Kein Platz für den Präsidenten

Die Jugend Weißrusslands begehrt gegen ihren despotischen Staatschef auf. Ihr Kampf wird dokumentiert von dem Regisseur Jurij Chaschtschevatzkij

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Eigentlich müsste man Erbarmen mit ihm haben, mit dem weißrussischen Präsidenten Aleksandr Lukaschenko, der sich gerne auch "Batka", "Väterchen" nennen lässt. Denn er ist anspruchslos, schuftet Tag und Nacht für sein Volk, leidet mit ihm wie ein Hund. Und er wird doch das Gefühl nicht los, dass es viele - zu viele - gibt, die seine Arbeit nicht schätzen.

Deutlich wurde dies im März 2006 anlässlich der Präsidentschaftswahlen in Belarus. Damals ließ sich der seit 1994 regierende "Batka" für eine weitere Amtsperiode als Herrscher über den Zehn-Millionen-Staat zwischen Polen und Russland küren. Aber am Abend des Urnengangs passierte etwas, womit man in der real existierenden Despotie offenbar nicht gerechnet hatte: Rund 20.000meist junge Demonstranten kamen auf den "Oktober-Platz" im Zentrum der Hauptstadt Minsk und tauften ihn flugs in "Kalinovskij-Platz" um - nach Konstantin (Kastus) Kalinovskij, dem weißrussischen Freiheitskämpfer und Publizisten des 19.Jahrhunderts. Sie protestierten gegen die - auch von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) als unfair und undemokratisch qualifizierten - Wahlen, die dem Amtsinhaber eine angebliche Zustimmung von mehr als 82Prozent brachten.

In bitterer Kälte und Schnee schlugen die Demonstranten ihre Zelte auf, Sympathisanten brachten Essen und heiße Getränke. Nach einer Woche kam der Räumungsbefehl, der von den "Sicherheitskräften" innerhalb von 15Minuten brutal exekutiert wurde. Hunderte von jungen Menschen wurden verhaftet und per LKW in die Gefängnisse geschafft.

Dokumentiert hat dieses mutige Engagement für Freiheit und Menschenrechte Jurij Chaschtschevatzkij in seinem Film "Ploschtscha" ("Der Platz"), der Anfang 2007 erschien. Auf den ersten Blick ist der international und auch in Deutschland vielfach ausgezeichnete Regisseur ein neutraler Beobachter. Er lenkt die Kamera auf die Demonstranten wie auf die - offensichtlich "von oben" losgeschickten - Gegendemonstranten, er filmt ältere Herrschaften, die die Lukaschenko-Gegner loben, aber auch jene "Passanten", die sich dann als KGBler in Zivil herausstellen und die Demonstranten schikanieren. Chaschtschevatzkij ist bei öffentlichen Auftritten Lukaschenkos dabei, er reist aber auch in die Dörfer der Provinz, wo verbannte politische Gegner des Präsidenten ebenso zu Wort kommen wie die bäuerliche Bevölkerung. Sie lebt miserabel, es fehlen Strom, Wasser oder Telefon.

Aber ein Großteil der Menschen auf dem Dorf unterstützt dennoch Lukaschenko, denn für sie ist er "gerecht". Und wie wir das von all den Führern des 20.Jahrhunderts kennen, herrscht die Vorstellung: "Wenn das "Batka" wüsste...!" Aber ihm sagt ja niemand, wie schlecht es den Leuten geht, alles muss er alleine machen, und dazu ist alle Welt gegen ihn. Die einfach gestrickte und in gekonnter Wehleidigkeit propagierte Weltsicht von Lukaschenko, der Rest der Staatengemeinschaft stehe gegen Weißrussland, ist offenbar bei den weniger gebildeten Menschen angekommen.

Chaschtschevatzkijs Kameraführung ist indes nur scheinbar neutral. Denn seine Kommentare, mit denen er selbst die Bilder begleitet, triefen vor Ironie. Gelegentlich führt der Filmemacher die Zuschauer in die Irre, indem er so etwas wie Sympathie für den Präsidenten und sein schweres Los durchschimmern lässt - nur um "Batka" wenige Sekunden später wieder vorzuführen als mäßig gebildeten, offensichtlich beratungsresistenten und komplexbeladenen Ex-Kolchosvorsitzenden, der den Präsidentensessel erklommen hat.

Jurij Chaschtschevatzkij, geboren 1947 im ukrainischen Odessa und Absolvent der Filmhochschule in Leningrad (heute St. Petersburg), hat mit dem Lukaschenko-Regime seine eigenen Erfahrungen gemacht. Im Dezember 1997 drangen zwei bisher immer noch unbekannte Männer in sein Filmstudio ein, schlugen ihn bewusstlos und sorgten dafür, dass der Regisseur mehrere Monate in Gips liegen musste - ganz offensichtlich "Fachleute" ihres Metiers. Gestohlen wurde nichts.

Es war wohl kein Zufall, dass zwei Tage vor diesem Überfall der TV-Sender ARTE Chaschtschevatzkijs Film "Ein gewöhnlicher Präsident" (1996) ausgestrahlt hatte. Darin wird gezeigt, wie Lukaschenko die Macht im Staate ergriff, aber auch, wie sich seit 1994 sein Charakter verändert hat. Der Streifen wurde 1997 auf dem Berliner Filmfestival ausgezeichnet und erhielt den angesehenen russischen Sacharov-Preis. Die Ähnlichkeit des Filmtitels mit dem berühmten Werk "Der gewöhnliche Faschismus" (1965) des sowjetischen Regisseurs Michail Romm über den Aufstieg von Benito Mussolini und Adolf Hitler ist dabei durchaus beabsichtigt.

Bisher konnte Aleksandr Lukaschenko mit seiner Politik von "Zuckerbrot und Peitsche" sein Regime aufrechterhalten, und es ist auch nicht zu erwarten, dass es in absehbarer Zeit zerfällt. Denn ein Großteil der weißrussischen Bevölkerung, vor allem Rentner und Angehörige einfacher Berufe, fühlt sich bei ihm gut aufgehoben. Er hat den Menschen die neo-frühkapitalistischen Experimente des großen Bruders Russland erspart, die bescheidenen Löhne und Renten werden einigermaßen pünktlich ausbezahlt.

Aber gleichzeitig wurde das zarte, aber einst schnell wachsende Pflänzchen Demokratie unter "Batka" immer mehr gestutzt. Die freie Presse wird unterdrückt, Politiker der Opposition - selbst ehemalige Gefährten Lukaschenkos - verschwinden. Die Brutalität, aber auch die Absurdität des Regimes ist offensichtlich.

Die städtische Jugend des von der Geschichte so gebeutelten Landes hingegen will ein Teil von Europa bleiben. Dafür riskieren sie Polizeiprügel und Haft - auch im März 2006 auf dem Kalinovskij-Platz in Minsk, "in den glücklichen Momenten, in denen sie den Lügen, dem Zynismus und der Gewalt etwas entgegen setzen konnten" (Jurij Chaschtschevatzkij).

Der Film "Ploschtscha" ("Der Platz") ist unter folgenden Internet-Adressen anzuschauen bzw. herunterzuladen:

Video.Google.com
ploshcha.wolnabialorus.org
Belarus.de