Klaus von Dohnanyis "Nationale Interessen" – oder: Dynamit vom Elder Statesman

Seite 2: Entspannungspolitik mit Russland ist alternativlos

Gegenüber Russland ist die sicherheitspolitische Situation Europas laut von Dohnanyi nach wie vor – wie zu Zeiten des (ersten) Kalten Krieges – durch die US-amerikanische Strategie der atomaren "flexible Response" gekennzeichnet, die im Ernstfall bedeuteten würde: Krieg auf europäischem Boden – bis zur totalen Zerstörung des Kontinents! Von Dohnanyi, der in den Siebziger Jahren an entsprechenden Nato-Übungen teilnahm, weiß wovon er redet:

Nicht Europa zählt im Falle eines russischen Angriffs, sondern nur die Sicherheit der USA! Wir werden nicht gefragt! Die wahre Gefahr für eine völlige Zerstörung Europas beruht darauf, dass Europa in erster Linie ein geopolitisches Interesse der USA ist. Europa würde im Falle eines russischen Angriffs nach amerikanischer und Nato-Strategie zum alleinigen Kriegsschauplatz, ohne jedes direkte Risiko für das Heimatland USA. Deutschland aber wäre, als vermutlich zentrale Nachschubbasis, sofortigen Raketenangriffen ausgesetzt. Die nukleare Nato bildet heute als militärische Organisation keinerlei Garantie für Europas Unversehrtheit.

(Nebenbei: Für Menschen, die in den Achtziger Jahren in der Friedensbewegung aktiv waren, nicht gerade eine Neuigkeit. Statt dessen muss man schmerzhaft zur Kenntnis nehmen, dass das Ende des ersten Kalten Krieges an dieser Tatsache nicht das Geringste geändert hat!)

Die Konsequenz: Nur solange Russland selbst an einer Aggression nicht interessiert sei, sei Europa wirklich sicher. Eine entsprechende Haltung russischer Politik zu festigen oder herzustellen, bleibe die vorrangige Aufgabe deutscher und europäischer Diplomatie.

Entspannung ist der bleibende Auftrag! Dauerhafte Sicherheit in Europa kann es nur mit und nicht gegen Russland geben. Wir Europäer wissen, dass wir in einem Krieg mit Russland sogar als Sieger nur Verlierer sein könnten! Nur Entspannungspolitik könnte die Kriegsgefahr in Europa verringern. Entspannung muss deswegen zum Grundsatz auch der Nato-Politik mit Russland werden.

Europa müsse selber Wege finden, Gefahren für den Kontinent zu bannen, solange die innenpolitische Lage in den USA und die dortige Russophobie eine Entspannungspolitik der Nato nicht erlaubten. Für die Sicherheit der europäischen Nationen müssten auch russische Interessen "auf das gelenkt werden, was letztlich die einzig verbliebene Stärke Europas ist: eine offene Zusammenarbeit in Wissenschaft, Innovation, Technologie und Wirtschaft."

Sätze, die seit dem 24. Februar brisanter sind denn je!

Brandaktuell – und schon veraltet

Selten war ein Buch zum Zeitpunkt seines Erscheinens so aktuell – und bereits wenige Wochen später in zentralen Punkten schon wieder veraltet! Man missverstehe nicht: Alle scharfsinnigen Analysen von Dohnanyis gelten nach wie vor. Aber die sich überstürzenden Ereignisse im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine lassen einige Konsequenzen, die der Autor noch Ende letzten Jahres zog, mittlerweile alt aussehen.

So schlug von Dohnanyi beispielsweise – damals völlig plausibel – im Anschluss an ein Interview, das ausgerechnet Zbigniew Brzezinski zwei Jahre vor seinem Tod, im Juni 2015, der Welt gegeben hatte, für die Ukraine vor, sich am Status Finnlands zu orientieren. Eine Option, die nun mit der bevorstehenden Nato-Norderweiterung obsolet geworden ist.

Hier, wie bei einer Reihe anderer Aspekte, wüsste man gerne, ob und gegebenenfalls in welche Richtung der Autor heute Modifikationen seiner Gedanken und Vorschläge vornehmen würde. Kurz: Eine – zumindest um ein ausführliches neues Vorwort ergänzte – aktualisierte Neuauflage dieses Bandes auf dem Hintergrund der laufenden Ereignisse wäre bereits jetzt sehr zu empfehlen.

Von Dohnanyi argumentiert moderat im Ton, aber klar in der Sache. Sein Duktus ist, wie in Interviews und Talkshows, stets besonnen und souverän. Und er scheut sich nicht, aus seinen Thesen unmissverständlich die Konsequenzen zu ziehen, auch wenn sie der generellen Linie der Leitmedien meist diametral entgegensetzt sind. Genau diese Kombination bildet den offensichtlichen Reiz, der von Buch und Autor ausgeht.

Und so freut man sich, dass dieser Band – trotz des nicht gerade reißerisch klingenden Titels – es auf Anhieb in die Spiegel-Bestseller-Liste geschafft hat. Nicht zuletzt ein ermutigendes Anzeichen, dass es in der deutschen Öffentlichkeit nach wie vor ein großes Interesse nach seriösen Informationen jenseits des lärmenden einseitigen Medienmainstream gibt!