Kein totes Mädchen gefunden: Rückruf einer Flüchtlingsgeschichte

Seite 2: Geschlossene Grenzen als Dogma der EU

Hier wäre eigentlich die EU gefragt, die den Flüchtlingspakt mit der Türkei abgeschlossen hat, und deren Entscheidung die geschlossenen Grenzen der Festung Europa sind. So wurde Kroatien, das seine Grenzen gegen Migration rigoros und mit systematischen Pushbacks abschottet, am 1. Januar 2023 in den Schengen-Raum aufgenommen, während Bulgarien und Rumänien dies verwehrt blieb.

Pushbacks werden offenbar nicht als Verstöße gegen EU-Recht sanktioniert. Ebenso wenig wie die Einschränkungen, die es für unabhängige Reportagen an den EU-Außengrenzen gibt. Das gilt für das Evros-Gebiet ebenso wie für die griechischen Grenzinseln oder das polnisch belarussische Grenzgebiet.

Unabhängige Reportagen, bei denen Medienschaffende ohne jegliche Einschränkung, Voranmeldung und Kontrolle im europäischen Grenzgebiet recherchieren konnten, sind mit dem Risiko einer Verhaftung und Anklage behaftet, wie eine britische Journalistin und ein griechischer Fotograf im August 2021 feststellen mussten. Beide hatten eine Erlaubnis eingeholt, waren aber unbegleitet an der griechisch-bulgarischen Grenze in militärisches Sperrgebiet gelangt.

Dem ersten Schock der Inhaftierung und der Anklage wegen Spionage, folgte nach beherztem Einsatz auch des Verbands der griechischen Pressefotografen ein Freispruch. Die abschreckende Wirkung solcher Vorfälle auf Medienschaffende ist enorm. Dies allein der regierenden nationalkonservativen Nea Dimokratia anzulasten, wäre billig.

Denn schon unter der nominell links geführten Regierung von Alexis Tsipras kam es 2018 zur Festnahme einer deutschen Journalistin und ihres Kollegen, die für die ARD im Grenzgebiet am Evros unterwegs und in ein Sperrgebiet geraten waren.

Es geht nicht immer so glimpflich aus. Der griechische Menschenrechtler Panayote Dimitras steht unter der Anklage der "Bildung einer kriminellen Vereinigung", was ihm bis zu zwei Jahrzehnte Zuchthaus einbringen kann. Er ist gegen Kaution auf freiem Fuß, darf das Land aber nicht verlassen. Sein Vergehen? Er dokumentiert Pushbacks und beobachtet dafür auch die Aktionen der uniformierten griechischen Staatsdiener.

Weil Dimitras über eine NGO für seine Tätigkeit Geld erhält, macht er dies in Augen der griechischen Strafverfolger "gewerblich", was die Anklage der "kriminellen Vereinigung" stützen soll. Zudem soll er "die Daten von Angehörigen dritter Staaten aufnehmen und deren illegales Eindringen nach Griechenland erleichtern".

Weil die Geflüchteten die Daten an Dimitras übermitteln und den Tipp dafür auch von türkischen Schleusern erhalten, sieht sich Dimitras auch dem Vorwurf der Schleusertätigkeit ausgesetzt. Zudem, so kommentieren rechtskonservative Medien, diffamiert die Tätigkeit Dimitras den griechischen Staat.

Das griechische Immigrationsministerium versichert, dass es keine journalistischen Recherchen behindern würde, aber auch die Rechte der Geflüchteten auf Privatsphäre im Blick habe. Tatsächlich gelangte nach Christidis‘ verdecktem Besuch im Lager die Journalistin Vassiliki Siouti mit einer offiziellen Erlaubnis ins gleiche Lager und befragte die vom Spiegel porträtierte Gruppe.

Siouti erklärt in ihrem Beitrag, dass sie die ihr seitens der Direktion des Lagers auferlegten Beschränkungen hinsichtlich der Veröffentlichung von Fotos achten würde.

Siouti konnte keine Beweise für die Existenz der toten Maria finden. Lediglich einer der Geflüchteten gab ihr gegenüber an, es habe das Kind gegeben und es sei von einem Insekt gestochen worden. Siouti traf auch auf Baida S., die ihr jedoch unter Berufung auf den Anwalt einer NGO ein Gespräch verweigerte.

Sie zeigt in ihrem Artikel ein von ihr erstelltes Foto von Baida S. Auch sie hatte im August über die Gruppe der 38 berichtet und dabei die Dramatik der Situation, wie sie sich darstellte, beschrieben.

Siouti kommt zu dem Schluss:

Flüchtlinge sind Opfer und es ist menschlich, dass sie versuchen, ihrem Schicksal zu entkommen. Auf ihrem Rücken wurden jedoch nicht nur politische und diplomatische Spiele inszeniert, sondern auch ein riesiges Handels- und Ausbeutungsunternehmen des Flüchtlingsdramas (3.000 Euro sind der Tarif für ihren Transport von der Türkei nach Griechenland, sagten uns Flüchtlinge im Lager).

Ebenso wurden unzählige Fake News verbreitet, um dieser Ausbeutung zu dienen. Aus diesem Grund muss jeder, der das menschliche Drama der Flüchtlinge, das keine gefälschten Nachrichten braucht, respektiert, alle Nachrichten, die ihr Leben betreffen, untersuchen und dokumentieren. Und wo es eine ungerechte Tat gibt, muss es Strafen geben.


Vassiliki Siouti, Journalistin

Innenpolitische Konsequenzen

Innenpolitisch feiert die Regierung den endgültigen Rückzug der Spiegel-Artikel als Triumph. Im Fernsehen wird in mehreren Sendern erklärt, der Spiegel habe sich bei der griechischen Regierung entschuldigt. Printmedien berichten ähnlich.

Nur, dass sich auch bei aufmerksamem Lesen der jüngsten Stellungnahme des Spiegel keine wirkliche Entschuldigung herauslesen lässt. Erneut gibt es also "Fake News". Die Regierung geht noch einen Schritt weiter. Weil die negativen Schlagzeilen zum Schicksal der Geflüchteten an der EU-Außengrenze zur Türkei deren Narrativ dienten, sei die Opposition, die in Griechenland gegen die restriktive Flüchtlingspolitik argumentiert, die "fünfte Kolonne der Türkei", meint Wirtschaftsminister Adonis Georgiadis.

Mehrere Regierungsvertreter verlangen nun, dass sich die Opposition in Griechenland ebenso, wie es der Spiegel vorgemacht haben soll, bei der Regierung entschuldigt.