Kapitalismus und Freiheit
Teil 2: Die Wiener Schule der Volkswirtschaft und ihre amerikanischen Schüler
Ende des 19. Jahrhunderts galten Anarchismus und klassischer Liberalismus noch als unvereinbare ideologische Gegensätze. Immerhin waren von 1864 bis 1872 viele Anarchisten zusammen mit Karl Marx in der Ersten Internationalen organisiert. Doch neben dem Anarchismus, dessen Einfluss in Teil 1 (Es klingt wie eine Mischung aus "liberal" und "pubertär") behandelt wird, finden sich im Wurzelgeflecht libertärer Ideologie ebenfalls Elemente des klassischen Liberalismus. Im Allgemeinen werden die Vorläufer aus diesem Bereich jedoch überbewertet. Der klassische Liberalismus vor dem Auftreten der Wiener Schule der Volkswirtschaft unterscheidet sich nämlich in wesentlichen Punkten von libertärer Ideologie, auch wenn diese in ihrem Stammbaum gerne auf ihn verweist.
Einflüsse des klassischen Liberalismus auf libertäre Ideologie
Vor allem an Adam Smith wird wegen seiner Ausführungen zur "unsichtbaren Hand" des Marktes und deren Vorbildcharakter für libertäre Vorstellungen von Selbstorganisation und "spontaner Ordnung" gerne die Erfinderwürde für libertäre Ideologie herangetragen.1 Tatsächlich aber ist die Weltsicht des Nationalökonomen aus dem 18. Jahrhundert relativ inkompatibel mit libertären Ideologien des 20. und 21. Jahrhunderts. So ging der Schotte z.B. vom Vorhandensein einer Ethik jenseits des Eigennutzes aus; ebenso betonen seine Werke stets Rolle und Aufgabe des Staates.2 Auch in Edmund Burkes Schrift "A Vindication of Natural Society" wird manchmal ein früher Vorläufer libertärer Ideologie gesehen. Allerdings ist umstritten, ob dieses Frühwerk Burkes nicht als Satire auf die politische Philosophie seines Zeitgenossen Lord Bolingbroke geschrieben wurde.3
Ein Punkt, über den der klassische Liberalismus mittelbar Einfluss auf libertäre Ideologie nahm, ist seine Bedeutung für die Gründerväter Amerikas. Libertäre berufen sich sowohl auf Thomas Jefferson wie auch auf Thomas Paine ("eine Regierung ist in ihrer besten Form ein notwendiges, in ihrer schlimmsten ein untragbares Übel").4 Von den amerikanischen Gründervätern lassen sich jedoch auch zahlreiche Äußerungen wie Handlungen anführen, die für die Notwendigkeit staatlicher Ordnung sprechen, wovon die überzeugendste sicherlich der Aufbau der USA ist.
Tatsächliche Prinzipien libertärer Ideologie arbeitete dagegen der englische Soziologe und Schöpfer des üblicherweise Charles Darwin zugeschriebenen Ausdrucks "survival of the fittest", Herbert Spencer, heraus. In seiner 1851 erschienenen Schrift Social Statics geht er von einem Anpassungsprozeß menschlicher Gesellschaften hin zu mehr Freiheit aus. Von dieser Ausgangsposition aus leitet Spencer seine Gegnerschaft zu u.a. Handelsrestriktionen und Kolonialhandel sowie gegen indirekte Steuern und Eingriffe in Löhne und Preise ab.5 Spencers Weg der Entwicklung der Rechte des Individuums führt über eine Evolutionstheorie und ständig zunehmende funktionale Differenzierung, die wiederum ständig wachsende Komplexität bedingt:
Auf einen primitiven Gesellschaftstypus mit sehr geringer Arbeitsteilung folgt ein militärischer Gesellschaftstypus mit höherer Arbeitsteilung und erzwungener Konformität. Dieser zweite Typus wird durch die Auswirkung der Industrialisierung von einem dritten Gesellschaftstypus abgelöst, der, durch einen hohen Grad der Komplexität und der beruflichen Differenzierung gekennzeichnet, die Möglichkeit der Nonkonformität bietet." Doch trotz aller Betonung der Individualrechte existiert auch in Spencers komplexer Gesellschaft noch ein Staat, dem eine begrenzte Anzahl von Pflichten zukommt.
Der Markt als antropomorphes und gleichzeitig gottähnliches Wesen
Aus ökonomischen Prämissen des klassischen Liberalismus entwickelte sich Anfang des letzten Jahrhunderts die Wiener Schule der Nationalökonomie, die der libertären Ideologie bereits wesentlich näher stand als der klassische Liberalismus. Für die Entwicklung libertärer Ideologie wichtige Ökonomen dieser volkswirtschaftlichen Richtung sind Ludwig von Mises und Friedrich von Hayek, die beide den völligen Rückzug des Staates aus der Wirtschaft propagierten.
Der gebürtige Lemberger Ludwig von Mises (1881-1973), dessen wirtschaftliche Theorien von Libertären gerne zur Untermauerung ihrer Ideologie herangezogen werden, postulierte den völligen Rückzug des Staates aus allen ökonomischen Bereichen, einschließlich dem der Währung. Diese Ablehnung der Währungshoheit ist der entscheidende Unterschied zwischen der Theorie Ludwig von Mises' und der für die neoliberale Wirtschaftspolitik einflussreichen Chicagoer Schule, der Monetaristen. Mises, der von 1918 bis 1934 in Wien lehrte, sah den Goldstandard nicht als willfähriges Werkzeug einer Regierung, sondern als Ausgangspunkt einer allein vom Markt produzierten Währung, die weder Inflationen noch redistributiven Tendenzen einer Regierung ausgesetzt wäre. Folgen solch einer "privaten" Währung sind nach Mises sinkende Preise bei steigender Produktivität.6
Die Ursache wirtschaftlicher Krisen lagen nach Mises nicht in den Mechanismen des Marktes, sondern im schädlichen Eingreifen von außen, d.h. von staatlicher Seite. Der Nationalökonom zeigte auf, dass Inflation, also die Vergrößerung des Geldangebots, ein Prozess der "Besteuerung" und der Umverteilung von Wohlstand ist.7 Das inflationäre Geldangebot von Regierungsseite, so Mises, führe zu Überinvestition in die Kapitalgüter- und zu Unterinvestition in die Konsumgüterindustrien.
Die notwendige Folge daraus seien Rezession und Depression, wodurch sich der Markt von den schädlichen Außeneinflüssen selbst zu reinigen versuche.8 Ludwig von Mises' Glaube an die Heilkräfte des Marktes verließ, bestärkt durch die wirtschaftlichen Folgen des Ersten Weltkrieges, den Bereich reiner Ökonomie.
In seinem 1927 erschienenen Essay "Liberalismus" versuchte Mises einen Zusammenhang zwischen unregulierten Märkten, bürgerlichen Freiheiten und dem Weltfrieden herzustellen. In Europa wenig beachtet, ging Mises in die USA und wetterte von dort aus in seinem Spätwerk "Human Action" gegen die Soziale Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Der späte Mises spricht von der Freiheit des Marktes wie von der Freiheit einer Person, der Markt wird bei ihm zu einem anthropomorphen und gleichzeitig gottähnlich-allmächtigen Wesen, dessen heilsbringende Kraft aber von der Menschheit verschmäht wird, die den Markt stattdessen in Ketten legt. Im Duktus einer Menschenrechtsorganisation zur Befreiung politischer Häftlinge wird das Schicksal des Marktes beklagt:
Das [die soziale Marktwirtschaft] bedeutet, dass der Markt frei ist, solange er genau das tut, was die Regierung von ihm erwartet. Er ist frei das zu tun, was die Machthaber als 'richtig' betrachten, aber nicht das, was sie für 'falsch' halten [...].9
Trotz dieser radikalen Position in ökonomischen Fragen war Mises jedoch kein Anarchist: Er gab zu bedenken, dass eine anarchistische Gesellschaft der Gnade des Einzelnen ausgeliefert wäre. Eine Gesellschaft könne nicht existieren, wenn die Bevölkerungsmehrheit nicht bereit sei, durch die Anwendung oder die Androhung von Gewalt Minderheiten an der Zerstörung der Sozialordnung zu hindern. Diese Aufgabe kommt bei Mises dem Staat zu.10
Freiheit über Demokratie
Noch größere Bedeutung unter Libertären erlangte schließlich ein Schüler des Lembergers: Friedrich von Hayek. Der Österreicher, der Freiheit über Demokratie stellte, sah den Liberalismus in seiner Entwicklung unterbrochen und voreilig aufgegeben. Mischungen von Planwirtschaft und Wettbewerbswirtschaft waren nach Hayek schlechter als jede Wirtschaftsform für sich. Monopole entstanden seiner Ansicht nach nicht durch wirtschaftliche Prozesse, sondern durch die "Unterstützung der Staatsmacht." Gewerkschaften sah Hayek als schädliche Arbeitermonopole an. Hayek lehnte den Begriff "libertarianism" (allerdings aus vorwiegend ästhetischen Gründen) ab und bezeichnete sich lieber als "Old Whig." Ökonomisch aber stand er bereits fest auf dem Boden libertärer Ideologie.11
Auch Milton Friedman, der Vater des Neoliberalismus, wird manchmal zu den libertären Ökonomen gerechnet. Doch obwohl eines seiner Bücher den libertären Slogan "There's no such thing as a free lunch" trägt, und er in Chicago ein Schüler Friedrich von Hayeks war, muss er (vor allem in nichtökonomischen Fragen) eher als konservativ eingestuft werden. Friedman sprach sich u.a. gegen eine private Währung auf Goldstandard, für Umweltsteuern, für einen einheitlichen Einkommensteuersatz von 20% bei gleichzeitiger Steuerbefreiung des Existenzminimums, für Kartellgesetze und (bedingt) für eine "negative Einkommensteuer" als Form von Sozialhilfe aus. Viele von Friedmans Vorstellungen wurden noch in den 1980er Jahren unter Ronald Reagan Wirklichkeit. Innerhalb der politischen Koalition, die Reagan in den 1980er Jahren an die Macht brachte, verkörperte Friedman allerdings eher das libertäre Spektrum. Immerhin trat er auch für die Freigabe des Drogenhandels und für die Abschaffung der Wehrpflicht ein.12
Trotz seiner konservativen Grundhaltung kokettierte Friedman gerne mit libertärer Ideologie. Versicherungen verglich er, wie Robert Heinlein in "The Moon is a Harsh Mistress", mit Wetten, und auf die Feststellung der Zeitschrift Playboy, dass er ja doch kein Anarchist sei, antwortete Friedman: "Nein. Obwohl ich den Anarchisten Glück wünsche, weil sie auf dem Weg dorthin sind, wo wir uns hinbewegen sollten."13
Eine Ansicht, die Mitte der 1970er Jahre bei einem Höchststeuersatz von 70% von vielen Amerikanern geteilt wurde. Friedman wurde zum Held der populären Fernsehserie "Free to Choose" und zum Theoretiker der Tax Rebellion von 1978, jener Volksabstimmung (Proposition 13), die in Kalifornien den Steueranstieg begrenzte und eine steuer- und sozialpolitische Wende einläutete: betrug der Spitzensteuersatz 1975 noch 70% so liegt er jetzt bei 39%. Gerade für Selbständige, Freiberufler und Hauseigentümer war das amerikanische Steuerrecht mit seinen nachträglichen Überprüfungen nicht ungefährlich und konnte zu erheblicher Verschuldung führen.
Ehemalige Großverdiener wie der Countrymusiker Willie Nelson wurden durch Steuerschulden ruiniert. Auch der Einsatz des IRS, der amerikanischen Bundessteuerbehörde, bei politisch unliebsamen Personen nach 1945 machte die Behörde nicht beliebter. Der Kriminalschriftsteller Dashiell Hammett wurde nach seiner Weigerung, mit dem HUAC, dem Ausschuss für Un-Amerikanische Umtriebe, zusammenzuarbeiten, inhaftiert. Als er aus dem Gefängnis entlassen worden war, musste er feststellen, dass die US-Regierung alle Urheberrechte aus seinen Romanen wegen Steuerschulden beanspruchte und dass wahrscheinlich alles Geld, das er noch mit seinen Romanen verdienen konnte, in die Kassen des IRS fließen würde.14
Doch zurück zu Mises, Hayek und den Folgen: Die beiden Ökonomen erlangten mit ihren Thesen in Amerika weitaus mehr Gehör als in Europa. Dort begann in den 1940er Jahren auch der Ausbau ihrer volkswirtschaftlichen Prämissen zu umfassenden Ideologien, die nicht auf den ökonomischen Bereich begrenzt sind. Die erste organisierte Form libertärer Ideologie war Ayn Rands "Objektivismus". Ayn Rand, eine russische Jüdin, die in den 1920er Jahren in die USA emigrierte, begann dort als Drehbuchschreiberin, bis sie mit "The Fountainhead" (1943), einem Roman über einen an Frank Lloyd Wright angelehnten Architekten, und schließlich mit ihrem Hauptwerk "Atlas Shrugged" (1957) eine wachsende Anhängerschaft um sich sammeln konnte, die ihre Ansichten und Lebensgewohnheiten imitierte. In ihrer Ablehnung jeglichen staatlichen Eingriffs sprach die Mises-Verehrerin von den amerikanischen Regierungen bereits in den 1950er und 60er Jahren als "hated collectivist governments." Nixon sah sie lediglich als das "kleinere Übel" an. Reagan verachtete sie wegen seiner Haltung in der Abtreibungsfrage.
Mensch als Wort ohne Plural
"'Mensch' ist ein Wort ohne Plural" lautete einer ihrer Slogans, mit denen sie die von ihr geschaffene "Philosophie" beschrieb. Diese Philosophie berief sich auf einen Aristotelischen Rationalismus, auf die Grundannahme, dass es eine objektive und für den Menschen erkennbare Realität gibt. Aus diesem "Rationalismus" wurde die Lehre vom Primat des menschlichen Eigennutzes, aus diesem wiederum die Ablehnung jeglichen kollektiven und damit auch staatlichen Eingriffs in die Rechte Einzelner entwickelt: "Ich bin nicht in erster Linie eine Fürsprecherin des Kapitalismus, sondern eine des Egoismus; und ich bin nicht in erster Linie eine Fürsprecherin des Egoismus, sondern der Vernunft"15 fasste sie die Stufen ihrer Erkenntnisvorstellung zusammen. Ihre Botschaft verbreitete sie mit religiösem Eifer, als Symbol ihrer Bewegung wählte sie das Dollarzeichen, für sie das Symbol des freien Handels und damit des freien Menschen.16
Ayn Rands Bewunderer erlangten teilweise führende Positionen im amerikanischen Wirtschaftsleben. So war z.B. der Vorsitzende des amerikanischen Federal Reserve Board, Alan Greenspan, ehemals Mitglied der Class of 43, der engeren Anhängerschaft Ayn Rands und schrieb für die von ihr herausgegebenen Zeitschriften.
Während Ayn Rands radikaler Individualismus im sozialen und kulturellen Bereich eher theoretisch blieb und kulturelle Anknüpfpunkte zum Konservativismus aufwies, brach die andere bedeutende Strömung, welche die Postulate der Wiener Ökonomen zu einem umfassenden Theoriegebäude zusammenfasste, nämlich Murray N. Rothbard und die von ihm maßgeblich geprägte Libertarian Party, vollständig mit dem kulturellen und sozialen Erbe des Konservativismus. Die 1971 gegründete Libertarian Party übernahm nicht nur einen Teil der Anhänger des Jugend- und Minderheitenprotests der 1960er Jahre, sondern auch einen guten Teil ihrer Rhetorik, was zu scharfen Auseinandersetzungen mit Ayn Rands Objektivisten führte.
Minarchisten und Anarcho-Kapitalisten
Murray Rothbard erkannte in den antiautoritären Forderungen der amerikanischen Studentenbewegung, die in den 1960er Jahren diverse anarchistische und protolibertäre Spielarten bis hin zur "Psychedelic Liberation Front" in sich vereinigte, sowie in der Gegenkultur "Laissez-faire-Rhetorik"17 und versuchte dieses Potential für seine von Mises und Hayek geprägten Vorstellungen zu kanalisieren. Seine Bemühungen fielen auf fruchtbaren Boden: In einem "In Praise of Decadence" betitelten Artikel fasst der ehemalige Herausgeber des Libertarian Review, Jeff Riggenbach, die Forderungen der Gegenkultur der 1960er Jahre zusammen: Hippies wie Studentenbewegung kämpften für die Freiheit, Marihuana zu rauchen, eine Abtreibung durchführen zu lassen, gegen den Militärdienst und dafür, durch das öffentliche Schulwesen nicht in ihrer Selbstverwirklichung gestört zu werden. Er stellt fest, dass es sich hier ausschließlich um persönliche Freiheiten, nie aber um Forderungen nach ökonomischer Umverteilung handelte.
Die amerikanischen Studenten gingen (im Gegensatz zu den französischen) nicht auf die Straßen, um zu fordern, dass die Fabriken den Arbeitern übergeben werden oder damit die Armen Amerikas ein garantiertes Mindesteinkommen erhalten. Stattdessen forderten sie ein Ende das Krieges und ein Ende der staatlich verursachten Diskriminierung von Frauen und Schwarzen. Den ehemaligen Studentenführer Carl Oglesby zitiert Riggenbach mit der Äußerung: "Wir waren vielleicht weniger ein neue Linke als neue Individualisten."18
Die Grundpfeiler sowohl der Hippies als auch der amerikanischen Studentenbewegung waren ihr antiautoritärer Charakter und ihr Hedonismus. Oftmals schlugen die Anhänger der Gegenkultur der 1960er Jahre in den 1970er Jahren den Weg des Kleinunternehmers ein, waren dadurch mit Bürokratie, Steuern und Inflation konfrontiert und öffneten sich vor allem in Kalifornien den wirtschaftspolitischen Vorstellungen von Rothbard, der postulierte, dass ein wettbewerbsorientierter Kapitalismus eine inhärente Tendenz zur Permissivität aufweise und die Autorität von Konventionen ständig in Frage stelle.
Auch in ihren außenpolitischen Vorstellungen unterschieden sich Rothbards Libertäre erheblich von den Konservativen. Vor allem in den 1970er und 1980er Jahren sahen viele amerikanische Libertäre in der eigenen Regierung den Hauptfeind der Freiheit, da diese als militärischer Wächter des Status quo die ihrer Ansicht nach unfreie Weltordnung garantierte. Murray Rothbard zog sogar die Außenpolitik der Sowjetunion jener der USA vor.19 Als sich die letzten amerikanischen Truppen 1975 aus Südvietnam zurückziehen mussten, feierte Murray Rothbard dies, trotz der Niederlage gegen den moskauorientierten Vietkong, als freudiges Ereignis, als "Tod eines Staates."20 Die Invasion der USA auf der Insel Grenada wurde in libertären Kreisen ebenso verurteilt21 wie die Aktivitäten der PLO als "Kampf um Recht und Eigentum" gepriesen wurden.22
Mit Ayn Rands Objektivisten und dem radikalen Flügel von Murray N. Rothbards Libertarian Party sind die beiden wichtigsten Fraktionen innerhalb des libertären Ideologiegebäudes abgedeckt, die Minarchisten und die Anarcho-Kapitalisten. Nicht jeder Befürworter eines völlig unregulierten Marktes ist nämlich gleichzeitig auch Gegner jeder staatlichen Ordnung: Minarchisten sind libertäre Befürworter eines Reststaates mit einigen wenigen Aufgaben. Unter anderem sind Ayn Rands Objektivisten Teil dieses auch minimalstaatlerisch genannten Teilbereichs des libertären Spektrums. In ihrem Essay "The Nature of Government" argumentiert Ayn Rand analog Hobbes, dass ein Nachtwächterstaat Polizei, Gerichte, eine Rechtsordnung und eine Landesverteidigung bereitstellen müsse. Da Steuern als institutionalisierter Diebstahl betrachtet werden, glauben Libertäre an die Finanzierung solcher öffentlichen Aufgaben durch Benutzergebühren, Lotterien und Stiftungen.
Eine Koalition aus Minderheiten
Einen anderen Versuch der Einordnung von Recht und Gesetz in ein libertäres Modell machte Robert Nozick. Der Harvard-Professor gilt als bedeutendster Theoretiker libertärer Ideologie. Daneben gelten Jan Narveson, Loren Lomasky, Douglas DenUyl und Tibor Machan als ernstzunehmende akademische Verfechter libertärer Vorstellungen.
Mit "Anarchy, State and Utopia" verfasste Nozick das theoretisch ausgefeilteste Werk der libertären Bewegung. Nozick argumentiert, dass das Angebot von Polizei und Gerichtsdiensten ein natürliches geographisches Monopol sei und dass folglich ein diese Aufgaben wahrnehmender Reststaat durch die spontane Ordnung des Marktes immer wieder von selbst auftauchen würde.23 Auf anarcho-kapitalistischer Seite wird dagegen die Position vertreten, dass Polizei und Gesetz durchaus notwendig und wünschenswert seien, dass diese Aufgaben aber durch den freien Markt anstatt durch einen Staat ausgeübt werden könnten und sollten.24
Ein weiterer sehr kontroverser Standpunkt innerhalb libertärer Ideologie ist der Grundsatz, dass alle Gesetze, die Menschen aufgrund ihres Alters "diskriminieren", nicht mit libertären Grundsätzen vereinbar seien. Radikale Libertäre wie Marc Joffe sind deshalb der Ansicht, dass Mitglieder von NAMBLA, der "North American Man/Boy Love Association"25 , die für die Legalisierung von sexuellen Beziehungen zwischen Knaben und erwachsenen Männern eintritt, zu den "am stärksten vom Staat unterdrückten Individuen" in den USA gehören.26
Obwohl es also - wie gesehen - unter Libertären durchaus interne Auseinandersetzungen gibt, wird die Verschiedenheit der Anhänger libertärer Ideologie im allgemeinen als Vorzug gesehen. Libertäre betrachten sich gerne als Koalition aus Minderheiten. Eine der Stärken libertärer Ideologie ist nach Walter Block, dass sie wegen ihrer Betonung der Individualrechte ein extrem breites Spektrum an Anhängern abdecken kann. In Blocks libertärer Weltsicht ist Platz für viele, z.B. auch für Zuhälter, die seiner Ansicht nach eine sinnvolle und nützliche Aufgabe erfüllten, indem sie "Transaktionen" vermittelten. Dabei sei ihre Vermittlungstätigkeit sogar ehrenhafter als die von Börsen- oder Versicherungsmaklern, weil sie sich im Gegensatz zu diesen nicht auf staatlichen Wettbewerbsbeschränkungen ausruhen könnten.27
Das Verfolgen beider Entwicklungslinien libertärer Ideologie, des klassischen Liberalismus und des Anarchismus, ergibt jedoch keine befriedigende Antwort darauf, warum und unter welchen Bedingungen ab den 1940er Jahren eine Synthese erfolgte. Vollständige libertäre Gesellschaftsmodelle entstanden erst in der Populärkultur, bevor sie in den akademischen Bereich vordrangen. Es ist deshalb notwendig, sich auf der Suche nach der Antwort dem Nährboden libertärer Ideologie, der populären Kultur im Allgemeinen und ihrer Schnittstelle zur Technologie im Speziellen, zuzuwenden.