Kathedrale mit Bowlingbahn

Forschungsgruppe von Rem Koolhaas über die Exoskelette, die das Tier Kapitalismus bei seiner Wanderschaft über die Erdkruste zurücklässt

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Die Natur wird sich dieses leere Ding zurückholen. Weite Parkplatzanlagen, alle leer. Mittendrin ein vom Wind durchfegtes Gehäuse, kantig, wie ein nach außen gestülpter Quake-Level. Viele Einkaufszentren stecken in der Krise, zumindest in den USA. Das von Rem Koolhaas geleitete Harvard Project on the City erzählt warum. Seit Mitte der 90er versucht diese Forschungsgruppe, den Rekonfigurationen unserer urbanen Landschaften auf die Spur zu kommen.

Man begann damit in China. Hongkong. Perlenflussdelta. Sonderwirtschaftszone Shenzhen. Band 1 der im Taschen Verlag erschienenen Projektdokumentation erzählt die Erfolgsgeschichte der südchinesischen Boom-Region. Titel: "Great Leap Forward", in Anspielung an Maos gescheiterte Pläne einer Mikro-Industrialisierung der Volksrepublik (1958-1960).

Während Mao in kommunistischer Tradition auf sklavische Reproduktion zentralistisch geplanter Programme setzte und damit vollkommen scheiterte, ließ sein Nachfolger Deng Ziaoping seine Untertanen innerhalb gewisser geographischer und ideologischer Grenzen selber rechnen und implementierte damit faktisch den Kapitalismus. Great Leap Forward dokumentiert die Folgen, die Architektur, die Korruption, den Wahnsinn.

Städte fressen sich ins Land vor und langen hinaus aufs Meer. Gigantische Brücken werden geplant und während des Baus irgendwann aufgegeben, weil das Geld nicht mehr reicht, die Überreste stehen ruhig im Wasser wie japanische Shinto-Tore. Liebevoll werden Traditionen und Usancen der lokalen Korruptions-Varianten nachgezeichnet. Golfplätze sieht man da, von amerikanischen Top-Spielern umsichtig in die Landschaft modelliert. Dahinter ragen generische Hochhäuser auf. Schnell wird die Produktion in Shenzhen zu teuer und man weicht ins Hinterland aus, das bald auch keins mehr ist. Bunte Prospekte mit Captain-Future-Bauten darauf zeigen, dass hier die Zukunft noch wirklich Zukunft ist. Enrichissez-vous.

Passend dazu operieren die Autoren des Bandes mit standardisierten Schlagworten, an die immer ein Copyright-Zeichen angehängt ist. Beispiele: Virgin Cities(c), Reclamation(c) oder Corruption(c). Das mag zu Beginn lustig aussehen, aber es stört sehr schnell den Lesefluss und wirkt manieriert. Ansonsten sind die Projektberichte über die einzelnen Städte und Zonen außerordentlich lesenswert, reich bebildert und mit Daten und Grafiken unterfüttert. Die Qualität der Fotografien lässt oft zu wünschen übrig, verwaschen sind zu viele von ihnen, wohl um dem Buch eine Anmutung von "Reality" als Simulation der Wirklichkeit zu geben, hat man weder Seife noch Photoshop an sie rangelassen. Schade.

Auch die Grafiken sind nicht unbedingt von Edward Tufte, sondern eher von Herrn Excel. Besonders im letzten Teil, einer Übersicht über die verschiedenen Verkehrsprojekte im untersuchten Sektor, hat man ohne Not gerasterte Prospektfotos so weit aufgeblasen, dass man beim besten Willen darauf nichts mehr erkennen kann und dann auch noch die Bildunterschriften seitlich hochkant gestellt. Man will diesen wuchtigen Buchblock aber nicht nach jedem Umblättern in Leseposition drehen. Weil das noch nicht reicht, hat die Designerin die Schrift Weiß auf Schwarz gestellt. Der Käufer fragt sich: Soll ich nun nicht auf das Bild achten oder stattdessen lieber die Typografie ignorieren? Eine Verachtung aller guten und richtigen Gestaltungskonventionen. Schade. So kann man ein eigentlich sehr gutes Buch schnell abwerten. Wenn man sich schon so viel Mühe mit einem Projekt gibt, sollte auch die Doku gut sein. "Great Leap Forward" ist wichtig, aber zuweilen allzu lieblos gemacht.

Anders verhält es sich mit dem zweiten Buch der Serie, nämlich dem "Harvard Guide to Shopping". Dieses Buch ist durch und durch wundervoll. Ein Muss. Es geht um die Exoskelette, die das Tier Kapitalismus bei seiner Wanderschaft über die Erdkruste zurücklässt... Ausgezeichnete Fotografien von hohlen Hüllen, toten Mega-Malls... fantastische kommentierte Luftbild-Analysen von Las Vegas, inklusive Transkript eines erhellenden Interviews mit Robert Venturi, dem Verfasser des legendären Texts "Learning from Las Vegas". Vergleich der Einkaufszentren-Architektur vom alten Rom bis heute.

Hier gibt es umfassende Texte über Kaufhaus-Technologien wie Klimaanlagen und Rolltreppen, wobei auch ein Abschnitt über den Einsatz von Rolltreppen in der Moskauer Metro nicht fehlt, um zeigen zu können, wie in der Sowjetunion mit solcherlei Errungenschaften umgegangen wurde. Zeitlinien veranschaulichen die Entwicklung der Shopping-Kultur. Es geht um die Zukunft und deren Umkehrung. Monster-Malls werden leer von den Megakonzernen zurückgelassen und von protestantischen Sekten billig zu sogenannten Mega-Churches inklusive Kinderhort, Kletterwand und Bowlingbahn umgebaut. Aus der Konsumkathedrale wird Kathedralenkonsum. Die Religion holt sich den Kult wieder zurück.

Blick nach Japan: Die Geschichte der Depatos, der dortigen Kaufhaus-Giganten wird nachgezeichnet, verwoben mit kulturellen, administrativen und verkehrstechnischen Entwicklungen. Die nächste Inkarnation des Kaufhauses ist die ultra-laterale Website, hermetisch geschlossen, Links nach draußen vermeidend. Je mehr sich der Kommerz aus Kostengründen virtualisiert, Filialen auflöst, sich aus der Fläche zurückzieht, desto intensiver muss er seine Marken und Symbole durch Marketing- und Werbemaßnahmen stabilisieren. Zu Ikonen werden auch die Mall-Schöpfer wie Jon Jerde (Mall of America). Ihre immer umfangreicheren Projekte erinnern an das von Emile Zola in dessen gleichnamigen Roman beschriebene fiktive Pariser Kaufhaus Au Bonheur des Dames.

Mit militärischer Präzision werden immer neue Verkaufsmaschinen konstruiert. Dabei ist das Militär nicht nur selbst Betreiber von Supermärkten, sondern es kommt auch zu personellen Verschränkungen wie den Wechsel von Lieut. Gen. William G. Pagonis, dem Cheflogistiker der US-Streitkräfte im Golfkrieg, in die Chefetage von Sears Roebuck. Damit es in den Einkaufszentren nicht so rau zugeht wie in der Wüste des Irak, lassen sich findige Firmen immer neue Einrichtungsgegenstände für die voll kontrollierten Einkaufsumgebungen wie etwa die säuselnden AudioRocks oder rauschende Syntho-Palmen einfallen. Für markenspezifische Outlets, in denen nur das heilige Produkt selbst etwas gilt, stehen dagegen die NikeTowns, deren Entwicklung auch in dem Buch dargestellt wird.

Der "Guide to Shopping" unterscheidet sich von seinem Vorgänger über das Perlenflussdelta vor allem in der Qualität der Inhalte und deren Aufbereitung. Nicht nur die Themen und Texte passen und sind logisch gut strukturiert und belegt, auch Grafik-Design, Schriftsatz und Fotografie spielen diesmal qualitativ in der Oberliga. Somit liegt ein Standardwerk über historische und aktuelle Trends in der Entwicklung von Handelszentren vor, das wissenschaftlichen Qualitätsansprüchen genügt und darüber hinaus auch noch außerordentlich kurzweilig zu lesen ist. Eine echte Empfehlung für alle, die an Architektur, Stadtplanung und der Evolution des Kapitalismus interessiert sind.

Vom Harvard Project on the City sind noch zwei weitere Bände zu erwarten. Wenn diese an die Qualität des zweiten Bands anknüpfen könnten, läge mit der fertigen Serie wahrlich ein Opus Magnum vor. Ein kollektives Referenzwerk über wichtige Aspekte des Lebens auf der Erde zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Bücher sind zwar nicht gerade billig, aber angesichts des Vierfarbdrucks und der im zweiten Band gebotenen Qualität und Informationstiefe kann man sie ohne zu zögern als außerordentlich preiswert bezeichnen. Außerdem gibt es ja noch öffentliche Bibliotheken.

Chung, Chuihua Judy; Inaba, Jeffrey; Koolhaas, Rem; Tsung Leong, Sze (Hrsg.): Harvard Project on the City 1: Great Leap Forward. Köln: Taschen Verlag, 2001. 720 Seiten. Preis: 45 Euro.

Chung, Chuihua Judy; Inaba, Jeffrey, Koolhaas, Rem; Tsung Leong, Sze (Hrsg.): Harvard Project on the City 2: Harvard Design School Guide to Shopping. Köln: Taschen Verlag, 2002. 800 Seiten. Preis: 45 Euro.