Lager al-Hol: Kinder hissen IS-Flagge
Gewarnt wird vor einem "kleinen IS-Staat" in dem Lager mit 70.000 Bewohnern, darunter auch deutsche IS-Anhänger
Ob das Video mit der von Kindern gehissten IS-Flagge im Lager al-Hol für Tempo sorgt? Seit vielen Wochen drängt die kurdische Selbstverwaltung im Norden Syriens auf Hilfe. Die Regierungen in Europa wie auch in der Region lassen sich Zeit.
Das Lager al-Hol (öfter auch: al-Haul oder al-Hawl) in der Nähe der Stadt al-Hasaka beherbergte Ende Juni nach wie vor 70.000 Insassen, so die UN-Organisation OCHA. Ihr Lage-Bericht vom 5. Juli macht die enormen Anstrengungen deutlich, die täglich aufgebracht werden, um die Bewohner des Lagers, das ursprünglich für etwa 10.000 bis 15.000 Personen ausgelegt war, zu versorgen.
Über 7.000 Konsultationen in einer Woche wegen gesundheitlicher Probleme werden verzeichnet, eine wegen der Hitze verstärkte Verbreitung akuter Diarrhoe und influenzaähnlicher Erkrankungen und ein damit verbundener Anstieg der Morbidität. Täglich werden laut der UN-Organisationen 2.400.000 Liter Wasser herangeschafft, Trinkwasser und nicht trinkbares, teils über Lastwagen, teils über Anlagen. Diese Menge ist nicht immer möglich, wird hinzugefügt. Von Dezember 2018 bis Mai dieses Jahres seien beinahe 3 Millionen Brotlaibe verteilt worden.
Dezember letzten Jahres ging es damit los, dass sich das Lager zunehmend mit Menschen aus dem Süden Syriens füllte. Mehr als 64.000 Personen wurden zwischen Dezember 2018 und April 2019 in das Lager gebracht. Ausgelöst wurde der massive Zustrom zunächst durch Kämpfe der SDF gegen den IS in Deir e-Zour, dann durch den Kampf um die "letzte Bastion" des IS in Baghouz, wo, wie auch hier berichtet wurde, sich sehr viel mehr IS-Anhänger befanden, als man zuvor geglaubt hatte.
Der "kleine IS" im Lager
90 Prozent der Lagerbewohner sind laut der UN-Flüchtlingsorganisation Frauen und Kinder. 11.000 stammen aus Ländern außerhalb Syriens und dem Irak. Dass 502 Kinder alleine sind, getrennt von ihren Eltern, von denen anscheinend jede Spur fehlt, zeigt schlimme Härten an. Auch dass 26.000 Kinder zwischen der und 17 Jahren keinerlei vorschulische oder schulische Betreuung bekommen, ist kein kleines Problem.
Zur Überforderung bei der Betreuung und Versorgung, mit der die kurdische Verwaltung täglich zurechtkommen muss - unterstützt wird sie dabei von fünf großen Hilfsorganisationen, deren Mittel nicht reichen, kommen noch andere Probleme, die die eingangs genannte Aktion der Kinder neu ans Licht der größeren Öffentlichkeit bringt: Manche bezeichnen al-Hol als "kleinen islamischen Staat".
Es ist auch nichts Neues, dass Frauen die Kinder nicht an deren Demonstration für den IS gehindert haben, sondern eher beifällig dabei standen und die Aktion filmten, begleitet wurde sie angeblich mit Zurufen, die den IS feiern. Meldungen, wonach IS-Anhängerinnen beharrlich an ihrer Treue zum IS-Extremismus festhalten, gab es in der Vergangenheit öfter. Auch dass diese Frauen andere, die sich nicht nach den dogmatischen IS-Vorschriften richten, schikanieren, war zu lesen.
Die Dschihad-Beobachter von JihadoScope berichten von einem Video, das eine Gruppe von Frauen im al-Hol-Lager gemacht hat, indem sie proklamieren, dass sie " mujahideen women" seien und eine "tickende Zeitbombe", bereit eher für ihre Sache zu sterben, als weiter "unter Feinden" zu leben (vgl. IS-Mitglieder in kurdischen Lagern: "Tickende Zeitbombe").
Scharia-Recht und die Drohung von Eskalation und Gewalt
Im Lager herrsche Scharia-Recht, erzählen Besucher. Es habe sich dort ein kleiner Staat gebildet, vermutlich auch mit IS-Schläferzellen. Die zehn Prozent Männer, die al-Hol festgehalten werden, waren aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur Köche, Automechaniker oder Ärzte im IS, wie sie es erzählen. Die kurdische Aufsicht muss vorsichtig vorgehen, dem Eingreifen sind Grenzen gesetzt, heißt es aus der Verwaltung, schnell könnte die Situation eskalieren und Gewalt-Aktionen wie auch Fluchtbewegungen auslösen.
Die Lage sei beunruhigend und brauche dringend eine Lösung, sagt auch Kamal Sido, Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker, auf al-Hol angesprochen. Die kurdische Verwaltung sei in al-Hol angesichts der Überfüllung an der Grenze ihrer Möglichkeiten und warte darauf, dass die Regierungen, die sie darum gebeten hat, ihre Staatsbürger zurückzunehmen, endlich aktiv werden.
Der Irak, aus dem Zehntausende kommen, die sich Lager befinden, lässt sich damit Zeit, die Ankündigung, 30.000 seiner Staatsbürger zurückzuholen, umzusetzen. Fehlende Papiere und Probleme beim Identitätsnachweis erschweren die Rückholung, geht aus dem genannten OCHA-Bericht hervor.
Vermutlich ist auch der Irak, der für die juristische Übernahme von IS-Gefangenen aus westlichen Ländern sehr viel Geld will - und wahrscheinlich z.B. von Frankreich auch bekommt -, nicht besonders versessen darauf, sich IS-Anhänger ins eigene Land zu holen, wo man doch gerade eine neue Operation gegen den IS gestartet hat.
Verhältnis zu Erdogan erschwert die Lösung
Im Fall Deutschland, wo die Regierung seit längerem betont, dass man über Lösungen zur Rückführung nachdenkt, ist das Verhältnis zu Erdogan ein wichtiger Hindernisgrund. Wie sich im Fall der beiden deutschen Waisenmädchen im Flüchtlingslager al-Hal zeigte, achten die deutschen Vertreter sehr darauf, keine Zeichen zu geben, die daraufhin ausgelegt werden könnten, dass die kurdische Selbstverwaltung im Nordosten Syriens irgendwie offiziell anerkannt würde.
Ans Licht kam diese Rücksicht gegenüber den politischen Wünschen und Forderungen des türkischen Präsidenten, als Anwälte von Betroffenen, wie z.B. der beiden Waisenkinder, bekannt machten, dass sie nun über Gericht eine Entscheidung herbeizuführen versuchten, die die Regierung scheut (Bundesregierung: "Konzeptlos im Umgang mit IS-Anhängern".
In einem Eilverfahren hatte das Berliner Verwaltungsgerichts Berlin letzte Woche zugunsten einer Rückkehr entschieden. Es hat das Auswärtige Amt aufgefordert, "nun unverzüglich die Identität dreier minderjähriger Kinder im syrischen Flüchtlingslager al-Haul feststellen zu lassen und danach diesen und ihrer Mutter die Rückreise nach Deutschland zu ermöglichen".
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