Keiner will's gewesen sein: Wenn Militärs auf Zivilisten schießen

Bild: Fars New/CC BY-4.0

Der Umgang des Iran mit dem Abschuss des ukrainischen Flugzeugs gilt vielen als Beleg für die moralischer Verkommenheit des Regimes. Dabei könnten sich andere Staaten am Verhalten des Iran ein Beispiel nehmen

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Drei quälend lange Tage dauerte das Leugnen. Schließlich wurden die Beweise für den Abschuss des Ukraine-Airlines-Fluges 752 am 8. Januar 2020 so erdrückend, dass auch die iranische Führung sie nicht mehr abstreiten konnte. Es habe sich um einen "unverzeihlichen Fehler" gehandelt, erklärte Irans Präsident Hassan Rouhani am 11. Januar.

Noch am selben Tag meldete sich die gesamte iranische Führung zu Wort: Vom zuständigen Kommandeur der Iranischen Revolutionsgarden über Außenminister Mohammed Dschawad Sarif bis hin zum Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei. Der Tenor war immer gleich: Man übernehme die volle Verantwortung, werde die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen und Hinterbliebene entschädigen (Iran führt Flugzeugabschuss allein auf den Fehler einer Person zurück).

Vor allem für Beobachter im Westen kamen diese Entschuldigungen allerdings zu spät. Medien werteten die Tötung von 176 Zivilisten als neuerlichen Beleg für die moralische Verkommenheit und Brutalität des Regimes. Politiker wie US-Außenminister Mike Pompeo und Israels Premier Benjamin Netanjahu nutzten die Gelegenheit, um zu Regimechange und neuen Sanktionen aufzurufen. Doch für moralische Überheblichkeit und politische Instrumentalisierung ist Fall nicht geeignet. Denn dass Militärs versehentlich auf Zivilisten schießen, ist keine Seltenheit. Dass Politiker dafür Verantwortung übernehmen hingegen schon. Ein Worst Case.

Iran-Air-Flug 655: Als die USA ein Flugzeug mit 275 Passagiere abschossen

Ein Ereignis, an das sich dieser Tage viele Iraner erinnert fühlen dürften, ist der Abschuss von Iran-Air-Flug 655. Der Passagierflieger mit 275 Menschen an Bord war am Morgen des 3. Juli 1988 vom Flughafen der iranischen Hafenstadt Bandar-Abbas in Richtung Dubai aufgebrochen. Nur wenige Minuten später holten ihn zwei Raketen des amerikanischen Kriegsschiffs USS Vincennes vom Himmel.

Dessen Kapitän William C. Rogers III begründete den Abschuss damit, die Elektronik seines Schiffes habe das Passagierflugzeuges aufgrund seines angeblichen Sinkfluges irrtümlich als herannahendes Kampfflugzeug identifiziert. Auch das Pentagon schloss sich zunächst dieser Darstellung an.

Ein Untersuchungsbericht belegte später hingegen: Alle verfügbaren Informationen haben darauf hingedeutet, dass es sich um eine zivile Passagiermaschine gehandelt habe. Auch David Carlson, Kommandant eines weiteren in der Nähe befindlichen amerikanischen Kriegsschiffs, sagte aus, dass das Flugzeug eindeutig als zivile Linienmaschine zu erkennen gewesen sei und verwies auf vorangegangenen abenteuerlichen Aktionen des verantwortlichen Kapitän Rogers.

Politische Konsequenzen wollte in Washington dennoch niemand aus dem Abschuss ziehen. Im Juli 1988 bekundete US-Präsident Ronald Reagan zwar in einer diplomatischen Note sein Bedauern an die Iraner, tat dies aber explizit ohne Verantwortung für den Abschuss zu übernehmen. Auch bei einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates sechs Wochen nach dem Abschuss sprachen sich die meisten Mitglieder gegen eine Verurteilung der USA aus. Nur die Sowjetunion forderte einen Abzug der amerikanischen Marine aus dem Persischen Golf.

US-Vizepräsident George H. W. Bush verteidigte sogar noch die Entscheidung, als er erklärte, die Crew hätte sich der Situation angemessen verhalten. Einen Monat später wurde er noch deutlicher. Bei einem Treffen mit Republikanern im August 1988 erklärte Bush: "Ich werde mich niemals für die Vereinigten Staaten entschuldigen. Es ist mir egal, was die Fakten sind. Ich bin nicht so ein Typ, der sich für die Vereinigten Staaten entschuldigt."

Zwei Jahre später setzte Bush - mittlerweile zum Präsidenten gewählt - noch einen drauf und verlieh Kapitän Rogers für seine Zeit im Persischen Golf den "Legion-of-Merit-Orden" - eine Auszeichnung für außerordentliche Pflichterfüllung. Erst unter Präsident Clinton übernahm die US-Führung zumindest in finanzieller Hinsicht Verantwortung. Acht Jahre nach dem Abschuss von Iran-Air-Flug 655 erklärten sich die USA vor dem Internationaler Gerichtshof bereit, 61,8 Millionen US-Dollar an die Hinterbliebenen der 275 Toten von Iran-Air-Flug 655 zu zahlen.

Korean-Air-Lines-Flug 007: 269 Tote über dem Ochotskischen Meer

Wie milde amerikanische Politik und Öffentlichkeit auf den Abschuss von Iran-Air-Flug 655 reagierte, verwunderte schon damals einige Beobachter. Denn nur fünf Jahre zuvor hatte ein ganz ähnlicher Vorfall noch große Empörung ausgelöst. Sowjetische Abfangjäger hatten am 1. September 1983 versehentlich ein koreanisches Passagierflugzeug mit 269 Menschen an Bord abgeschossen. Die damalige Verurteilung durch die USA hätte schärfer nicht ausfallen können: Vom "Korean Airline-Massaker" sprach US-Präsident Ronald Reagan. Sowie von einem "Akt der Barbarei und unmenschlicher Brutalität" und einem "Verbrechen, das niemals vergessen werden darf".

Der amerikanische Politikwissenschaftler Robert Entman hat 1991 untersucht, wie unterschiedlich amerikanische Medien über die beiden Fälle berichteten und stellte fest: Während amerikanische Medien den Abschuss des Korean-Air-Lines-Fluges 007 als Beleg für den "moralische Bankrott" der Sowjetunion darstellten, galt der Abschuss von Iran-Air-Flug 655 als Beispiel für die "Komplexität im Umgang mit militärischem High-Tech".

Das bedeutet allerdings nicht, dass das Krisenmanagement der Sowjetunion nicht auch zurecht Kritik verdient hätte: Auch die sowjetische Führung bedauerte den Abschuss des Passagierflugzeuges, das wohl durch einen Navigationsfehler in sowjetischen Luftraum eingedrungen war. Verantwortung übernehmen wollte man allerdings nicht. Stattdessen beharrte man in Moskau lange auf der Darstellung, es habe sich bei Korean-Air-Lines-Fluges 007 um ein Spionageflugzeug der CIA gehandelt. Auch eine Verurteilung im UN-Sicherheitsrat verhinderte die Sowjetunion.

Erst 1992 gab Präsident Boris Jelzin zumindest die bis dahin verschlossenen Akten frei und übergab die Blackboxes der abgeschossenen Maschine an Südkorea. Bis zur einzigen größeren politischen Konsequenz dauerte es weitere sechs Jahre. 1998 traf eine infolge des Abschusses beschlossene Änderung des "Übereinkommen über die internationale Zivilluftfahrt" in Kraft. Mitglieder der "Internationalen Zivilluftfahrtorganisation" verpflichten sich seitdem, keine zivilen Flugzeuge mehr abzuschießen.

Libyan Arab Airlines Flight 114: Irrflug über den Sinai

Der Umgang der Sowjetunion mit dem Abschuss von Korean-Air-Lines-Fluges 007 erinnert an einen Fall, der sich rund zehn Jahre zuvor über der Sinai-Halbinsel zugetragen hatte. Auch die Libyan Arab Airlines Flight 114 hatte sich in feindlichen Luftraum verirrt. Auch ihre Besatzung wurde im Nachhinein beschuldigt, sich in Wahrheit auf einem Spionageflug befunden zu haben. Der Schuldige in diesem Fall: Israel.

Libyan Arab Airlines Flight 114, befand sich am 21. Februar 1973 auf einem Linienflug vom libyschen Tripoli in die ägyptische Hauptstadt Kairo, als sie von einem israelischen Kampfflugzeug abgeschossen wurde. Von den 113 Menschen an Bord überlebten nur fünf. Unter den Opfern befand sich auch der ehemalige libysche Außenminister Saleh Buyasseer.

Die israelische Führung stritt zwar nicht ab, das Flugzeug abgeschossen zu haben, welches sich vermutlich aufgrund eines Sandsturms auf die damals von Israel besetzte Sinai-Halbinsel verirrt hatte. Von eigener Verantwortung wollte man aber auch hier nichts wissen. Einen Tag nach dem Abschuss verteidigte Verteidigungsminister Moshe Dayan die Entscheidung seiner Kampfpiloten und schob die alleinige Schuld dem französischen Piloten des Passagierflugzeuges zu: "Ich möchte einem Toten nicht die Schuld dafür geben, was passiert ist, aber er ist der einzige, der Schuld hat."

Erst als die Auswertung der Blackbox die ursprüngliche israelische Darstellung widerlegte, wonach der Pilot mehrere Aufforderungen per Funk und Warnschüsse ignoriert hätte, revidierte Dayan sein anfängliches Urteil etwas. "In diesem Fall habe wir uns - unter den schwierigsten Umständen - geirrt. Aber das macht uns nicht zu Schuldigen."

Diese Aussage war dann auch schon das Maximum, was die Bereitschaft der israelischen Führung anging, Verantwortung zu übernehmen. In der israelischen Politik und Öffentlichkeit war der Tod von 108 Menschen kaum ein Thema. Ein Autor der New York Times notierte am 24. Februar: Die israelische Öffentlichkeit "scheint den Abschuss des Flugzeuges als gerechtfertigt zu betrachten". Auch im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen war der Vorfall kein Thema. Einzig die "Internationale Zivilluftfahrtorganisation" verurteilte den Abschuss damals.

Zumindest etwas Gerechtigkeit gab es dann doch noch für die Opfer von Libyan Arab Airlines Flight 114 gegeben zu haben. 30 Jahre nach dem Abschuss berichtete Haaretz im Jahr 2003, Israel habe den Hinterbliebenen der Opfer je 30.000 US-Dollar Entschädigung gezahlt.

Luftschlag von Kundus: Auf Entschädigung warten die Opfer bis heute

Militärs, die versehentlich Zivilisten abschießen. Politiker, die sich aus der Verantwortung stehlen. Auch in jüngster Vergangenheit finden sich für dieses Muster zahlreiche Beispiele: Am 4. Oktober 2001 stürzte eine russische Passagiermaschine mit 78 Menschen an Bord über dem Schwarzen Meer ab. Nach anfänglichem Leugnen musste die ukrainische Armee zugeben, das Sibir-Flugzeug 1812 irrtümlich während eines Militärmanövers abgeschossen zu haben.

Am 23. März 2007 traf eine Rakete ein weißrussisches Flugzeug mit Hilfslieferungen über Mogadishu und tötete alle 11 Insassen. Verantwortung übernommen hat für den Abschuss bis heute niemand. Und auch die Hinterbliebenen der 298 Toten von Flug MH17, der am 17. Juli 2015 über dem Osten der Ukraine abstürzte, warten bis heute auf Entschuldigungen und Entschädigungen durch die Verantwortlichen.

Auch die Bundesrepublik hat in jüngster Vergangenheit gezeigt, wie wenig man bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, wenn das eigenen Militär Zivilisten töten. Zwar haben deutsche Soldaten seit dem Zweiten Weltkrieg keine zivilen Passagiermaschinen mehr abgeschossen, doch liefert der Umgang der Bundesrepublik mit dem Luftangriff von Kundus ein Lehrbeispiel dafür, wie man es in solchen Fällen nicht machen sollte. Bis zu 134 Menschen starben, als Bundeswehr-Oberst Georg Klein am Morgen des 4. September 2009 amerikanischen Kampfpiloten den Befehl gab, Bomben auf zwei Tanklaster zu werfen, um die sich zahlreiche Zivilisten versammelt hatten, um Benzin abzuzapfen.

Hatten Bundeswehr und Bundesregierung den Vorfall zu Beginn noch als einen Akt der Selbstverteidigung und gezielten Angriff auf Taliban ohne zivile Opfer dargestellt, fiel das Konstrukt bald Stück für Stück in sich zusammen. Immer mehr Reports lokaler und internationaler Organisationen, Aussagen der beteiligten Kampfpiloten und schließlich sogar Berichte der NATO widerlegten die offizielle deutsche Darstellung. Am Ende war klar: Eine unmittelbare Bedrohung hatte es nie gegeben. Der zuständige Oberst hatte gegen NATO-Regeln verstoßen, das Bundesverteidigungsministerium mehrmals Informationen zurückgehalten und die Bundesregierung die Öffentlichkeit getäuscht.

Als Franz Josef Jung, der zum Zeitpunkt des Angriffes das Verteidigungsministerium leitete und mittlerweile ins Arbeitsministerium gewechselt war, am 27. November schließlich doch noch zurücktrat, tat er dies - nach eigener Aussage - nicht wegen der Toten, sondern aufgrund des "Medien-Hypes." "Ich kann mir eigentlich keinen Fehler vorwerfen, da haben Sie vollkommen recht", sagte Jung rückblickend im NDR-Interview. Auch Oberst Klein bekam keine Konsequenzen zu spüren. "Es ist die Aufgabe und Pflicht eines Dienstherrn, Menschen, die auch Fehler machen, nicht fallen zu lassen", nahm der damals designierte Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg Klein kurz nach dem Angriff in Schutz. Ein Ermittlungsverfahren gegen Klein wurde am 19. April 2010 eingestellt. Statt einer Verurteilung erhielt er später die Beförderung zum General.

Am deutlichsten zeigte sich die fehlende Bereitschaft der Bundesregierung, Verantwortung für die Tötung von Zivilisten zu übernehmen, allerdings am Umgang mit den Opfern. Statt Entschädigungszahlungen für die Hinterbliebenen gab es Hilfspakete für bedürftige Familien der betroffenen Region. Die Reaktion auf den opferreichsten Angriff deutscher Soldaten seit dem Zweiten Weltkrieg umfasste unter anderem 50 Kilogramm Mehl, 4 Kilogramm Bohnen und eine Wolldecke.

Erst rund ein Jahr später erklärte sich die Bundeswehr im August 2010 dann doch noch bereit, den Familien von 91 Toten und 11 Schwerverletzten als "humanitäre Geste" je 5000 US-Dollar zu zahlen. Ein Eingeständnis von Schuld war damit explizit nicht verbunden. Weitergehende Entschädigungsforderungen der Hinterbliebenen hat der Bundesgerichtshof im Oktober 2016 endgültig abgelehnt. Auf eine Entschuldigung und angemessene Entschädigung warten die Hinterbliebenen des Luftangriffes von Kundus bis heute.