Kein Ende des Völkermords an den Eziden in Sicht

Der "heilige Berg" der Eziden, "Dschabal Sindschar", aus dem Orbit gesehen. Bild: U.S. Geological Survey/Landsat 8/gemeinfrei

"Du gehst da lang, du da lang … Das ging zack, zack." Hintergrund und Kommentar zum 5. Jahrestag des Grauens

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Der 3. August 2019 ist für die Eziden (auch: Jesiden, Yeziden) weltweit ein Tag der Trauer und des Gedenkens an Zehntausende ermordete Männer, Frauen und Kinder. Über 6.400 Frauen und Mädchen wurden verschleppt und versklavt. Noch heute wird etwa die Hälfte der Frauen und Kinder vermisst.

Aber das Grauen hat noch kein Ende. Eziden werden noch immer verfolgt - in Afrin, in der Türkei, im Irak, aber auch in Deutschland begegnen sie in Flüchtlingsunterkünften oder auf der Straße ihren Peinigern. Ein deutsches Gericht hingegen sieht keine Gefahr mehr im irakischen Shengal-Gebiet und will ezidische Asylbewerber dorthin zurück schicken. In Deutschland leben ca. 150.000 Ezidinnen und Eziden.

Sie sind damit die größte Auslandsgemeinde dieser Religionsgemeinschaft. Die Eziden sind ethnische Kurden. Viele von ihnen flohen in den vergangenen vier Jahrzehnten vor allem aus der Türkei, wo sie immer wieder Verfolgungen ausgesetzt waren. Im Jahr 2015, ein Jahr nach dem Überfall des IS auf das Shengalgebiet, sind 75.000 Eziden nach Deutschland geflüchtet, soviel wie nie zuvor.

3. August 2014, Shengal

Staubwolken in den frühen Morgenstunden kündigen sie an, die IS-Schergen in ihren Pickups. Die schwarze IS-Fahne ist weithin sichtbar. Die IS-Terroristen springen aus ihren Pickups, trennen die Männer und Jungen über 12 Jahren von den Frauen, treiben die Frauen und Kinder zusammen und verfrachten sie auf ihre Pickups.

Wir waren etwa 300 Frauen, Mädchen und Jungen. Grüppchenweise hat man uns hinten auf die Transporter verteilt. Du gehst da lang, du da lang … Das ging zack, zack. Felek haben sie in einen anderen Wagen gesteckt, wahrscheinlich zu den bereits verheirateten Frauen.

Die Welt

Die meisten Männer wurden ermordet, die Jungen als Kindersoldaten und Selbstmordattentäter missbraucht. Mehr als 10.000 Menschen wurden ermordet und in Massengräber geworfen. Im Shengal-Gebiet wurden bisher mehr als 70 Massengräber entdeckt.

Bevor der IS das Shengal-Gebiet überfiel, eroberte er die irakische Großstadt Mossul. Die kurdischen Peschmerga der kurdischen Autonomieregion im Nordirak (KRG), die zuvor den Eziden den Schutz zugesagt hatten, verließen angesichts der vorrückenden IS-Shergen ihre Positionen, brachten sich in Sicherheit und überließen die Eziden ihrem Schicksal.

Nicht einmal die Waffen überließen sie dem wehrlosen Volk. Ungefähr 50.000 Eziden gelang es, auf ihren heiligen Berg "Sindschar" zu fliehen. Dort erwartete sie jedoch die Hölle: sengende Hitze, kein Schatten und kein Wasser, umzingelt vom IS. Die Geflüchteten kämpften um ihr Überleben. Müttern starben ihre Babys in den Armen. Die USA begannen nach ein paar Tagen, Hilfsgüter aus der Luft abzuwerfen und IS-Stellungen aus der Luft zu bombardieren.

Von den kurdischen Peschmergas keine Spur. Einer Handvoll kurdischer YPG-Kämpfer aus Nordsyrien und HPG-Kämpfern der PKK gelang es schließlich, einen Fluchtkorridor nach Nordsyrien freizukämpfen. In einem Video berichteten ein ezidischer Augenzeuge und ein damaliger Kommandant der HPG über die Befreiungsaktion.

Die damals designierte Verteidigungsministerin von der Leyen und namhafte Medien feierten die Rettung der Eziden als Erfolg der Peschmerga - obwohl im Hintergrund in den Videoaufnahmen keine Peschmerga-Kämpfer, sondern YPG und PKK-Kämpfer zu sehen waren. Es passte und passt einfach nicht ins Konzept, dass die gefeierten Helden Soldaten der nordsyrischen Kurden und der PKK waren.

3. August 2019, Shengal

Vor dem Genozid lebten ca. eine halbe Million Eziden im Shengal. Bis heute leben davon 300.000 Ezidinnen und Eziden in Flüchtlingslagern in der nordirakischen kurdischen Autonomieregion rund um die Stadt Dohuk nahe der türkischen Grenze, in denen sie ohne Perspektive und vor allem ohne psychologische Hilfe unter menschenunwürdigen Bedingungen ausharren. Die Region wird aktuell fast täglich von türkischen Kampfflugzeugen bombardiert.

Der türkische Geheimdienst MIT und türkische Soldaten kontrollieren mittlerweile das Gebiet auf irakischem Territorium. Das Shengal-Gebiet ist auch heute noch alles andere als ein sicherer Rückkehrort für die traumatisierte ezidische Bevölkerung.

Zwar ist im Shengal-Gebiet nun die irakische Zentralregierung mit den ezidischen Selbstverteidigungseinheiten für die Sicherheit zuständig, aber die irakische Regierung zeigt bislang kein großes Engagement, ernsthaft die Voraussetzungen für einen Wiederaufbau der Shengal-Region zu schaffen. Die ezidische kurdische Minderheit ist wie bei den sunnitischen Barsani-Kurden auch hier nur "wohl gelitten". Und die ehemaligen arabischen Nachbarn haben selbst den IS unterstützt und dem IS den Weg zu den ezidischen Häusern gewiesen.

Bis heute bombardiert das türkische Militär das Gebiet immer wieder aus der Luft - angeblich, um Stellungen von Terroristen zu eliminieren. Tatsächlich werden die Verteidigungsstellungen der kurdischen Eziden angegriffen, die in Opposition zur Türkei stehen.

Eziden haben ein gespaltenes Verhältnis zur Türkei, schließlich waren und sind sie dort ebenfalls von Vertreibung und Vernichtung bedroht. Heute noch findet man in der Südosttürkei ezidische Geisterdörfer - traurige Zeugnisse ihrer Vertreibung in den 1980er und 1990er Jahren.

Shengal ist sicherer Rückkehrort?

Die Zahl der positiven Asylbescheide für Eziden aus dem Irak lag im Jahr 2015, also ein Jahr nach dem Massaker im Shengal bei 90 Prozent. 2018 sank die Zahl auf unter 55 Prozent, obwohl sich an der Gefährdungssituation nichts geändert hat. Am 26. Juli diesen Jahres gab es einen erneuten IS-Angriff von sieben Mitgliedern einer IS-Zelle im Shengal, wo zwei ezidische Zivilisten getötet wurden.

Zwar verfügt der IS nun kaum noch über relevantes Territorium, aber überall, im Irak und in Nordsyrien gibt es Schläferzellen, die jederzeit zuschlagen können. Trotz der Gefährdungslage entschied das niedersächsische Verwaltungsgericht in Lüneburg in einem Grundsatzurteil, dass im Norden des Irak, in der Provinz Ninive im Distrikt Sindjar (Shengal), heute keine Gefahr einer massenhaften Verfolgung der Eziden mehr bestehe und es keinen Grund mehr für positive Asylbescheide gebe.

Und das trotz des Beschlusses der Vereinten Nationen, dass es sich um einen Völkermord handelt, der bis heute andauert. In einer Studie der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), unter der Leitung des kurdischen Wissenschaftlers Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan, gaben 78% der in Deutschland lebenden Ezidinnen an, in der IS-Gefangenschaft vergewaltigt worden zu sein, jede zweite von ihnen mindestens 20 Mal.

Die Studie zeigt weiterhin auf, dass die Frauen, die dem IS zum Opfer fielen, bisher nur unzureichend Hilfe erhalten haben. Vor diesem Hintergrund kann man das Lüneburger Urteil nur als zynisch bezeichnen.

Die Fortsetzung des Völkermordes

Im Moment wird der Völkermord im türkisch besetzten Kanton Afrin in Nordsyrien durch türkische Soldaten und ihr angeschlossene islamistische Milizen fortgeführt. Telepolis berichtete darüber mehrmals (siehe etwa: Afrin ein Jahr unter türkischer Besatzung).

Der UN-Generalsekretär warnte in seinem jüngsten Bericht vor dem Sicherheitsrat vor einem verdeckten Netzwerk, das der IS nun entwickelt habe, um lokale Anschläge zu verüben.

Der IS sei nicht besiegt, sondern konsolidiere seine Rückkehr auf dem Territorium des Irak. Dabei sei angemerkt, dass gerade in den IS-Camps in Nordsyrien, wo die SDF Tausende IS-Angehörige festgesetzt hat, die Gefahr besonders groß ist, dass sich der IS reorganisiert.

Immerhin rennen im Camp Hol schon Kinder mit der IS-Fahne herum, ermorden IS-Frauen diejenigen Frauen, die sich vom IS losgesagt haben. Die Untätigkeit der Bundesregierung im Umgang mit den eigenen dort inhaftierten IS-Mitgliedern grenzt angesichts dieser Entwicklungen an Fahrlässigkeit.

Genozid ist immer auch ein Femizid

Der Angriff des IS auf die ezidische Bevölkerung zeigt alle Charakteristika eines Genozids auf:

Völkermord wird auch als Genozid bezeichnet und stammt vom griechischen Wort für Herkunft, Abstammung (génos) und dem lateinischen Wort für morden, metzeln (caedere) ab. Die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes enthält eine Definition von Völkermord.


Nach Artikel II versteht man darunter, die an einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe begangenen Handlungen:


a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;
c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;
d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;
e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.


Diese Handlungen müssen in der Absicht begangen werden, die Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.


Es macht sich also schon jemand des Völkermordes schuldig, der lediglich beabsichtigt, also den Vorsatz hat, eine Menschengruppe zu vernichten. Ist eine der Taten von Artikel II a bis e der Konvention tatsächlich durchgeführt worden in Vernichtungsabsicht, dann ist es unerheblich, ob oder wie viele Mitglieder der Gruppe wirklich vernichtet worden sind. Letztendlich braucht man für die Strafbarkeit das "Ziel" nicht erreicht zu haben.

Völkermordkonvention

Der Genozid wurde international durch eine UN-Kommission als solches anerkannt und wird heute zu den schlimmsten Verbrechen des 21. Jahrhunderts gezählt. Die Verschleppung, Versklavung von ezidischen Frauen aufgrund ihrer ethnischen und/oder religiösen Herkunft wird auch als Femizid bezeichnet.

Der Begriff Femizid wird in einer allgemeineren Bedeutung für jegliche Gewalt an Mädchen und Frauen mit Todesfolge unabhängig von der Motivation verwendet.

Frauen als Kriegsbeute, ihre Versklavung, systematische Vergewaltigung und Zwangskonversion sind nicht nur Teil eines systematischen Krieges gegen Frauen, sondern erfüllen den Tatbestand des Femizids. Frauen sind in allen Kriegen besonders betroffen.

Wenn aber schwerst traumatisierte Frauen und Kinder ihren Peinigern in den Flüchtlingsunterkünften oder auf der Straße begegnen, läuft in Deutschland einiges schief. Nicht nur, dass bei der Aufnahme in der Regel nur nach dem Herkunftsland gefragt wird, aber nicht nach ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit, die Menschen werden einfach bunt gewürfelt zusammengepfercht. Kultursensibilität?

Weit gefehlt. Leider stellt der Femizid im nationalen und internationalen Recht keine eigene Kategorie dar und ist als Beurteilungskriterium nicht anerkannt.

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