann die ganze Kapitalismus-Debatte, die Müntefering losgetreten hat, schon durch eine bessere Außendarstellung zu einem befriedigenden Ende geführt werden? Frei nach dem bewährten Motto der das Land regierenden Gegenseite: "Wir machen alles richtig, aber die Leute verstehen uns falsch!"

Vermutlich nicht, denn eines verstehen die Leute schon richtig: In den vorgekauten Zukunftsvisionen steckt allerlei Unverdauliches. Irgendetwas läuft falsch mit dem Markt, mit dem Wohlstand für alle, mit dem Optimismus – und das liegt nicht am real existierenden Sozialismus, weil der seit geraumer Zeit nicht mehr real existiert. Deshalb muss es erlaubt sein, in Deutschland vorbehaltlos über Verteilungsgerechtigkeit und die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens zu diskutieren – trotz Müntefering und Ackermann. Schließlich könnten sich auch Solidarität, Verantwortungsbewusstsein und ein Mindestmaß an moralischem Anstand, wenn sie aus dem Zentrum der Gesellschaft kommen, auf Dauer zu wichtigen Standortfaktoren entwickeln.