Kasperltheater, Folterpornos und Zensoren

Die Nacht der rollenden Köpfe

Die Nouvelle Vague des Horrorfilms in den Krallen deutscher Jugendschützer

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Wo kommt die Gewalt her? Von Horrorfilmen und "Killerspielen", glauben viele. Seit dem Amoklauf von Winnenden hat die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien ihren Kampf gegen böse Filme und Computerspiele deutlich intensiviert. Vielleicht tut sie damit sogar das Richtige. Aber die von dieser Behörde vorgenommenen Indizierungen haben weitreichende Folgen. Wenn man diese mit schädlichen Wirkungen der Medien rechtfertigt, sollte man nachvollziehbare Belege dafür bringen, diese zur Diskussion stellen und außerdem das Grundgesetz beachten. Ist das gewährleistet? Ein Praxistest.

Kultur der Begründbarkeit

Früher einmal, in den 1970ern, da gab es Filme, die waren deutschen Jugendschützern schon deshalb ein Dorn im Auge, weil sie bei uns unter reißerischen Verleihtiteln wie Im Blutrausch des Satans, Die Nacht der rollenden Köpfe oder Mädchen in den Krallen teuflischer Bestien liefen. Viele dieser Filme kamen aus Italien. Während der Rest der freien Welt diesem Großangriff der Gewaltverherrlichung, der skrupellosen Geschäftemacherei und des schlechten Geschmacks schutzlos ausgeliefert war und deshalb in allgemeinem Chaos und sozialethischer Desorientierung versank, gab es bei uns die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, die Deutschlands Jugend vor Schmutz und Schund bewahrte und die Erwachsenen gleich mit, weil die Entscheidungen der Bundesprüfstelle nicht nur den Medienkonsum der Kinder betreffen.

Wer sich hierzulande gegen Zensur und für Transparenz ausspricht, gerät rasch in den Verdacht, ein Wirrkopf, ein Pornograph oder gar ein Kinderschänder zu sein. Deshalb sind ein paar grundsätzliche Bemerkungen angebracht, die für beide Teile dieses Artikels gelten, obwohl ich sie nicht dauernd wiederholen werde.

Auch ich will Kinder und Jugendliche schützen: vor ignoranten Erwachsenen; vor Armut (in der BRD derzeit 2,5 Millionen betroffene Kinder, Tendenz steigend); vor gigantischen Schuldenbergen, der Klimakatastrophe, der kurzsichtigen Ausbeutung der Ressourcen unseres Planeten und allen anderen Problemen, die wir auf die nächsten Generationen abwälzen; vor einem miserablen Schulsystem mit einer kinderfeindlichen Aussortier-Politik; und gern auch vor Medien, wenn sie jugendgefährdend sind (am liebsten in dieser Reihenfolge). Ich will weder die FSK noch den Jugendschutz abschaffen. Ich bin nicht dafür, für alle alles freizugeben, um dann abzuwarten, was dabei herauskommt.

Ich glaube aber nicht, dass man durch Geheimniskrämerei und die Pflege von Vorurteilen die Jugend schützen kann. Von der Bundesprüfstelle und ihren Beisitzern wünsche ich mir einen Beitrag zu dem, was heutzutage als "Kultur der Begründbarkeit" bezeichnet wird. Wer etwas verbietet, muss das Verbot so rechtfertigen können, dass es für halbwegs intelligente Menschen nachvollziehbar ist (man kann trotzdem noch anderer Ansicht sein). Wenn nämlich der inhaltliche Diskurs abhanden kommt, wird das entstandene Vakuum durch ein Meinungsklima gefüllt, das dann unser Denken und Handeln bestimmt. Das können wir nicht wollen. Es geht hier nicht darum, ob man Horrorfilme mag oder nicht. Es geht um etwas sehr Prinzipielles. Denn die Art, wie wir mit diesen Horrorfilmen umgehen, hat Auswirkungen auf die in unserer Verfassung garantierten Grundrechte auch derjenigen, die sich solche Filme nie ansehen würden.

Die bei uns praktizierte Form des Jugendschutzes führt zu einer Einschränkung der Meinungs-, Informations- und Kunstfreiheit - von demokratischen Errungenschaften also, auf die wir zu Recht stolz sind. Angesichts solcher Risiken und Nebenwirkungen sollten wir uns fragen, ob es das wert ist. Wer sich die italienischen Gialli ansieht, die vor 25 Jahren indiziert wurden, muss es bezweifeln. Der Zuschauer (und die Zuschauerin) wird rasch feststellen, dass sie so schlimm nicht waren, wie es die Verleihtitel suggerierten. Viele davon sind grottenschlecht, aber andere sind erstaunlich gut gemacht. Übel beleumundete Genres wie der Horrorfilm sind schon immer - ästhetisch, dramaturgisch, thematisch - ein Versuchslabor gewesen, das den Mainstream-Film befruchtet. Wer das auf Sex und Gewalt reduziert, hat nichts begriffen. Und wer den interessierten Erwachsenen den Zugang zu diesem Experimentierfeld abschneidet, schadet der Filmkunst insgesamt.

Saint Ange

Die Filmhistorikerin Carol J. Clover formuliert es so:

Der kreativen Quelle der niedrigen, wenig geachteten Genres beraubt, wird es wahrscheinlicher, dass die größeren Studios ihre eigenen, erprobten und bewährten Formeln imitieren und wiederholen, und es wird weniger wahrscheinlich, dass sie ein Wagnis eingehen, dass sie sich an die bizarren und brillanten Themen herantrauen, die wie Luftblasen von unten nach oben steigen.

Das gilt nicht nur für Hollywood. François Ozons Le refuge, derzeit auf Festivals bejubelt, ist der erste einer ganzen Welle von ungewöhnlichen, mitunter auch bizarren Schwangerschaftsfilmen, die es demnächst in die Kinos spülen wird. Angefangen hat das mit den französischen Horrorfilmen Saint Ange, Frontière(s) und A l’intèrieur, deren Heldinnen alle schwanger sind. Zwei von diesen Filmen sind in Deutschland indiziert, der dritte fand keinen Verleih. Damit berauben wir uns der Möglichkeit, Zusammenhänge zu sehen und Vergleiche anzustellen. Das Mutterschafts-Thema war von jeher problematisch, weil es genauso um Biologie wie um gesellschaftliche Rollenzuteilungen geht. Der Mainstream-Film schleift ab und macht mehrheitsfähig, was im Horrorfilm noch roh und sehr direkt daherkommt. Ein Vergleich lenkt die Aufmerksamkeit auf das, was die Mainstream-Kultur nicht zu genau betrachten möchte. Dadurch erfahren wir etwas über gesellschaftliche Prozesse, was uns nur nützen kann.

A l’intèrieur

Tödliche Provinz

Als Besucher der Filmfestspiele von Venedig kann man seit einigen Jahren in einer Nebenreihe italienisches Genrekino sehen. Dort werden immer wieder spannende Entdeckungen gefeiert, die ich hier - falls ich das wollte - nicht loben dürfte, weil bestimmte Filme weiter indiziert sind und ich durch ein Lob gegen das mit der Indizierung verbundene Werbeverbot verstoßen würde. Eine Indizierung läuft nach 25 Jahren aus, wenn sie nicht ausdrücklich verlängert wird. Leider muss ich sagen, dass mir völlig unverständlich ist, nach welchen Kriterien es zu einer Folgeindizierung kommt oder auch nicht.

In dunklen Momenten beschleicht mich sogar der Verdacht, dass ein gewisser Prozentsatz der vor 25 Jahren in ominöse Listen eingetragenen Filme weiter indiziert bleiben muss, weil sonst mit einem PR-Desaster zu rechnen wäre. Nehmen wir an, die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM), wie die Behörde inzwischen heißt, würde generell alles freigeben, was vor 25 Jahren zur Rettung der abendländischen Kultur verboten wurde. Würden dann nicht Leute wie ich kommen und aus den Verirrungen und Überreaktionen von damals Rückschlüsse auf die Sinnhaftigkeit dessen ziehen, was heute, hier und jetzt passiert? Kann man das wollen, wo es doch um den Schutz der Jugend geht?

Der Tod trägt schwarzes Leder, Nackt über Leichen

Bestimmt sagt ein solch böser Verdacht viel mehr über mich als über unsere famose Bundesprüfstelle aus. Nachdem ich als Jugendlicher viele Filme gesehen habe, die schädlich für mich waren, bin ich zwar weder Amokläufer noch Sittlichkeitsverbrecher geworden, aber doch schwer paranoid. Ich sehe Willkür und Zensur, wo es nur aufrichtige Besorgnis und fürsorgliche Kontrolle gibt. Damit muss ich jetzt leben, weil ich als Minderjähriger Der Tod trägt schwarzes Leder, Nackt über Leichen und Stimme des Todes gesehen habe. Mein einziger Trost: Ich bilde mir ein, relativ gut beurteilen zu können, welches ästhetisches Konzept ein allseits gefeierter Regisseur wie Quentin Tarantino verfolgt, weil ich die meisten von den Filmen kenne, auf die er sich bezieht. Bei uns waren sie indiziert, und manche sind es noch. Wer sie nicht kennt, kann auch nichts darüber sagen, ob Tarantino ein Erneuerer der Filmkunst ist, ein postmoderner Zitateverwerter oder gar ein dreister Plagiator.

Stimme des Todes

Ich befürchte, dass viele deutsche Kritiker wenig Ahnung davon haben, was Tarantino anzitiert. Den Kritikern würde ich das nicht vorwerfen. Durch die Indizierung müssen auch die Erwachsenen erst etliche Hürden überwinden, bevor sie Filme sehen können, die in anderen Ländern für volljährige Menschen frei zugänglich sind. So etwas führt unweigerlich zu einer Verprovinzialisierung. Für die Kultur eines Landes kann so etwas nicht gut sein. Interessanterweise ist das ein Thema vieler Filme, die in den letzten Jahren bei uns auf den Index kamen. Die Provinz, erfährt man da, ist tödlich. Das gilt nicht nur für den Körper, sondern auch für den Geist.

Nouvelle Vague des Horrorfilms

Wenn in 30 Jahren ein neuer Tarantino auftauchen sollte, würde er nach dem derzeitigen Stand der Dinge wahrscheinlich mit Zitaten aus den aktuellen französischen Horrorfilmen spielen, so wie der jetzige Tarantino Riccardo Freda, Mario Bava oder Fernando di Leo seine Referenz erweist. Das ist doch einigermaßen überraschend, weil das Genre in Frankreich bis vor einigen Jahren ein äußerst kümmerliches Dasein fristete, obwohl unsere Nachbarn auf eine große Tradition zurückblicken können. Georges Méliès und Louis Feuillade waren Wegbereiter des phantastischen Films, die das internationale Kino beeinflusst haben, aber ihre wenigen Nachfolger (Georges Franju, Jean Rollin, Jacques Rivette) blieben Außenseiter. Im neuen Jahrtausend hat sich das geändert. Es ist nicht ganz falsch, wenn man mittlerweile von einer Nouvelle Vague des Horrorfilms spricht.

Die grellen, die Phantasie anregenden Titel von früher gibt es längst nicht mehr. Deutsche Verleiher neigen inzwischen zur Amerikanisierung. So ist aus Haute tension von Alexandre Aja High Tension geworden, Xavier Gens’ Frontière(s) heißt bei uns Frontier(s), A l’intèrieur von Julien Maury und Alexandre Bustillo wird (bzw. wurde) als Inside vertrieben, und Martyrs von Pascal Laugier durfte vermutlich nur deshalb so bleiben, weil das Wort für Märtyrer im Französischen und im Englischen dasselbe ist. Ironischerweise wurde der einzige der neuen französischen Horrorfilme, der einen englischsprachigen Originaltitel hat (Trouble Every Day von Claire Denis, koproduziert von ARTE France), bei uns nie verliehen. Es gibt immer mehr Filme, von deren Existenz wir hierzulande gar nichts mitbekommen, weil deutschen Anbietern das finanzielle Risiko zu groß ist. Drei der vier genannten, deutsch synchronisierten Horrorfilme sind bei uns indiziert und damit von der Bildfläche verschwunden. Auch erste, von den Franzosen beeinflusste Produktionen wie der britische Film Eden Lake stehen bereits auf dem Index. Deutschland ist fest in der Hand von Nonnen, Oberärzten, Tierärzten, Landärzten, Förstern und von Rosamunde Pilcher. Schon wieder triumphiert die Provinz.

Eden Lake

Um Missverständnissen vorzubeugen: Filme mit psychopathischen Kettenraucherinnen oder Nazi-Kannibalen würde ich Kindern so wenig zeigen wie die zynischen Kommerzprodukte, mit denen deutsche Fernsehanstalten in ihrem "Familienprogramm" die Ausbreitung der Demenz fördern. Ich will auch keinen Erwachsenen dazu verpflichten, sich anzusehen, wie man mit Hilfe von Spezialeffekten den Eindruck erweckt, als würde einem Polizisten der Kopf weggeschossen. Ich möchte nur gern in einem weltoffenen Land leben, in dem der Jugendschutz so organisiert wird, dass er mit demokratischen Gepflogenheiten vereinbar ist und nicht in Zensur ausartet.

Alles Unsinn

Frau Elke Monssen-Engberding, Juristin und seit 1991 Leiterin der BPjM, ist nicht der Meinung, dass ihre Behörde Zensur ausübt. Dazu ein Zitat von 2004:

Völliger Unsinn. Zensur ist die planmäßige Überwachung des Staates von Medien, ehe diese auf dem Markt erscheinen, was zur Folge hat, dass sie auch Erwachsenen nicht mehr zugänglich sind. Alles das tun wir nicht. Mit unseren Beisitzern erfassen wir den momentanen gesellschaftlichen Wertekonsens.

Bestimmt ließe sich in alten Lexika eine Definition von Zensur ausgraben, die mit der von Frau Monssen-Engberding in Einklang zu bringen ist. Aber Zensur findet heute in vielen Formen statt und nicht nur dann, wenn sie so brachial daherkommt wie in China oder dem Iran. Oft kriegt man sie gar nicht mit, wie zum Beispiel dann, wenn ein Film mit "FSK ab 18" gekennzeichnet ist. Das, denkt der ahnungslose Konsument, muss die ungeschnittene Fassung für Erwachsene sein. Verlassen kann man sich darauf aber nicht. Hier die Fakten:

  • Haute tension ist in Deutschland in zwei Versionen auf DVD erschienen: die mit "Keine Jugendfreigabe" gekennzeichnete Fassung wurde um mehr als zwei Minuten gekürzt, die SPIO/JK-Fassung um etwas mehr als eine Minute. Letztere wurde 2005 indiziert und in Teil B der Liste der jugendgefährdenden Medien eingetragen. Das gilt bis 2030. Dann wird entschieden, ob diese ebenfalls bereits gekürzte Version weiter verboten bleibt. Seit dem Erfolg von Haute tension dürfen sich französische Horrorfilm-Regisseure über zahlreiche Einladungen zu internationalen Festivals freuen. Bei uns müssen sie damit rechnen, dass die Polizei kommt, wenn ihre Filme laufen.
  • A l’intèrieur wurde um knapp zwei Minuten gekürzt, um die Kennzeichnung "SPIO/JK geprüft: keine schwere Jugendgefährdung" zu erhalten. Diese gekürzte Fassung ist seit September 2008 indiziert und in "Liste B" eingetragen. Zum Vergleich: Die französische DVD-Ausgabe ist vollständig und ab 16 freigegeben. Unsere Nachbarn sind stolz auf die neuen Horrorfilme, weil die bis dahin eher belächelten Franzosen einen international anerkannten Beitrag zur Erneuerung des Genres leisten. Daraus den Schluss zu ziehen, dass sich die Franzosen weniger um ihre Kinder sorgen als wir, wäre absurd.
  • Aus Frontière(s) wurden bei uns fast 8 Minuten herausgeschnitten; dafür erhielt der Verleih die FSK-Kennzeichnung "Keine Jugendfreigabe". Es gibt auch eine "SPIO/JK geprüft: keine schwere Jugendgefährdung"-Fassung; da fehlen mehr als drei Minuten. Die SPIO-Version ist seit Februar 2009 indiziert und in Liste A eingetragen.
  • Die DVD-Ausgabe von Martyrs ("SPIO/JK geprüft: keine schwere Jugendgefährdung") ist ungeschnitten und bisher nicht indiziert. Wenn morgen jemand die Indizierung beantragt, kann sich das schnell ändern. Die "Antragsberechtigten" sind in den letzten Jahren immer mehr geworden. Das "Prüfverfahren" der BPjM ist so, dass Martyrs keine Chance hätte. (Ich lasse mich gern eines Besseren belehren.)
  • Die britische Produktion Eden Lake gibt es ungeschnitten ("SPIO/JK geprüft: Keine schwere Jugendgefährdung") und als FSK 18-Version, aus der eine Minute und 42 Sekunden entfernt wurden. Die vollständige Fassung ist seit Juli 2009 indiziert (Liste A).

Dämonische Medien

Die FSK informiert auf ihrer Webseite ganz allgemein darüber, ob ein Film gekürzt wurde oder nicht (ohne nähere Angaben). Wer sich dort umsieht, wird einige Überraschungen erleben. Es gibt Filme, die ungeschnitten ein "FSK ab 18" erhalten würden und für eine 16er-Freigabe vom Verleih gekürzt werden, weil das die kommerziellen Verwertungsmöglichkeiten verbessert. Oft gibt es sowohl die 16er- als auch die vollständige 18er-Fassung, aber sicher ist das nicht. Der Käufer, der die 16er-Fassung erwirbt, findet auf der DVD-Hülle keine Informationen darüber, dass Teile des Films entfernt wurden und ob er als Erwachsener auch eine ungeschnittene Version erstehen kann. Wer keine zensierten Filme sehen will und nicht lieber gleich im Ausland kauft, muss sich im Grunde bei jeder DVD erst informieren, um welche Fassung es sich handelt.

Haute tension, A l’intèrieur, Frontière(s), Martyrs

Filme mit FSK-Freigabe sind generell dem Zugriff der BPjM entzogen und können nicht indiziert werden. Es kommt aber vor, dass die FSK die Freigabe ab 18 verweigert. Wer jetzt denkt, dass es sich da um Filme handeln muss, die Gewalt verherrlichen und gegen die Menschenwürde verstoßen, sei daran erinnert, dass jeder 16-jährige Franzose Haute tension, A l’intèrieur, Frontière(s), Martyrs und Eden Lake im Laden kaufen kann, ungeschnitten und ganz legal. Briten und Österreicher müssen dafür 18 sein. Die gesetzlichen Bestimmungen, etwa zum Jugendschutz, sind bei uns inzwischen schärfer als in jedem vergleichbaren demokratischen Land.

Man könnte nun annehmen, dass wir die Gefahren der Bildschirmmedien besser erkannt haben als die übrigen Europäer. Meine Theorie ist eine andere: Nach dem Untergang des Dritten Reiches hat man sich hierzulande darauf verständigt, dass die Deutschen von den Nazis "verführt" wurden und somit keine Täter waren, sondern Opfer. Die entscheidende Rolle kam hierbei den Massenmedien zu. Joseph Goebbels war eine Art Mabuse, der das deutsche Volk mit Hilfe von Filmen gleichsam hypnotisierte und so dazu brachte, Dinge zu tun, die es bei vollem Bewusstsein nie gemacht hätte. Diese Dämonisierung war bequem, weil man durch sie die Verantwortung für sein Tun auf die Medien abwälzen konnte. Das wirkt bis heute nach. Beweisen kann ich meine Theorie nicht. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass wir uns womöglich auf einem Holzweg befinden. Wir wissen nicht schon allein deshalb besser als andere, wie man die Jugend (und die Demokratie) schützt, weil wir Deutsche sind und uns als einzige eine Bundesprüfstelle leisten.

Sollte die FSK wegen Jugendgefährdung oder strafrechtlichen Bedenken eine Freigabe verweigern (noch einmal: bei uns sind die Gesetze und Bestimmungen besonders streng), kann der Verleih die von der FSK inkriminierten Teile entfernen, um doch noch die Freigabe ab 18 zu erhalten, oder er entschließt sich zur Veröffentlichung der ungekürzten Version ohne FSK-Kennzeichnung. In diesem Fall bleibt ihm der Gang zur 3-köpfigen Juristenkommission (JK) der Spitzenorganisation der deutschen Filmwirtschaft (SPIO). Die SPIO erstellt auf Antrag ein juristisches Gutachten darüber, ob ein Film gegen das Jugendschutzgesetz bzw. das Strafrecht verstößt. Um das Ganze nicht noch komplizierter zu machen (mehr bei spio.de), beschränke ich mich hier auf die seit Oktober 2007 geltenden Regelungen.

Hat ein Film das JK-Verfahren erfolgreich durchlaufen (es gibt auch Ablehnungen), erhält er eine von zwei Kennzeichnungen: "SPIO/JK geprüft: keine schwere Jugendgefährdung" (auch als "leichte JK" bekannt) oder "SPIO/JK geprüft: strafrechtlich unbedenklich" ("schwere JK"). Solche Gutachten der SPIO-Juristen schützen den Anbieter vor Strafverfolgung, falls ein Gericht den Film beschlagnahmen sollte, z.B. wegen Gewaltverherrlichung (wie mit A l’intèrieur geschehen). Filme mit "schwerer JK" verstoßen nach Auffassung der SPIO gegen die Bestimmungen zum Jugendschutz. Praktisch hat das zur Folge, dass sie wie indizierte Filme behandelt werden (kein öffentliches Auslegen, keine Werbung etc.).

Die finanziellen Konsequenzen einer "schweren JK" bzw. einer Indizierung sind so empfindlich, dass Verleiher oft bereit sind, einen Film für eine "leichte JK" zu kürzen (als Konsument erfährt man das wieder nicht). Lange Zeit war es so, dass die BPjM die Gutachten der drei auf solche Fragen spezialisierten Juristen von der SPIO respektierte: Filme mit "leichter JK" wurden nicht indiziert. An obiger Liste kann man sehen, dass sich die Situation inzwischen geändert hat. Jetzt werden Filme indiziert, die bereits gekürzt wurden, um eine "leichte JK" zu erhalten und dadurch - dachte man bisher - vor einer Indizierung geschützt zu sein.

Anonymer Wertekonsens

Die bereits gekürzte Fassung von A l’intèrieur wurde sogar in "Liste B" eingetragen. Die Aufnahme eines Films in "Liste B" heißt, dass ihn die Bundesprüfstelle als "strafrechtlich bedenklich" eingestuft hat. Faktisch kommt eine solche Einstufung einem Verbot gleich. Händler, die den Film auf Lager haben, schicken ihn in der Regel an die DVD-Firma zurück, und die Firma nimmt den Film aus dem Programm, weil sie Angst vor möglichen juristischen Konsequenzen hat. Besonders bedenklich daran ist, dass es mehrheitlich juristische Laien sind, die bei der BPjM über Filme urteilen. Obwohl es um Fragen des Strafrechts geht, zählt ihre Meinung in der Praxis mehr als ein Gutachten von drei Fachleuten der SPIO.

Zu einer lebendigen Filmkultur gehören die kleinen Firmen, die sich darum kümmern, dass das, was abseits des Mainstream entsteht (und diesen befruchtet), ein Publikum findet. Mit sorgfältig gemachten DVD-Editionen für Marktnischen erwirbt man keine Reichtümer. Wenn dann ein Produkt, in das man investiert hat, indiziert oder womöglich in "Liste B" eingetragen wird, kann das schnell existenzbedrohend werden. In einem Rechtsstaat könnte man natürlich gegen eine Indizierung vorgehen. Da Gerichtsverfahren aber viel Zeit brauchen sowie mit Kosten und Risiken verbunden sind, bleibt das schöne Theorie. Wer einen solchen Prozess gewinnt, hat keinen Anspruch auf Schadensersatz.

Die Indizierungen von Haute tension, A l’intèrieur, Frontière(s) und Eden Lake wurden von einem "3er-Gremium" beschlossen, dessen Mitglieder nur der BPjM bekannt sind. Die Anonymität wird vorzugsweise damit begründet, dass die Zensoren - pardon, die … ja, was eigentlich? Die Prüfer? Das Wort will ich nicht verwenden, weil man bei Prüfern, zumal in Deutschland, eine Qualifikation voraussetzt, und eine solche Qualifikation kann ich hier absolut nicht erkennen. Jetzt fällt es mir wieder ein: es handelt sich um "Beisitzer". Die Beisitzer also bleiben anonym, weil verhindert werden soll, dass Druck auf sie ausgeübt wird. Ob das eine realistische Befürchtung ist oder nur eine Schutzbehauptung, kann und will ich nicht beurteilen.

"Mit unseren Beisitzern", sagt Frau Monssen-Engberding, "erfassen wir den momentanen gesellschaftlichen Wertekonsens." Aha. Den anonymisierten Indizierungsentscheidungen entnehme ich, dass das "3er-Gremium" jeweils aus der Vorsitzenden bestand (das war dann wohl Frau Monssen-Engberding?), aus einem "Anbieter von Bildträgern und von Telemedien" sowie einem Vertreter/einer Vertreterin von "Kirchen und Religionsgemeinschaften". Eine wahrhaft repräsentative Gruppe zur Ermittlung des momentanen gesellschaftlichen Wertekonsenses. Falls das 3er-Gremium nicht einer Meinung gewesen wäre, hätte sich das 12er-Gremium der BPjM mit dem jeweiligen Film befassen müssen. Aber das 3er-Gremium war sich immer einig.

Frontière(s)

An den Indizierungsentscheidungen fällt mir die Sicherheit des Urteils auf. Diskussionsbedarf bestand offenbar nur hinsichtlich der Frage, ob ein Film in Liste A oder Liste B eingetragen werden soll und ob Frontière(s) zum Rassenhass anreizen und das NS-Regime verherrlichen könnte, weil das sabbernde Familienoberhaupt der Kannibalen früher bei der SS war (eher nicht, befand das Gremium). Mir ist diese Meinungsstärke leider nicht gegeben. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die genannten Filme gut oder schlecht finde und ob ich sie empfehlen würde, wenn ich das dürfte. Bei mir ist die Meinungsbildung ein Prozess. Als Jugendschützer wäre ich ein Versager, denn von vornherein weiß ich so gut wie gar nichts (beim 3er-Gremium ist das ganz anders).

Schweinkram und Demokratie

Zur Meinungsbildung gehört der Austausch von Gedanken. Wenn ich fünf Erwachsene einladen will, um gemeinsam die unzensierte Fassung von A l’intèrieur zu sehen und anschließend zu diskutieren, mache ich das besser in Österreich oder der Schweiz, weil ich hierzulande gegen das Verbreitungsverbot verstoßen würde. Wer Kinofilme gern an dem Ort sehen würde, für den sie gemacht sind, also im Kino, muss sowieso nach Frankreich fahren (Filmliebhaber ohne Französischkenntnisse haben Pech gehabt). Wenn ich auf einer frei zugänglichen Website wie der von Telepolis über einen indizierten Film schreiben will, oder in einer Zeitung, die man auch außerhalb von Pornoläden kaufen kann, muss ich darauf achten, nicht gegen das Werbeverbot zu verstoßen. Was gegen das Werbeverbot verstößt und was nicht, ist unklar. Man kann da schnell die Lust verlieren.

Ich habe lange gesucht - im Netz, in Zeitungen und in Zeitschriften -, um substantielle deutschsprachige Texte zu den hier genannten indizierten Filmen zu finden. Ohne Erfolg. Natürlich kann das daran liegen, dass ich von widerlichem Schweinkram spreche, von Gewaltverherrlichung und "Folterpornos", über die der seriöse deutsche Kritiker nichts schreiben will. Auffallend ist allerdings, dass sich die seriösen Kritiker in anderen Ländern sehr wohl zu einer (ergebnisoffenen) Auseinandersetzung mit diesen Filmen in der Lage sehen, was dann zu einer neue Erkenntnisse bringenden Diskussion führt. Das hiesige Fehlen von veröffentlichten (und fundierten) Meinungen könnte also doch auch mit unserer Form des Jugendschutzes zusammenhängen und nicht nur damit, dass wir Deutsche besser auf unsere Kinder aufpassen als andere Nationen. Dann wäre es ein Demokratieproblem.

Alterseinstufungen von Filmen gibt es auch in anderen Ländern. In den USA ist eine gekürzte und eine ungekürzte Fassung von Haute tension auf dem Markt. Man weiß beim Kauf der DVD, was man erwirbt, und jeder darf darüber schreiben, was er will. Sehr aufschlussreich ist die Entwicklung in Großbritannien. In den 1980ern gab es dort eine von den Skandalblättern angeheizte Massenhysterie über "Gewaltvideos", die für Aufmerksamkeitsdefizite bei Schülern und jugendliche Handtaschenräuber genauso verantwortlich gemacht wurden wie für Mord und Vergewaltigung. 1984 wurden alle Videos ohne staatlich anerkanntes Zertifikat verboten. 1993 gab ein Richter dem Film Child’s Play 3 die Schuld daran, dass in Liverpool zwei Jugendliche den kleinen James Bulger getötet hatten. Belastbare Beweise dafür hatte er nicht, aber der Richter bot eine einfache, irgendwie plausibel klingende Erklärung für einen unfassbaren Vorgang. Also wurden die Gesetze weiter verschärft.

Inzwischen sind die Entscheidungsträger in Großbritannien mehrheitlich der Meinung, dass sich die Jugendgewalt nicht dadurch wirkungsvoll bekämpfen lässt, dass man Videos und DVDs verbietet. Vielen Briten ist es inzwischen auch peinlich, auf welch undurchsichtige Weise solche Verbote zustande kamen. Das British Board of Film Classification, das für die Altersfreigaben zuständig ist wie bei uns die FSK (so etwas wie die Bundesprüfstelle gibt es nicht), ist deshalb um Transparenz bemüht. Auf der Website des BBFC findet man zu jedem Film die Altersfreigabe und ein paar Stichworte dazu, warum er wie eingestuft wurde. Wenn ein Film gekürzt wurde, wird das in Minuten und Sekunden angegeben. Die Seite ist für jeden frei zugänglich und viel benutzerfreundlicher als die der deutschen FSK.

Jugendschutz und Transparenz

Die ungekürzten Fassungen von Haute tension, Frontière(s), A l’intèrieur und Eden Lake sind in Großbritannien ab 18 freigegeben. Zu Eden Lake gibt es eine Inhaltsangabe, die genauere Informationen dazu bietet, warum der Film eine 18er-Einstufung erhalten hat und keine, die für den Verleih günstiger gewesen wäre. Die Briten halten es für notwendig, das zu begründen. Wir gehen den entgegengesetzten Weg. Ein Text wie der des BBFC über die bei uns indizierte Fassung von Eden Lake würde vermutlich gegen das Werbeverbot und das deutsche Jugendschutzgesetz verstoßen.

Haute tension, A l’intèrieur, Frontière(s), Eden Lake

Aber warum geben die Briten einen Film ohne Schnitte ab 18 frei, den sie vor 25 Jahren stark gekürzt oder gleich ganz verboten hätten? Die übliche Antwort: Weil durch die dauernde Darstellung von immer extremerer Gewalt unsere Standards gesunken sind, wir uns daran gewöhnt haben. Zumindest medienhistorisch gesehen ist das ein Irrtum. Die scheinbar ständige Zunahme von Gewalt und deren medialer Darstellung hat mehr mit unserer subjektiven Wahrnehmung zu tun als mit der tatsächlichen Entwicklung. Wer sich über die vielen Toten im Tatort beklagt, hat scheinbar die vielen Kriegsfilme des Dritten Reichs vergessen (nach kurzer Pause wurde in der jungen BRD munter weitergeballert) und den heldenhaften Kampf des deutschen Landsers in der Wochenschau, von den Judenpogromen und von Auschwitz ganz zu schweigen. Früher war keineswegs alles besser, es war viel schlimmer.

Ich glaube, die größere Toleranz des BBFC gegenüber Horrorfilmen (und anderen Genres) ist eine Folge der neuen Transparenz, die dort jetzt eingezogen ist. Zum frei zugänglichen Online-Angebot des BBFC gehören kurze, sehr nüchtern abgefasste Fallstudien zu besonders umstrittenen Filmen, von Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin über Kubricks A Clockwork Orange bis zu Antichrist von Lars von Trier. Für die Zensurbehörde ist das nicht immer schmeichelhaft. Sie stellt sich so ihrer eigenen Geschichte und auch der öffentlichen Meinung, und das hat Auswirkungen auf ihre Zertifizierungspraxis. Für eine demokratische Gesellschaft kann es nur gut sein, wenn sich eine solche Einrichtung öffentlich legitimieren muss. Denn der "momentane gesellschaftliche Wertekonsens" lässt sich nicht dadurch erfassen, dass drei Leute, die ihren Namen nicht nennen wollen, auf Anregung eines ebenfalls anonym bleibenden "Antragsberechtigten" in einem Geheimverfahren darüber befinden, ob ein Film, ein Computerspiel oder eine Website auf den Index kommt oder nicht.

"Alles Unsinn", würde Frau Monssen-Engberding vermutlich sagen. Es gibt eine regelmäßig erscheinende Publikation, die man erwerben kann und in der die aktuellen Indizierungen veröffentlicht werden. Jede Indizierungsentscheidung wird ausführlich begründet, und diese schriftlichen Begründungen kann man anfordern. Letzteres ist richtig. Ich habe um die Indizierungsentscheidungen zu den genannten Filmen gebeten, bin wie immer auf freundliche und hilfsbereite BPjM-Mitarbeiter gestoßen und habe die angeforderten Begründungen ohne Schwierigkeiten erhalten. Allerdings besteht zwischen uns und den pragmatischen Briten ein wesentlicher Unterschied. Im Vereinigten Königreich ist man primär an den praktischen Auswirkungen von Regelungen interessiert. Wir betonen, wie wichtig Transparenz ist und geben uns dann damit zufrieden, dass diese theoretisch sichergestellt ist. Die Praxis interessiert uns weniger.

Wenn ich hier alles auflisten würde, was in den vergangenen fünf Jahren indiziert wurde, würde ich gegen die Bestimmungen des Jugendschutzes verstoßen. Das ist verboten, weil die Jugend eine solche Liste vielleicht mit einer Einkaufsempfehlung verwechseln würde. Die Begründungen habe ich erhalten, weil ich ein journalistisches und/oder wissenschaftliches Interesse glaubhaft machen konnte. Diese Voraussetzung muss man erfüllen. Aber was wird aus dem legitimen Informationsbedürfnis eines Handwerkers, einer BWL-Studentin oder einer Hausfrau? Dafür ist - theoretisch - die Presse zuständig, die deshalb solche Indizierungsentscheidungen anfordern kann. Nur: Welcher Leser einer großen Zeitung oder Zeitschrift hat kürzlich etwas über die aktuelle Tätigkeit der Bundesprüfstelle erfahren? Da wird immer nur berichtet, wenn ein rundes Jubiläum ansteht, und die Berichterstattung konzentriert sich auf mehr oder weniger lustige Anekdoten von früher, als noch Tarzan-Comics verboten wurden. Diese Behörde ist aber mehr als ein Kuriosum.

Index für Masochisten

Wo konnte man lesen, dass die ohnehin bereits geschnittene Fassung von A l’intèrieur von der BPjM und ihren Beisitzern (juristische Laien) als "schwer jugendgefährdend" eingestuft wurde, obwohl die Juristenkommission der SPIO das verneint. Und, ganz wichtig: Wo wurde öffentlich darüber diskutiert, was das für die künftige Zertifizierungspraxis der FSK bedeutet? Wird dort alles bleiben wie gewohnt? Wird die "Freiwillige Selbstkontrolle" Filme großzügiger freigeben (und damit dem Zugriff der BPjM entziehen), weil sie zur Kenntnis nehmen muss, dass ein JK-Gutachten nicht mehr vor Liste B schützt wie bisher? Oder wird sie im Gegenteil ebenfalls strengere Maßstäbe anlegen, bevor ihr ein Politiker Beihilfe zur Gewaltverherrlichung vorwirft und mehr Kompetenzen für die Bundesprüfstelle fordert? Das würde bedeuten, dass wir uns auf eine Zunahme der Filme einstellen müssen, die aus Gründen des Jugendschutzes gekürzt werden, obwohl sie explizit nur für Erwachsene freigegeben sind.

Beim Schutz der Jugend gehört die Bewahrung einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zwingend mit dazu. Als ich ein Jugendlicher war, wurde viel über Toleranz diskutiert. Damals zitierte man oft einen Satz von Voltaire, der bei uns in Vergessenheit geraten ist, weil wir Toleranz mehr und mehr mit Gleichgültigkeit und Desinteresse verwechseln: "Ich hasse, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tod ihr Recht verteidigen, es zu sagen." Unsere Zeit ist weniger dramatisch. Es muss nicht gleich das Leben sein, das man einsetzt, aber mehr Streitkultur, etwas mehr Toleranz gegenüber unbequemen Filmen und ein paar Verbote weniger wären doch wünschenswert.

Es geht hier nicht um irgendwelche Horrorfilme, sondern um ein grundsätzliches Verständnis von Demokratie und einen fairen Umgang mit dem, was uns vielleicht nicht passt. Ich rede keinem bedingungslosen Relativismus das Wort, der heute lieber gar nichts mehr macht, weil es gestern Fehlurteile und Überreaktionen gab. Ich will überhaupt nicht in Frage stellen, dass es widerliche, die Gewalt verherrlichende und pornographische Filme gibt, die nur aus zynischen Kommerzinteressen heraus entstanden sind. Aber ich bin gegen ein summarisches Aburteilen. Eine Schrotschuss-Politik, die alles niederknallt, was vor die Flinte kommt, lässt sich nicht dadurch rechfertigen, dass das Richtige mit dabei ist.

Erfahrungsgemäß haben es bei der Bundesprüfstelle solche Filme besonders schwer, die im Ruf stehen, einen Trend begründet zu haben bzw. Teil dieses Trends zu sein. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Mario Bavas Ecologia del delitto, ein Film von 1971, nur deshalb weiter auf dem Index steht, weil sich die Macher von Freitag der Dreizehnte, Teil 1 bis X dort bedient haben (die Gemeinsamkeiten sind ganz oberflächlich). Als Hostel und Saw in die Kinos kamen, prägte jemand den Begriff "Folterporno" (torture porn). Das blieb haften. Die neuen französischen Horrorfilme, die ein beunruhigendes Maß an Gewalt aufweisen, werden gern mit diesen "Folterpornos" verglichen. Das ist ganz normal. Man vergleicht Neues mit dem, was man schon kennt, um es besser einordnen zu können. Das heißt aber noch nicht, dass solche Einordnungen dann richtig sind. Ein wirklicher Vergleich kann auch gravierende Unterschiede aufzeigen.

Die Bundesprüfstelle schreibt selbst, dass es darauf ankommt, jeden einzelnen Film gesondert zu betrachten. Bleiben wir also fair und sehen wir uns die Indizierungsentscheidungen genauer an. Eingangs darf ich vermelden, dass aus mir kein Masochist geworden ist, obwohl ich vor Erreichen der Volljährigkeit Sacher-Masochs Venus im Pelz gelesen und mehrere Verfilmungen (oder das, was sich dafür ausgab) gesehen habe. Die Lektüre solcher Indizierungsentscheidungen (im Folgenden mit "IE" abgekürzt) empfinde ich als quälend, aber Lustgefühle habe ich dabei keine.

Deutsche Gründlichkeit dank Cut and Paste

Die durchschnittliche IE ist jetzt doppelt bis viermal so lang wie zu Zeiten, als so ein Text noch mit der Schreibmaschine getippt werden musste. Einen Großteil machen die immer gleichen Versatzstücke aus, die früher ausgeschnitten und auf die Schreibmaschinenseite geklebt wurden (in den alten Kopien kann man die Kleberänder sehen); jetzt werden bereits abgespeicherte Textbausteine in das jeweilige Word-Dokument eingefügt. Ich habe vollstes Verständnis für jeden, der die Entscheidungen der BPjM schon deshalb nicht kommentieren mag, weil er sie dafür erst mal lesen muss. Das ist ein freudloses Geschäft.

Die Inhaltsangaben sind länger und detaillierter geworden als früher. In drei der vier genannten Fälle wird die Zusammenfassung mit einem "Der Inhalt des Films lässt sich wie folgt zusammenfassen:" eingeleitet, in der IE zu Haute tension ist es "der Inhalt der DVD". Wenn man diesen Standardsatz schon hat, bedeutet auch das eine kleine Arbeitsersparnis. Das Problem dabei ist nur, dass man früher oder später dem eigenen Anspruch nicht mehr gerecht werden kann, jeden Film einzeln und für sich zu beurteilen, wenn man mit zu vielen Textbausteinen arbeitet, die schon fertig sind, bevor man den Film gesehen hat. Film und Prüfer geraten so in ein Korsett, das sie irgendwann erdrückt.

Leider kann ich dem 3er-Gremium die Bemerkung nicht ersparen, dass ich diese Inhaltsangaben in weiten Teilen für obszön halte, um nicht zu sagen für pornographisch. Sie bieten wenig mehr als eine Aneinanderreihung von Gewalttaten und mithin genau das, was das 3er-Gremium den indizierten Filmen vorwirft. Film und Zusammenfassung sind aber nicht identisch. Anders gesagt: Ein Film ist nicht schon deshalb obszön, weil es die Inhaltsangabe ist. Solche Inhaltsangaben sind keine Spiegelung des Gesehenen, sondern bereits Interpretation (durch Auswahl, Gewichtung, Anordnung) und sagen eine ganze Menge über die Autoren. Bei dem, was für das Gremium offenbar primär von Interesse war, hat es sehr genau hingesehen. Es werden sogar einige "Gewaltspitzen" beschrieben, wie das im BPjM-Jargon heißt, die ich gar nicht mitbekommen habe. Was dagegen fast völlig fehlt, ist ein irgendwie gearteter analytischer Ansatz. Statt eines argumentativen Aufbaus gibt es Aneinanderreihungen. Ich kann statt Qualität nur Quantität entdecken.

Mir fällt es schwer zu glauben, dass dieses Gremium das nicht besser kann. Meiner Meinung nach werden solche Texte in dem Bewusstsein geschrieben, dass sie wahrscheinlich sowieso niemand lesen wird. Texte so zu strukturieren, dass ihre Argumentationslinie für den Leser nachvollziehbar wird, ist schwierig. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man sich manchmal die größte Mühe gibt und es klappt trotzdem nicht. Sich diese Mühe abzuverlangen, obwohl man im Grunde seines Herzens mit Lesern gar nicht rechnet, erfordert eine Selbstdisziplin, die ich nicht aufbringen würde.

Voyeuristische Betrachtung des Betrachters

Den Begründungen der BPjM kann ich nur entnehmen, dass so ein 3er-Gremium auch nicht heldenhafter ist als ich. Schon deshalb bin ich dafür, dass jede IE öffentlich zugänglich gemacht wird. Wenn die Begründungen dann besser geworden sind (Texte werden das immer, wenn man sich der Kritik anderer Leute stellen muss), kann man darüber reden, ob sie gegen das Werbeverbot verstoßen. Im Moment tun sie es nicht. Mir haben diese Begründungen gar keine Lust gemacht, mir die betroffenen Filme anzuschauen. Ich sehe nicht ein, warum das bei anderen Leuten anders sein sollte als bei mir - womit wir schon beim nächsten Problem wären.

Dazu eine Passage aus der IE zu A l’intèrieur, aus Werbeverbotsgründen ohne die Details:

Der Film schockiert zudem den Betrachter durch Ströme von Blut. [Beschreibung einiger "Gewaltspitzen".] Diese Szenen laden den Betrachter zur voyeuristischen Betrachtung ein.

Wie das? Wird der Betrachter schockiert, oder wird seine Schaulust befriedigt? Beides zusammen, finde ich, geht nicht. Im Gesamtzusammenhang der IE kann ich nur eine Erklärung für diesen scheinbaren Widerspruch anbieten: Es gibt zwei Gruppen von Betrachtern. Die eine Gruppe ist schockiert, wenn sie "Metzeleien" sieht (auch so ein BPjM-Wort). Das wäre das 3er-Gremium. Die andere Gruppe, das sind die, die sich zur voyeuristischen Betrachtung der Metzeleien einladen lassen. In älteren BPjM-Texten ist das der "gefährdungsgeneigte Jugendliche". Wobei mir an den nicht vorgestanzten Teilen der hier besprochenen, neueren IE auffällt, dass sich der Jugendliche weitgehend verflüchtigt hat. Meistens ist nur noch vom "Betrachter" die Rede, ganz allgemein. Der nicht mehr jugendliche Betrachter geht aber das 3er-Gremium gar nichts an.

Als Medienhistoriker möchte ich auf die Tradition verweisen, in der das 3er-Gremium steht. Im ersten Jahrzehnt seiner Geschichte war der Film das Medium der Unterschicht und der Frauen. Den Patriarchen aus dem Bürgertum war er deshalb ein Dorn im Auge. Nach einigen Scharmützeln mit der Zensur beugten sich die Filmemacher den Gesetzen einer bürgerlichen Ästhetik (die frühen Filme entsprachen den Sehgewohnheiten des Proletariats, die ganz anders waren). Das Genre, in dem sich die meisten Elemente aus der Frühgeschichte der Kinematographie erhalten haben, ist der Horrorfilm. Genau das, was jetzt dem Horrorfilm vorgeworfen wird, wurde früher dem Medium generell vorgeworfen. Als der Film noch nicht in die bürgerliche Regelästhetik eingepasst war, stand für die Kritiker aus dem Bildungsbürgertum fest, dass Kinogeher ganz allgemein infantil und triebgesteuert waren. Heute muss man sich das nur noch unterstellen lassen, wenn man Horrorfilme mag. Deshalb ist es auch irgendwie logisch, wenn das 3er-Gremium den Verweis auf die Jugend für verzichtbar hält. Volljährige, die Horrorfilme sehen wollen, sind nämlich nie erwachsen geworden. Das ist - pardonnez moi! - ein ziemlich dummes Vorurteil.

Gaffer tragen keinen Cowboyhut

Einem der IE-Fertigteile zufolge müssen gewisse Filme indiziert werden, weil sie auf Kinder und Jugendliche (sowie implizit auf die Erwachsenen) "sozialethisch desorientierend", "verrohend" und "desensibilisierend" wirken sowie "zu Gewalttätigkeit anreizend" sind. Das klingt plausibel. Aber stimmt es deshalb auch? Plausibel wirken Behauptungen, wenn sie oft genug vorgebracht werden. Durch dauernde Wiederholung wird das Falsche aber noch nicht richtig, wird das Plausible nicht bewiesen.

Ein Wegbereiter der neuen französischen Horrorfilme ist Gaspar Noë. In Irreversible (nicht indizierbar, weil von der FSK für Erwachsene freigegeben) wird eine junge Frau in einer Fußgängerunterführung vergewaltigt und dann von ihrem Vergewaltiger so lange getreten, bis sie ins Koma fällt. Ein Passant wird Zeuge des Vorfalls, schaut zögernd hin und verschwindet dann wieder, statt zu helfen. Zur Vorbereitung auf diesen Artikel habe ich mir Noës Film noch einmal angesehen. Zwei Tage später wurde Dominik Brunner im Münchner Stadtteil Solln getötet. Unwillkürlich fragte ich mich, ob die Täter auch deshalb so brutal waren, weil sie womöglich solche Gewaltszenen gesehen hatten? Würde Herr Brunner noch leben, wenn wir schärfere Gesetze hätten, mit deren Hilfe Polizei und Jugendschutz wirkungsvoller gegen solche Filme vorgehen könnten?

Irreversible

Die Vergewaltigungsszene in Irreversible ist zugleich extrem stilisiert und äußerst realistisch. Das ergibt eine sehr komplexe, nicht auf einen einfachen Nenner zu bringende Seherfahrung. Mich stößt der ganze Vorgang total ab, und doch habe ich bisher noch jedes Mal zugeschaut, bis die quälend lange Szene zu Ende war. Ich bin demnach wohl ein Voyeur (im Kino sind wir das sowieso alle). Aber seit ich die Szene kenne, finde ich Filme obszön, in denen eine Vergewaltigung mit ein paar kunstgewerblichen Mätzchen schamhaft angedeutet wird und weiter nichts. Nicht, weil ich unbedingt Details sehen will, sondern weil die sich in den Grenzen des "guten Geschmacks" haltenden, entsexualisierten Darstellungen, die uns üblicherweise präsentiert werden, das Zerstörerische dieses Akts verniedlichen. Auch das ist eine Form von Missbrauch. Obszön ist nicht die explizite Darstellung der Gewalttat, obszön sind die Andeutungen.

Irreversible

Ich würde - hoffe ich - nie auf den Gedanken kommen, eine Frau zu vergewaltigen oder auf einen am Boden liegenden Menschen einzutreten, nur weil ich vorher mehrmals dabei zugeschaut habe, wie ein Schauspieler so tut, als würde er dies machen. Genau das unterstellen wir aber sehr schnell anderen Leuten (und den Filmen, die sie vielleicht gesehen haben könnten), wenn wir nach einer Erklärung für Gewaltausbrüche suchen. Wer das tut, muss es zumindest gut begründen. Versuchsweise kann man das Ganze auch umdrehen. In John Fords The Man Who Shot Liberty Valance wird ein Anwalt (James Stewart) vor den Augen braver Bürger von einem Banditen (Lee Marvin) ausgepeitscht. Am Schluss würde der Bandit den Anwalt mitten in der Stadt erschießen, wenn das nicht ein einzelner tapferer Cowboy (John Wayne) verhindern würde.

The Man Who Shot Liberty Valance

Würde also Dominik Brunner noch leben, wenn die Bürger, die in Solln am Bahnsteig standen, regelmäßig Western mit John Wayne gesehen hätten? Sollten wir in Zukunft beim Zugfahren alle Cowboyhüte tragen, um den Schlägern zu signalisieren, dass wir keine Gaffer sind und eingreifen werden? Ist das absurd? Und wenn ja: Warum erscheint uns der schädliche Einfluss der Medien so plausibel? Weil Medien wirklich gefährlich sind, oder weil wir es gern glauben wollen? Mag sein, dass ein Jugendlicher, der den ganzen Tag "Gewaltvideos" sieht oder "Killerspiele" spielt, ein Problem hat. Aber wenn sich ein jugendlicher Amokläufer wie ein Filmheld kleidet, erklärt das noch nicht, warum er Amok läuft. Warum wird so selten danach gefragt, ob wir womöglich Ursache und Wirkung verwechseln? Weil uns die Antwort nicht gefallen könnte? Weil wir lieber an den Symptomen herumdoktern, statt die Ursachen zu bekämpfen, was viel teurer wäre? Verbote sind billig, und in den Augen vieler Wähler sehen sie auch noch gut aus. So wie die schmucken Notrufsäulen der Münchner S-Bahn, die seit fünf Jahren kaputt sind (demnächst sollen sie repariert werden).

Böse Filme für böse Buben

Bleiben wir noch einen Moment bei der Kosmetik. Früher, in den 1970ern, wurde bei Indizierungen gern mal auf die "Erkenntnisse der Lernforschung" verwiesen, die nur einen Schluss zuließen: das, was der Behörde nicht passte, war gefährlich für Kinder und Jugendliche. An den IE zu Haute tension etc. fällt mir auf, dass es solche Verweise auf die Wissenschaft nicht mehr gibt. Sie sind einfach nicht mehr da. Da das für alle vier der hier diskutierten IE aus den letzten Jahren gilt, kann es sich nicht um ein Versehen handeln.

Alle möglichen Disziplinen der Wissenschaft melden jetzt schon seit vielen Jahren, dass sie kurz davor sind, ihre Hypothesen über diese oder jene Wirkung der Medien beweisen zu können. Das Versprochene wirklich liefern konnte bisher niemand, auch wenn oft etwas anderes behauptet wird. Man darf sich nicht von Fernsehsendungen täuschen lassen, in denen jeder schnell ein paar griffige Sätze unterbringt, bevor er unterbrochen wird. Öfter eingeladen werden auch nur Leute, die das können. Das muss schon deshalb so sein, weil Forscher, die komplexe Zusammenhänge erklären wollen, das vergreisende TV-Publikum überfordern würden, dessen Aufmerksamkeitsdefizite mindestens so groß sind wie die der Kinder (vielleicht infolge eines übermäßigen Genusses von zur Verblödung anreizenden Familienserien mit Affen, Robben und Oberförstern).

Die Wirklichkeit ist viel widersprüchlicher, als es die Fernsehdiskussion erlaubt. Zur Wirkung der Medien gibt es inzwischen so viele Studien mit so vielen Resultaten, dass man damit so gut wie alles belegen kann, und das genaue Gegenteil gleich mit. Das ist viel weniger polemisch, als es klingt. Ich habe daher durchaus Verständnis für die BPjM. Die Erkenntnisse der Lernforschung waren letztlich doch nicht so überzeugend, wie es anfangs erscheinen mochte. Wenn sich die Jugendschützer heute auf das eine oder andere Forschungsergebnis berufen, müssen sie damit rechnen, dass man ihnen das morgen um die Ohren haut. Das kann nicht passieren, wenn man konkrete Festlegungen vermeidet und im Ungefähren bleibt. Aber wenn wir eine Begründungskultur haben wollen, in der es nicht ausreicht, dass eine Behörde etwas für richtig erklärt, weil sie es für richtig hält, ist das zu wenig.

Früher gab es böse Filme für böse Buben, die aus dem Verkehr gezogen werden mussten. Und weil es zwischen Zensoren und Zensierten oft zu einer symbiotischen Beziehung kommt, wurde das Jugendgefährdende von den Verleihern mit Versprechen wie "Ein böser Film" beworben. Beim Verbieten hatte man es da leicht. John Trevelyan war jahrelang der Chef des BBFC. In seinen Memoiren (What the Censor Saw) stehen Sätze wie dieser über das Horrorgenre: "Niemand nahm diese Filme ernst; für die Leute, die sie machten, galt das genauso wie für das Publikum." Das ist großer Quatsch, fasst aber sehr prägnant die Meinung vieler Zensoren zusammen.

Dahinter steckt eine Geringschätzung des Mediums an sich. Für Zensoren ungünstig ist das Phänomen, dass ein Medium an Prestige gewinnt, wenn ein neues auftaucht. Lange Zeit galt der Film als geistlose Unterhaltung für Dummköpfe, Analphabeten und potentielle Kriminelle. Als das Fernsehen eingeführt wurde, richteten die Universitäten erste Filmstudiengänge ein (bei uns noch lange nicht, aber in anderen Ländern). Der Siegeszug des Videorekorders verhalf uns zu der Erkenntnis, dass auch das bis dahin kulturlose Fernsehen etwas für sich hatte. Der wahre Hort der Unkultur waren nämlich die Videotheken, in denen es diese "Gewaltvideos" gab.

Als Faustregel für Wirkungsstudien gilt: Das jeweils neueste Medium ist auch das gefährlichste und schädlichste. Wissenschaftler, die früher "Gewaltvideos" für äußerst schädlich hielten und kurz davor waren, das auch beweisen zu können, haben inzwischen herausgefunden, dass "Killerspiele" viel gefährlicher sind, was sie dank ihrer staatlich finanzierten Forschungsprojekte bestimmt bald beweisen können. Vielleicht ist es ein Zufall, dass ein Medium zuerst an gesellschaftlichem Prestige gewinnt, um anschließend als weniger schädlich zu gelten. Mir erscheint es plausibel, dass da ein Zusammenhang besteht, der solche Forschungsergebnisse stark relativieren würde.

Kunstfreiheit vs. Jugendschutz

Als der Film noch kein Kulturgut war und kaum Fürsprecher hatte, konnte man Teile herausschneiden lassen, und in der veröffentlichten Mainstream-Meinung wurde man höchstens dafür kritisiert, dass man zu wenig entfernt hatte und nicht zu viel. Heute gilt auch der Film als eine Kunst, doch manchmal ist diese Kunst gefährlicher, als es der Jugendschutz erlaubt. Dann muss abgewogen und begründet werden. Die BPjM ist sich des Problems bewusst. Zitat aus der IE zu A l’intèrieur (Seite 10):

Da Kunst ein kommunikativer Prozess ist, kann sich die Kunstfreiheit nur dann entfalten, wenn sie nach außen dringt, dargeboten und verbreitet wird. Die Kunstfreiheit schützt damit nicht nur den "Werkbereich", also den eigentlichen Schaffungsakt des Kunstwerkes. Geschützt wird auch der "Wirkbereich", also die Darbietung und Verbreitung eines Kunstwerkes.
Aufgrund dieser sozialen Wirkung nach außen kann das Grundrecht der Kunstfreiheit mit anderen Verfassungsgütern in Konflikt gelangen [sic].
Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 27.11.1990 (NJW 91, 1471 ff.) hat jedoch auch der Jugendschutz Verfassungsrang, abgeleitet aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 2 GG. Treten Konflikte zwischen der Kunstfreiheit und dem Jugendschutz auf, so kommt der Kunstfreiheit kein absoluter Vorrang zu. Andererseits genießt aber auch der Jugendschutz keinen generellen Vorrang gegenüber der Kunstfreiheit. Die Konflikte sind vielmehr durch eine Abwägung der beiden Verfassungsgüter im Einzelfall zu lösen.

Kernstück dieser etwas verschwurbelt formulierten Passage ist das Abwägen zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz (im Einzelfall). Dem Text entnehme ich, dass es sich dabei nicht um ein Zugeständnis der BPjM handelt. Das Bundesverfassungsgericht verlangt es so.

Vielleicht kann die Wissenschaft die Gefährlichkeit bestimmter Medien morgen tatsächlich nachweisen. Das ändert aber nichts daran, dass wir uns heute im Bereich des Ungefähren, der Plausibilität, des "guten Geschmacks" und des "gesunden Menschenverstands" bewegen. Die Zensoren bringt das beim Abwägen zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz in ein Dilemma. Behauptungen, die nicht zu beweisen sind, könnten als ziemlich leicht empfunden werden. Wenn aber der Film eine Kunst ist, liegt in der anderen Wagschale ein schwerer Brocken.

Wie würden wir das machen, wir Durchschnittsbürger? Würden wir, da wir nur Menschen sind, der Versuchung erliegen, das Abwägen zugunsten des Jugendschutzes zu beeinflussen, indem wir von der Kunst so viel wie möglich abknabbern, am besten, bis nichts mehr übrig ist? Würden wir ganz frech behaupten, dass es sich bei dem, was wir verbieten wollen, erst gar nicht um Kunst handelt und diese Behauptung in Allgemeinplätze einwickeln, damit kaum mehr zu erkennen ist, dass wir sie nicht begründen können (zum Beispiel, weil wir wenig Ahnung haben)? Vielleicht würden wir das so machen. Aber eine deutsche Behörde? Sogar eine Bundesoberbehörde? Selbstredend wird eine solche Einrichtung ihren Prüf- und Abwägungsauftrag gewissenhaft erfüllen. Wie das geht, wollen wir uns genauer anschauen. Bestimmt kann man daraus etwas lernen.

Deshalb in Teil 2: Böse Filme zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz - Wie eine Bundesoberbehörde die Vorgaben des höchsten deutschen Gerichts befolgt.