Katar: Marathonlauf für Sklaven
Seite 2: Ein System in der Kritik
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Aufgrund des Scheinwerferlichts, das in der internationalen Öffentlichkeit seit der Vergabe der Fußball-WM 2022 an Qatar - aber auch aufgrund der massiven internationalen Investitionen des Emirats, das u.a. Eigentümer von Luxushotels in Paris und London, des Pariser Fußballclubs PSG, von 6 Prozent des Kapitals der Deutschen Bank und von 15,6 Prozent der Stammaktien des VW-Konzerns wurde - auf das Land fiel, rückten auch die dortigen Arbeitsverhältnisse ein wenig stärker ans Licht. Und so geriet das System der Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte in dem Golfstaat vermehrt in die Kritik.
Hinzu kommt, dass nicht nur migrantische Arbeiter mit geringem Ausbildungsstand, schwachen englischen und/oder arabischen Sprachkenntnissen und aus armen Ländern in die Mühlen des katarischen Ausbeutungssystems gerieten. Denn das kafala-System entfaltet seine hässliche Wirkung auch bei hochqualifizierten internationalen Arbeitskräften und sogar vereinzelt bei selbstständigen Investoren aus "westlichen" Ländern, die ebenfalls in persönliche Abhängigverhältnisse mit reichen Kataris hineingezwungen wurden. Und so kam die bestehende Ordnung an beiden Enden in die Kritik: sowohl unter dem Gesichtspunkt seiner Wirkung auf besonders für überintensive Ausbeutung anfällige und besonders schutzlose Arbeitsmigranten als auch unter jenem seiner Auswirkungen für "westliche" Ausländer mit hohem Bildungsstandard und Lebensniveau.
"Eldorado Katar": Junge Bankangestellte, Informatiker und Fußballspieler in der Abhängigkeitsfalle
In den letzten Jahren wurde Katar vorübergehend zum vermeintlichen Eldorado für junge Franzosen mit arabischsprachigem (maghrebinischem) Migrationshintergrund, allerdings eher männlichen Geschlechts - angesicht des ausgesprochen repressiven Umgangs mit Frauen in den Golfstaaten. Viele junge Bankangestellte oder Informatiker mit französisch-nordafrikanischem Doppelhintergrund glaubten, den in Frankreich bestehenden Barrieren aufgrund von Diskriminierung durch Aufnahme einer Berufstätigkeit in diesem arabischen Land entfliehen zu können.
Überdies zog Qatar viele Profifußballer oder solche, die es werden wollten, an: Durch den Aufkauf des Pariser Clubs PSG (Paris-Saint Germain) hatte Katar sich einen Ruf als vermeintliche Sportnation oder jedenfalls riesige Summen in Sportveranstaltungen investierende Nation erworben. Und ferner wurden in dem Land großzügige Löhne bezahlt.
Der Fall Zahir Belounis
Aber für einige junge Berufstätige wurde Qatar vor diesem Hintergrund zur Falle. Am prominentesten war der Fall des französisch-algerischen Fußballers Zahir Belounis. Der junge Mann kam im Sommer 2007 als damals 27jähriger nach Qatar und trainierte den Zweitligisten Al Jaish Sport Club, der, wie sein Name andeutet, al-dschaisch bedeutet auf Arabisch "die Armee", aus Fußball spielenden Militärs besteht. Belounis wurde sogar vorübergehend eingebürgert, um mit seinem Team 2010 als Nationalspieler und Mannschaftskapitän bei der Weltmeisterschaft der Soldatenclubs in Brasilien antreten zu können (Erwerb der Staatsbürgerschaft auf Zeit, bei späterem Entzug, auch dies eine spezielle katarische Erfindung...).
Doch seine Sorgen begannen, als sein Club im Jahr 2011 drei neue ausländische Spieler rekrutierte: Belounis war plötzlich nicht mehr wichtig und wurde fallengelassen. Ab März 2012 wurde sein Lohn nicht mehr bezahlt. Ursprünglich war Belounis’ Reisepass nicht konfisziert worden, wie für viele andere abhängig Beschäftigte in Katar, doch er wurde ihm, unter dem Vorwand, eine Fotokopie anfertigen zu müssen, nachträglich abgenommen und einbehalten. Im Februar 2013 erhob Zahir Belounis daraufhin Klage. Doch man bedeutete ihm, dies hätte er besser nicht getan - und forderte ihn ultimativ dazu auf, seine Klage zurückzuziehen, widrigenfalls er in Katar festsitze und nicht ausreisen dürfe.
Belounis gab nicht klein bei und aktivierte die französischen Behörden. Er traf sogar Frankreichs Präsidenten François Hollande, anlässlich dessen Staatsbesuchs in Katar am 22. und 23. Juni 2013. Die französische Botschaft versprach, sich aktiv für ihn einzusetzen, eine Lösung stehe kurz bevor. Danach passierte erst einmal Monate hindurch gar nichts. Im Oktober 2013 wurde ihm "eine Ausreise bis zum Ende des Monats" versprochen. Belounis verkaufte daraufhin seine Möbel. Aber nachdem er auch dann immer noch nicht ausreisen konnte, musste er mit seiner Frau und den beiden in Katar geborenen, kleinen Töchtern in einer leer geräumten Wohnung auf dem Boden schlafen.
Er machte weiterhin auf sein Schicksal aufmerksam und schrieb u.a. an den früheren französischen Nationalmannschaftskapitän Zinedine Zidane. Ferner setzte sich die internationale Profifußballer-Gewerkschaft FIFPro für ihn ein. Am 27. November 2013 verkündete die französische Botschaft in der katarischen Hauptstadt Doha dann endlich, Belounis habe seine Ausreisevisum, sein Exit Visa erhalten. Der französische Botschafter Jean-Christophe Peaucelle glaubte, daraufhin öffentlich "den katarischen Behörden Dankbarkeit für ihre Kooperation" bekunden zu müssen. Am Abend des 28. November traf Belounis mit einem Flug von Qatari Airways am Pariser Flughafen Roissy-Charles de Gaulle ein. Es ist unklar, was aus seinen Lohnforderungen wurde.
"Langer Arm in der Fifa"
Schon vor Zahir Belounis hatte andere Landsleute und/oder Kollegen ein ähnliches "Schicksal" in dem Golfstaat getroffen. Der marokkanische Fußballer Abdelslam Ouaddou, welcher in der Vergangenheit bei französischen Clubs (Nancy, Rennes) gespielt hatte, war ebenfalls von seinem katarischen Verein "ausgelutscht und weggeworfen" worden. Als man ihn nicht länger haben wollten, zwang man ihn, zur heißesten Tageszeit bei Temperaturen von über 40 Grad zu trainieren. Ouaddou hatte seine Angelegenheit vor den Internationalen Gewerkschaftsbund IGB getragen; sein Dossier soll vor dem Internationalen Fußballverband FIFA verhandelt werden, doch von katarischer Seite wurde ihm bedeutet, man verfüge dort über einen langen Arm und bis zu einer Verhandlung könne es noch Jahre dauern.
Die hier genannten Ausländer mit "westlichem" Hintergrund waren nicht isoliert und hatten internationale Unterstützung. Nun muss man sich vergegenwärtigen, wie radikal unterschiedlich die Ausgangssituation für solche Personen ausfällt, die weder auf das Interesse internationaler Medien bauen können noch auf eine Unterstützung "ihrer" Regierungen im Herkunftsland, geschweige denn über internationale Kontakte verfügen.
Die Hausangestellten
Am entgegen gesetzten Ende der Skala, an deren oberem Ende die "Fälle" der erwähnten "westlichen" Geschäftsleute oder Fußballprofis angesiedelt sind, stehen die meist weiblichen und (süd- oder südost-)asiatischen Hausangestellten, deren Arbeitsverhältnisse zu den schlimmsten in den Golfstaaten zählen. Ihre Zahl in Katar wird, je nach Quelle, auf 84.000 bis zu 132.000 geschätzt.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty international publizierte im April des letzten Jahres einen Untersuchungsbericht zu ihrer Situation unter dem Titel "My sleep is my break".
Im katarischen Recht ist keinerlei Beschränkung ihrer Arbeitsstunden vorgesehen, ebenso wenig gibt es eine zwingende Vorschrift, ihnen arbeitsfreie Tage zu gewähren. Viele weibliche Hausangestellte sind zudem Gewalttätigkeiten und sexuellen Übergriffen durch ihre Arbeitgeber ausgesetzt. Da es keinerlei Beschwerdeinstanzen gibt (wie sie für Bau- und Industriearbeiter zumindest vorgesehen sind), bleibt als Aushilfe oft nur die Flucht.
Ohne Pass, den meist die Arbeitgeber einbehalten haben, und/oder ohne Exit-Visum ist jedoch jegliche legale Ausreise unmöglich. 95 Prozent der weiblichen Insassinnen im Abschiebezentrum von Doha sind ehemalige Hausangestellte. Aber auch 70 Prozent der Häftlinge im Frauengefängnis von Katar sind frühere Hausangestellte, die meist wegen "illegaler sexueller Beziehungen" verfolgt wurden - in den Golfstaaten ein übliches Verfahren im Umgang mit Vergewaltigungsopfern.
Bau: Bis zu 18 Stunden Arbeit am Tag, in Hitzemonaten bis zu 12 Stunden
Zwischen den beiden Extremsituationen - derjenigen der relativ hoch qualifizierten und "westlichen" Ausländern und jener der weitestgehend ungeschützten Hausangestellten - stehen die Hunderttausende von meist männlichen Bau- und Fertigungsarbeitern, die Katar bereits angeworben hat oder noch in naher Zukunft für die Vorbereitung der Fußball-WM von 2022 anwerben wird.
Laut einem Rapport vom Juli 2012 waren damals 506.000 migrantische Arbeiter in Katar im Bausektor beschäftigt. Ihre Arbeitszeiten betragen mitunter bis zu sechzehn, ja achtzehn Stunden pro Tag und zwischen acht und zwölf Stunden in den Hitzemonaten. Die theoretisch vom Gesetz zwingend vorgeschriebene Pause zwischen 11.30 Uhr und 15 Uhr während der Sommermonate, in denen eine glühende Hitze zwischen 40° und 50° Celsius herrscht, wird meist nicht respektiert.
Jegliche kollektive Organisierung ist ihnen verboten: Gewerkschaften in Katar sind zwar im Prinzip zugelassen - und an die General Union of Workers of Qatar angegliedert -, aber ausschließlich für katarische Staatsburger und nur in Betrieben, die mindestens 100 Kataris beschäftigen. Ansonsten ist für ausländische Arbeiter, wie oben erwähnt, grundsätzlich die Aufenthaltserlaubnis an den konkreten Arbeitsplatz geknüpft. Rund 40 Prozent der Beschäftigten in der Bauindustrie sind Nepalesen, die (je nach Angaben) 20 bis 22 Prozent der Migrationsbevölkerung in Katar insgesamt ausmachen, aber besonders stark in diesem Sektor konzentriert sind.
Am 26. September 2013 berichtete der Guardian, dass allein zwischen dem 4. Juni und dem 8. August desselben Jahres mindestens 44 nepalesische Arbeiter in Katar zu Tode gekommen seien.
Die Todesursache sei nicht immer ganz einfach zu bestimmen, da nicht alle Arbeitsmigranten auf den Baustellen starben, sondern manche auch im Zustand der Totalerschöpfung in ihrem Bett - zwischen 50 und 60 Prozent der Todesfälle gehen auf Herzversagen zurück, rund 15 Prozent direkt auf Arbeitsunfälle. Aber die Zeitung rückt die Todesfälle infolge von Kreislaufversagen oder Herzstillstand (die meist junge Leute betreffen, die Hälfte der Opfer sind zwischen 25 und 35 Jahre alt) in Zusammenhang zu den Arbeitsbedingungen.
Manchen Arbeitern werde vierundzwanzig Stunden lang der Zugang zu Wasser oder zu Lebensmitteln vorenthalten. Die katarischen Behörden führen keinerlei Statistik über Arbeitssicherheit, -unfälle, damit zusammenhängende Todesfälle oder über Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz
Die Zeitung zitiert die damalige nepalesische Botschafterin in Katars Hauptstadt Doha, Dr. Maya Kumari Sharma, mit den - sechs Monate zuvor von ihr ausgesprochenen - Worten, Katar sei für ihre Landsleute "ein Gefängnis unter freiem Himmel". Zudem berichtete sie, dass bis zu dreißig Nepalesen, die aus ihren Arbeitsverhältnissen geflohen seien, aber über keine legale Ausreisemöglichkeit verfügten, Zuflucht in der Botschaft gefunden hätten.
Die Reaktion folgt prompt auf dem Fuße: Noch am Erscheinungstag des Artikels wird die Botschafter durch die Regierung in Katmandu abberufen wegen "undiplomatischen Verhaltens" und Gefährdung der Beziehungen ihres Landes zu dem Golfstaat. In der Folgezeit wird Nepal dort nicht mehr durch einen Botschafter vertreten, da die Amtsinhaberin nicht ersetzt, sondern lediglich durch einen Geschäftsträger in Gestalt von Ganesh Dhakal ausgetauscht wird.