Katar: Marathonlauf für Sklaven

95 Prozent der Erwerbstätigen sind ausländische Arbeitskräfte, die in großer Abhängigkeit und unter härtesten Bedingungen arbeiten. Für die WM hat die Fifa die Parole ausgegeben: "Wir ziehen das durch"

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Die "moderne" Sklaverei im Golfstaat Katar sorgt wieder einmal für Schlagzeilen. Jüngstes spektakuläres Beispiel der Behandlung migrantischer Arbeitskräfte war die Nachricht, dass sie dazu gezwungen wurden, in glühender Hitze in dem Wüstenstaat an einem Marathonlauf teilzunehmen, weil dessen Organisatoren beschlossen hatten, den Weltrekord an Teilnehmern aufzustellen. Wer sich verweigerte, musste mit Schlägen rechnen.

Die sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen in dem dank Öl- und Gasreserven superreichen, monarchisch regierten Land betreffen vor allem Arbeitskräfte aus Pakistan, Indien, Nepal, Sri Lanka sowie von den Philippinen. Deren Zahl nimmt zu, seitdem die Ausrichtung der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 an Katar vergeben worden ist.

Die Profiteure der faktischen Sklavenarbeit in dem technisch hypermodernen, aber mit einem mittelalterlichen Sozialsystem ausgestatteten Feudalstaat, sind nicht nur Golfaraber aus der örtlichen Oberklasse. Viele von ihnen sitzen in Europa, wo die Behandlung der Arbeitskräfte hier ansässiger Unternehmen in Katar ab und und zu für Schlagzeilen sorgt. Beispielsweise in Frankreich, etwa bei dem französischen Bau-Großkonzern Vinci (im vergangenen Jahrzehnt aus dem Megakonglomerat Vivendi bzw. dessen Pleite hervorgegangen).

Ende März dieses Jahres erstatteten der französische Gewerkschaftsdachverband und eine NGO, die gegen internationale Korruption kämpfende Vereinigung "Sherpa", Strafanzeige gegen den Konzern. Aufgrund der Arbeitsbedingungen auf den Baustellen von Vinci in Katar, zur Vorbereitung der Fußball-WM 2022, sehen sie den Tatbestand der Zwangsarbeit als erfüllt an. Der Konzern, laut Wikipedia "Weltmarktführer für Bau, Konzessionen und bauverwandte Dienstleistungen", selbst bestreitet die Vorwürfe.

Mittlerweile hat er eingeräumt, dass etwa die Pässe südasiatischer Bauarbeiter in seinen Diensten einbehalten worden seien - behauptet jedoch, dies sei auf angeblich freiwilliger Basis geschehen, um einem Verlust der Ausweisdokumente vorzubeugen. Vinci kündigte seinerseits eine Strafanzeige gegen seine Kritiker wegen "Verleumdung" an.

Im Namen der französischen Regierung verkündete der Staatssekretär für Außenhandel, der deutsch-französische Doppelstaatsbürger Matthias Fekl, man verteidige die französischen Unternehmen im Ausland - im Rahmen des 2012 vom amtierenden Außenminister Laurent Fabius entwickelten Konzepts der "Wirtschaftsdiplomatie" aka Förderung im Land ansässiger Firmen. Deswegen lässt man auf Vinci nichts kommen. Stattdessen wolle man einen "Leitfaden" für Konzerne betreffend den "Einhalt der Menschenrechte" verbreiten. Man könnte von einer hübschen Farce sprechen.

Aber was ist in Katar wirklich los?

Das Land, dessen Einwohnerzahl vor kurzem die Zwei-Millionen-Marke überschritt, weist insbesondere dank seiner Erdgasvorkommen das (neben Luxemburg) höchste Pro-Kopf-Einkommen des Planeten auf, mit 110.000 Dollar pro Kopf und pro Jahr. Nur ist dieser Reichtum radikal ungleich unverteilt.

Zugleich weist Katar den höchsten "Ausländeranteil" - um in der Begrifflichkeit der europäischen bürgerlichen Presse zu bleiben - unter seiner Gesamtbevölkerung auf. 225.000 bis 230.000 der Einwohner des halbinselförmigen Landes besitzen die katarische Staatsbürgerschaft und die damit verbundenen Vorrechte. Doch rund 1,8 Millionen Einwohner des Landes sind ausländische Arbeitskräfte. Diese machten im Herbst 2013 insgesamt 88 Prozent der Wohnbevölkerung und, je nach Angaben, 94 oder 95 Prozent der erwerbstätigen Arbeitskräfte in dem Golfstaat (sowie 99 Prozent im Bausektor) aus. Das ist der höchste Anteil der Welt, buchstäblich ein internationaler Rekord.

Aber dabei wird es nicht bleiben: In naher Zukunft dürfte ihre Anzahl noch sprunghaft steigen. Denn seitdem Katar am 02. Dezember 2010 bei einer Sitzung des internationalen Fußballverbands FIFA in Zürich den Zuschlag erhielt, die Weltmeisterschaft (WM) im Jahr 2022 auszurichten, hat das Emirat sich in gigantische Bauprogramme gestürzt.

Neun Fußballstadien, eine Straßenbahnlinie, eine U-Bahn, ein nagelneuer Flughaften, Hotelbauten und weitere Prestigeobjekte sollen entstehen. Katar wird dafür voraussichtlich umgerechnet zwischen 100 und 200 Milliarden Euro investieren. Um an den Bauarbeiten teilzunehmen, werden laut den niedrigsten Schätzungen mindestens 500.000 zusätzliche Arbeitskräfte, laut den höchsten bis zu 1,5 Millionen zusätzlich ins Land gezogen werden.

Ein System der Vormundschaft

Um die Kontrolle über diese erdrückende Mehrheit an migrantischen Arbeitskräften zu bewahren und der verhältnismäßig kleinen "einheimischen" Bevölkerung gigantische Privilegien zu garantieren, setzt die Golfmonarche Katar auf das ursprünglich religiös begründete System der kafala: der Vormundschaft für einen "Schutzbefohlenen".

Da das traditionelle muslimische Recht keine Adoption in ähnlichem Sinne wie die meisten europäischen Rechtsordnungen kennt - die Eltern im juristischen Sinne können allein die biologischen Eltern bleiben, ansonsten würde die Situation als Eingriff in die Ordnung der göttlichen Schöpfung gewertet -, bietet es stattdessen einen Mechanismus der Patenschaft an. Eine Schutzperson neben den Eltern, die abwesend oder tot oder schlicht überfordert und zum Unterhalt ihres Kindes nicht in der Lage sein können, kann eine Vormundschaft übernehmen.

Oft handelt es sich bei dieser als kafil, in der englischen Schreibweise kafeel, bezeichneten Schutzperson um einen Onkel, eine Tante oder ein sonstiges Familienmitglied eines leiblichen Elternteils. Einen solchen Mechanismus gibt es auch etwa im marokkanischen oder algerischen Recht, wo er weitgehend an die Stelle der (oftmals innerfamiliären) Adoption nach französischem Recht getreten ist. Aber eine spezielle Variante des kafala-Systems wird in den Golfstaaten praktiziert, wo sie als Rechtsbehelf für die Kontrolle von ausländischen Arbeitskräften benutzt wird. Laut einer Umfrage, die im August 2013 publik wurde, sollen angeblich 60 Prozent der einheimischen Bevölkerung sogar eine Verschärfung dieses Systems befürworten.

Der Mechanismus beruht darauf, dass jede zum Zweck der, vorläufigen oder dauerhaften, Niederlassung in einem der Golfländer einreisende Person einen Schutzpatron (kafil) benötigt, welcher sich theoretisch vor allem für das korrekte moralische Verhalten seiner/s Schutzbefohlenen verbürgt. In der Praxis läuft es darauf hinaus, dass der "Schutzherr" sofort bei Einreise des Migranten oder der Migrantin dessen oder deren Reisepass und Ausweispapiere konfisziert und einbehält.

In Katar etwa ist dies in 90 Prozent der Fälle die Ausgangssituation. Dies schafft ein intensives persönliches Abhängigkeitsverhältnis, das eher mit den in einem Feudalsystem herrschenden interpersonellen Beziehungen als mit dem "üblichen" kapitalistischen Grundverhältnis (zwischen einem Kapitaleigentümer und einem "Verkäufer der Ware Arbeitskraft") verglichen werden kann.

Ohne Einwilligung des kafil kann der oder die "Schutzbefohlene" weder die Arbeitsstelle wechseln, noch das Land verlassen - im Streitfall oder bei Abbruch der Beziehungen zu dem "Schutzherrn" drohen Gefängnis und/oder Abschiebehaft. Jedenfalls wenn der "Schutzherr" dann den Pass nicht wieder herausrückt, was nach katarischem Recht zwar theoretisch illegal, jedoch gängige Praxis ist. Die Person des kafil kann identisch mit dem Arbeitgeber sein, es kann sich bei ihm aber auch um eine dritte Person handeln, die diese Funktion etwa gewerbsmäßig (und dann oft für eine Vielzahl von Personen) ausübt.

Möchte der oder die "zum Schutz Anvertraute" das Land verlassen, benötigt er oder sie ferner grundsätzlich ein Exit-Visum. Dieses aber erhält nicht, wer nicht die Einwilligung des "Schutzherrn" dafür besitzt. Wer also dessen Gunst verloren hat, bleibt in Katar festgehalten, droht dort aber in die "Illegalität" zu verfallen. Zumal das Aufenthaltsrecht grundsätzlich an einen konkreten Arbeitsplatz gekoppelt ist: Wer arbeitslos oder einfach nicht weiterbeschäftigt wird, ist "illegal". Und droht automatisch hinter Gittern zu landen.

Rund 250 Dollar im Monat

Was die Herkunft der Arbeitskräfte betrifft, notierte die britische Tageszeitung Guardian in ihrer Ausgabe vom 18. Februar 2014 folgende Zahlen zur Verteilung der migrantischen Arbeitskräfte (allerdings auf Basis einer Schätzung ihrer Gesamtzahl auf 1,2 Millionen, was erheblich untertrieben erscheint): Rund 22 Prozent kommen demnach aus Indien und "ein ähnlich hoher Anteil" aus Pakistan, 16 Prozent aus Nepal - andere Quellen sprechen von zwanzig Prozent Nepalesen -, 13 Prozent aus dem Iran, 11 Prozent von den Philippinen, acht Prozent aus Ägypten und weitere acht Prozent aus Sri Lanka.

Die Löhne in Qatar betragen für diese Arbeitskräfte rund 250 Dollar pro Monat. Das ist in der Regel erheblich mehr, als diese Menschen in ihrem Herkunftsland verdienen könnten. Allerdings nehmen die Arbeitgeber davon in der Praxis oft unangekündigte Abzüge vor, halsen den Betreffenden den Kauf ihrer Matratzen oder selbst von Trinkwasser (in Flaschen) auf den Baustellen mit eigenem Geld auf oder verringern einfach den vereinbarten Lohn aus eigener Machtvollkommenheit. Zudem müssen die Betreffenden sich oft in Höhe zwischen 1.000 und 10.000 Dollar verschulden, um an einen Arbeitsvertrag in Qatar zu kommen und um ihre Anreise zu organisieren. Dadurch bleiben sie dauerhaft in einer Form von Schuldknechtschaft gefangen.