"Keine Ökologen, keine Pazifisten mehr": Deutsche Grüne im Spiegel russischer Medien
Obwohl die russische Fachwelt mehrheitlich mit keiner großen Änderung der deutschen Außenpolitik rechnet, erregt eine politische Kraft nun Besorgnis: Die Grünen
Welche Position genau eine ausländische Oppositionspartei gegenüber Russland einnimmt, ist selbst politischen Journalisten dort maximal eine Randnotiz wert. Jetzt, wo die Grünen in Deutschland voraussichtlich die Rolle eines Koalitionspartners oder sogar "Königsmachers" einnehmen, nimmt das kritische Interesse an der Partei zu, vor allem natürlich was ihre Russland-Positionen angeht.
Die "grüne Bedrohung" für Nord Stream 2
Die russische Zeitung gazeta.ru spricht von einer "grünen Bedrohung" Russlands aus Deutschland nach den Wahlen. Die Bedrohung sieht der von der Zeitung interviewte russische Außenpolitiker Konstantin Kosatschew konkret in der Ablehnung des Nord-Stream-2-Projekts. Es könne aber auch sein, dass diese Gegnerschaft im Zuge von Koalitionsverhandlungen hintan gestellt werde - das zukünftige politische Klima im deutsch-russischen Verhältnis sei nach seiner Auffassung unvorhersehbar.
Hier ist zu beachten, dass Nord Stream 2 aus russischer Sicht kein "Kreml-Projekt" ist - sondern heimische Arbeitsplätze und wichtige Wirtschaftseinnahmen an der Inbetriebnahme der nun fertigen Ostsee-Pipeline hängen. Daher würde eine Nichtnutzung der gebauten Gasleitung in Russland auch außerhalb der direkten Anhängerschaft des Systems Putin auf Unverständnis stoßen.
Wichtig für den Kreml sei insoweit, schreibt die in Lettland ansässige russischsprachige Onlinezeitung Medusa, dass es keinen grünen Bundeskanzler geben wird. Auch wenn sie das Außenministerium beanspruchen, würden die Grünen in ihrem harten Kurs gegenüber Russland nach Meinung der Zeitung von allen denkbaren Koalitionspartnern gebremst, die Russland gegenüber "relativ loyal" seien.
Diese Einschätzung ist unter "versöhnlicheren" Politikexperten in Russland verbreitet. Etwa auch bei Julia Melnikowa in einer neuen Analyse für den wichtigen Thinktank "Russischer Rat für Auswärtige Beziehungen". Ihre "antirussische Vorwahl-Rhetorik" müssten die Grünen in Regierungsverantwortung mäßigen. Würden sie das Außenministerium im Rahmen einer Koalition besetzen, werde der Ton bei politischen Verhandlungen aber schärfer werden.
Die SPD als Kraft der "Kontinuität"
Ebenso vor den Grünen warnt Alexej Puschkow. Regierungspolitiker im Russischen Föderationsrat laut gazeta.ru. Er denkt, dass die Partei versuchen werde, die ohnehin schon komplexen Beziehungen zwischen Moskau und Berlin weiter zu schädigen. Interessanterweise sieht er die SPD als Garanten dafür, dass sich dadurch nicht allzu viel ändern wird.
Sein Eindruck von den Sozialdemokraten ist - ebenso wie der anderer russischer Politiker und Experten - von den langen Jahren der Großen Koalition geprägt. Aufgrund dieser Partnerschaft mit Merkel vermutet man, dass eine SPD-geführte Bundesregierung in etwa dieselbe Russlandpolitik betreiben wird wie die bisherige, die mehrfach vor Ort als ein Mittelweg zwischen kritischer, aber gemäßigter Gegnerschaft und Dialog empfunden wird.
Allgemein wird in Russland die SPD nicht unbedingt als eine Kraft der Veränderung begriffen. Julia Melnikowa sieht sie als Kraft der "Stabilität", der "Verlässlichkeit" und "Kontinuität" - ein Image, das sie jetzt von der Regierung Merkel erben könne. Abweichungen zur bisherigen Außenpolitik werde es unter der SPD nur in Nuancen geben. Auch an eine Rückkehr zu einer wirklich russlandfreundlichen Ostpolitik der SPD im Geiste ihrer eigenen Tradition von Willy Brandt glaubt Melnikowa nicht.
Ins gleiche Horn stößt in der Onlinezeitung Lenta der Politologe Sergej Markow. Er verweist sogar auf ein gutes Verhältnis des designierten SPD-Kanzlers Olaf Scholz zu Altkanzler Gerhard Schröder, der Russland gegenüber positiv eingestellt sei. Dennoch werde er die deutsche Russlandpolitik nach Ansicht des Experten auch nicht in eine freundlichere Richtung ändern - maßgeblich wegen des Einflusses der USA auf die deutsche Politik - eine Auffassung, die in Russland vor allem unter regierungsnahen Experten weit verbreitet ist. Noch weiter verbreitet ist jedoch der negative Eindruck von den Grünen, der selbst in einem staatsfernen Exilmedium wie Medusa durchklingt.
Wie kommt es zu dem negativen Bild?
In Markows Fall ist das düstere Bild von den Grünen sogar noch ausgeprägter als bei seinen vorab erwähnten Kollegen. Er hält ihre transatlantische Ausrichtung für stärker als ihre Konzentration auf den Umweltschutz. "Die Grünen von heute sind keine Ökologen, keine Pazifisten mehr wie vor 20 bis 30 Jahren. Sie sind eine Partei der totalen Toleranz, die bereit ist, Panzerfäuste auf diejenigen abzufeuern, die anderer Meinung sind" diktiert er Lenta düster ins Mikrofon. Die Grünen seien nach seiner Auffassung paradoxerweise gleichermaßen Vertreter einer neuen Ethik und einer fehlenden Moral.
Spuren hinterlässt in der Einstellung vieler russischer Politiker und Experten abseits der außerparlamentarischen Opposition vor allem die Tätigkeit und der Ruf des parteinahen Thinktanks "Zentrum Liberale Moderne", der von regierungseigenen, russischen Medien als Paradebeispiel einer "Regime-change-Strategie" von außen gesehen wird.
Diese Auffassung führte dazu, dass das Zentrum Liberale Moderne in Russland zur unerwünschten Organisation erklärt wurde, was einem Arbeitsverbot in Russland gleichkam und die deutsche Seite zur Unterbrechung des "Petersburger Dialogs" als wichtigstem bilateralen Dialogformat veranlasste.
Die "Liberale Moderne" hatte zuvor häufig mit außerparlamentarischen Oppositionellen kooperiert, sieht die eigene Haltung aber nur als Kombination eines "vertieften Russlandverständnisses" mit einer "kritischen Distanz gegenüber Putin". Das sind Eckpfeiler, die wohl noch andere in Russland tätige politische Organisationen aus Deutschland unterstützen würden. Dennoch ist die Wahrnehmung dieses Thinktanks und der mit ihm verbundenen Grünen vor Ort eben nicht die eines kritischen Geistes, sondern die einer feindseligen Organisation.
Das liegt auch am offen kämpferischen Auftreten: Springer-Medien nannten den Thinktank eine Denkfabrik, die "Putin fürchten muss". Hier soll also wirklich von außen per Angst und Druck Politik in Russland gemacht werden. Die grüne Denkfabrik übersieht dabei, dass genau diese Strategie von den Regierenden in Russland dazu genutzt wird, Oppositionelle allgemein als Agenten eines aggressiv eingreifenden Auslands zu diffamieren, auch wenn sie nur reale Missstände kritisieren.
Laschets Ambitionen sind ein Außenseiterszenario
Dass neben der SPD auch die CDU/CSU eine weitere Kanzlerschaft anstrebt, ist in der russischen Fachwelt natürlich bekannt. Es ist aber die Option mit der man weniger rechnet. In der Regel werde der Vorsitzende des Wahlsiegers - also aktuell Olaf Scholz - zum Bundeskanzler, schreibt Medusa. Es habe nur in der Geschichte schon Gegenbeispiele gegeben. Die Möglichkeit einer weiteren Großen Koalition ist jedoch nach Meinung der Zeitung in der Bevölkerung sehr unpopulär - das hat sich ebenfalls bis nach Russland herumgesprochen.
Artjom Sokolow vom Institut für Internationale Studien der Elite-Universität MGIMO macht sich wenig Sorgen um große Veränderungen der deutschen Außenpolitik. Diese sei träge und vorhersehbar schreibt er in der Zeitung Kommersant. Das Verhältnis zu Russland werde in der deutschen Politik selbst von russlandfreundlicheren Kräften wie den Linken und der AfD nicht zu einem großen Thema gemacht. Deutschland werde in jedem Fall seinen Sanktionskurs weiter fahren, die deutsche Wirtschaft habe sich schon darauf eingestellt - egal was in einem zukünftigen Koalitionsvertrag stehe.