Klaus von Dohnanyis "Nationale Interessen" – oder: Dynamit vom Elder Statesman

Klaus von Dohnanyi 2018 bei Maischberger. Bild: © Superbass / CC-BY-SA-4.0

Das richtige Buch zum richtigen Zeitpunkt: US-amerikanische Interessen stimmen nicht mehr mit den europäischen und deutschen überein

Es sind bezeichnenderweise immer die nun richtig alten Elder Statesmen, die in Deutschland eine vollkommen andere, vom herrschenden Medienmainstream stark abweichende Sicht auf das westlich-russische Verhältnis und die Genese der gerade in Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine eskalierenden Spannungen haben. Und zwar unabhängig von Parteienzugehörigkeit und ungeachtet der Tatsache, dass sie zu Hochzeiten des Kalten Krieges nicht selten in völlig konträren Lagern standen.

Dies galt vor allem für die mittlerweile verstorbenen Spitzenpolitiker, die Ende der Achtziger Jahre zusammen mit der Sowjetunion den (ersten) Kalten Krieg so erfolgreich beendet hatten, dass kein einziger Schuss fiel: Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher, Egon Bahr, Richard von Weizsäcker – selbst der entschiedenste Protagonist des Nato-Nachrüstungsbeschlusses, Helmut Schmidt sprach sich gegen Ende seines Lebens für einen anderen Umgang gegenüber Russland aus!

Dies gilt aber auch für die noch lebenden filigranen "Feinmechaniker der deutschen Vereinigung" wie den Kanzleramtsminister Helmut Kohls, Horst Teltschik und den engen Mitarbeiter und Redenschreiber Hans Dietrich Genschers, den Diplomaten a.D. Frank Elbe. Selbst der schneidige ehemalige Kommunistenfresser Edmund Stoiber sieht die Dinge heute deutlich anders.

Kein Wunder, diese Generation, die den Krieg als Kind oder Jugendliche noch erlebt hatte und während des ersten Kalten Krieges politisch aktiv war, weiß aus eigener Erinnerung noch sehr genau, was Krieg tatsächlich bedeutet und hantiert daher nicht so locker mit den Gewichten wie die aktuelle Playbackgeneration in Medien und Politik.


Klaus von Dohnanyi
Nationale Interessen: Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche

Siedler Verlag
ISBN: ‎ 978-3827501547
240 Seiten, 22,00 €


Vor einigen Monaten hat sich einer der wenigen Intellektuellen der deutschen Politik zurückgemeldet und im zarten Alter von 93 Jahren ein Buch vorgelegt, das es in sich hat: der ehemalige Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, Ex-Bundesminister für Bildung und Wissenschaft im Kabinett Willy Brandts und langjährige Bundestagsabgeordnete, Klaus von Dohnanyi.

Hinter dem etwas spröden Titel Nationale Interessen – Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche verbirgt sich jede Menge Dynamit (siehe dazu auch das dreiteilige Telepolis-Interview mit Klaus von Dohnanyi: "Die USA beherrschen die außenpolitische und sicherheitspolitische Lage Europas", "Und wenn's dann brennt, sollen wir Geld und Waffen liefern..." und "Deutschland und Frankreich sollten in der Nato eine eigene Stimme erheben").

"Interessen" versus "Werte"

Wie von Dohnanyi zu Beginn seines Buches überzeugend darlegt, sind in Deutschland die Begriffe "Nation" und "national" immer noch verdächtig. Ähnliches gilt für den Begriff "Interesse" – sollte es sich jedenfalls um "deutsche Interessen" handeln. In den Ohren sich selbst als kritisch verstehender Intellektueller klingen diese Begriffe verdächtig nach Nationalismus, gar nach imperialistischen Aspirationen. Politiker, die in der Verantwortung stehen, bemühen lieber den blumigen Begriff der "Werte" oder, wenn es um internationale Bündnisse geht, den der "Wertegemeinschaft".

Nun hatte aber bereits Egon Bahr eindringlich vor einer Überstrapazierung dieser Begriffe gewarnt. Legendär die lebensnahe Lektion, die der damals 91jährige im Dezember 2013 Heidelberger Schülern erteilte:

In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt!

Humanitäre Argumente verschleierten nur allzu oft knallharte Machtinteressen. Nicht zuletzt die Politik unseres Großen Bruders jenseits des Atlantiks ist da ein klassisches Beispiel.

Hier setzt von Dohnanyi an. Ihm geht es darum, den schwammigen Begriff der "Wertegemeinschaften" zu konkretisieren und von dem Begriff der "nationalen Interessen" zu unterscheiden:

Wertegemeinschaften sind keine Staatsform, keine Nation. Ihnen fehlt die durch einen gemeinsamen politischen Prozess begründete demokratische Legitimation. Es kann natürlich auch gemeinsame Interessen geben, zum Beispiel in der EU oder auch in der transatlantischen Partnerschaft zwischen Europa und den USA. Aber zwangsläufig gibt es innerhalb dieser Wertegemeinschaften auch gegensätzliche Interessen. Gemeinsame "Werte" schließen harte nationale Interessengegensätze innerhalb dieser "Gemeinschaft" nicht aus, wie wir erfahren haben und auch künftig sehen werden.

Und um diese "harten nationalen Interessengegensätze" – vor allem zwischen den USA und der EU im Allgemeinen und Deutschland im Speziellen – im Spannungsfeld der Großmächte USA, China und Russland geht es im vorliegenden Buch.

Die Interessen der USA sind nicht die Interessen Europas

Die USA beherrschen Europa außen- und sicherheitspolitisch, und auf dieser Grundlage ziehen sie uns in ihre Konflikte mit anderen Weltmächten hinein. So verstehen die USA heute ihre Interessen: Es sollen nach ihrem Willen heute nicht die EU oder Deutschland sein, die ihre Beziehungen zu China oder Russland nach ihren eigenen Interessen prägen, sondern es sollen die USA sein, die die weichenstellenden Entscheidungen treffen.

Fragt sich nur, ob diese Entscheidungen auch den europäischen Interessen entsprechen. Von Dohnanyi legt überzeugend dar, dass die US-amerikanische Politik sich auch unter Präsident Joe Biden von den vor über 100 Jahren entwickelten geopolitischen Strategien des britischen Geographen Halford J. Mackinder leiten lässt, nach der, wer das sogenannte "Heartland" – den eurasischen Kontinent – beherrsche, auch die Welt beherrsche.

Da sowohl die USA als auch Großbritannien dies nicht aus eigenen Kräften bewerkstelligen könnten, gelte es seit Mackinder, nach dem Motto "Teile und herrsche!" Konflikte innerhalb dieses "Herzlandes" zu nutzen oder zu schüren, um eine weltbeherrschende Macht auf dem eurasischen Kontinent in Gestalt eines deutsch-russischen, heute: EU-russischen, Bündnisses zu verhindern.

Aktualisiert wurde diese Strategie bekanntlich in den Neunziger Jahren, als der ehemalige Sicherheitsberater im Weißen Haus, Zbigniew Brzezinski, in seinem Buch "The Grand Chessboard" Europa als den "geopolitischen Brückenkopf" der amerikanischen Weltmacht auf dem eurasischen Kontinent bezeichnete.

Die USA, so von Dohnanyi, wollten erklärtermaßen die "einzige Weltmacht" (Brzezinski) bleiben und gerieten damit zwangsläufig in eine Rivalität zu China und Russland, die früher oder später in eine Konfrontation führe. Von Dohnanyi untersucht nun die Konsequenzen dieser Strategie für Europa.

Dazu fragt er als erstes, ob von China eine Kriegsgefahr für Europa ausgehe. Er verneint dies trotz der fraglosen militärischen Aufrüstung des Landes, deren Ziel seiner Einschätzung nach allerdings nicht militärische Expansion, sondern die Sicherung geographischer Einflusszonen im Südchinesischen Meer, d.h. die "Verhinderung der Präsenz militärisch- oder politisch-ideologisch fremder Kräfte", sei:

Chinas Interesse ist heute wirtschaftlicher und sozialer Aufstieg, nicht militärische Expansion. Wenn Europa die chinesischen Interessen defensiv verstehen und seine eigenen entsprechend ausrichten könnte, lägen möglicherweise viele Jahrzehnte der positiven Zusammenarbeit vor uns. Aber das wollen die USA verhindern, sie wollen die Außenpolitik der Europäischen Union gegenüber China hegemonial mitbestimmen und lenken. Sie wollen Europa als Teil einer "westlichen Wertegemeinschaft" in ihren Weltmachtkonflikt mit dem erstarkenden China hineinziehen.

Präsident Bidens programmierte Politik einer Wiederherstellung der weltweiten Dominanz der USA, nicht zuletzt sein konfrontativer Kurs in Asien, berge erhebliche Risiken für Europa und die Welt.

Es kann daher auch nicht deutsches Interesse sein, sich an dieser vermutlich ebenso vergeblichen wie gefährlichen Politik der USA zu beteiligen. Denn niemand sollte glauben, dass Europa aus einem Krieg zwischen USA und China unbeschädigt herauskäme. Dafür würden die USA schon sorgen!