Klimakrise und Kipppunkte: November 1,75 Grad Celsius wärmer als der Durchschnitt

Staub, Ruß und Algen können im Sommer den Eisschwund beschleunigen. Beobachtung von Berggletschern in Alaska. Archivbild (2014): Chris Larsen, University of Alaska-Fairbanks/ Nasa / CC BY 2.0 Deed

Energie und Klima – kompakt: Mehr als 200 Wissenschaftler bewerten Risiken des Umschlagens verschiedener Subsysteme der großen Klimamaschine.

Im Klimasystem der Erde gibt es diverse sogenannter Kipppunkte, an denen Teilsysteme umschlagen und in einen neuen, nicht umkehrbaren Zustand eintreten können.

Zum Beispiel, wenn der westantarktische Eisschild so weit angegriffen wird, dass sein vollständiges Verschwinden nicht mehr aufzuhalten sein wird. Oder wenn die globale Erwärmung in den Ozeanen oder im arktischen Permafrostboden (dauerhaft gefrorenes Erdreich) größere Mengen Methan freisetzen, die wiederum die Erwärmung verstärken und ihrerseits noch größere Mengen des sehr effektiven Treibhausgases mobilisieren.

Fünf dieser Kipppunkte könnten schon bald erreicht werden. Das ist das Ergebnis eines umfangreichen Berichts, der am gestrigen Mittwoch von der britischen Universität Exeter veröffentlicht wurde. Mitgearbeitet haben über 200 Forschende aus 26 Ländern.

Kein Zurück

Einer der Hauptautoren des Berichts ist Sina Loriani vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK), der dort an diesen besonderen Punkten ohne Wiederkehr forscht:

Dieser Bericht ist der bisher umfassendste Überblick über Kipppunkte im Erdsystem. Das Überschreiten von Kipppunkten kann grundlegende und mitunter abrupte Veränderungen auslösen, die das Schicksal wesentlicher Teile unseres Erdsystems für die nächsten Hunderte oder Tausende von Jahren unumkehrbar bestimmen könnten.

Diese Kipppunkt-Risiken sind potenziell verheerend und sollten mit Blick auf heutige und künftige Generationen sehr ernst genommen werden, trotz der verbleibenden wissenschaftlichen Unsicherheiten.

Sina Loriani, PIK

In fünf Subsystemen besteht bereits jetzt die Gefahr, dass dort schon sehr bald ein Kipppunkt überschritten werden könnte, zumal es im November bereits im dritten Monat in Folge um mehr als 1,5 Grad Celsius wärmer als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war.

Das EU-Klimaprogramm Copernicus hatte am gestrigen Mittwoch in einer zunächst nur per E-Mail verschickten Pressemitteilung mitgeteilt, dass der November 1,75 Grad Celsius wärmer als die durchschnittlichen November zwischen 1850 und 1900 war.

Die fünf akut gefährdeten Systeme

Die fünf akut gefährdeten Systeme sind erstens die Warmwasserkorallenriffe der Tropen, die absterben, wenn das Wasser zu warm wird. Davor wird von den Wissenschaften schon seit Längerem gewarnt und seit den 1990ern mehren sich Vorfälle, bei denen die Riffe ausbleichen.

Das geschieht, wenn die mit den Korallen-Polypen in Symbiose lebenden Algen diese aufgrund von Hitzestress verlassen. Bleiben die Korallen längere Zeit ohne Symbiosepartner, sterben sie ab und die Riffe veröden. Damit gehen zugleich wichtige Ökosysteme verloren, die für viele tropische Speisefischarten die Kinderstube darstellen.

Zweitens gibt es Anzeichen für eine Abschwächung eines ozeanischen Wirbels südlich und südöstlich Grönlands. Erste Anzeichen sind dafür Veränderungen in tieferen Strömungen vor dem kanadischen Labrador sowie auffallend niedrige Lufttemperaturen über dem Meer südlich von Grönland.

Ganz im Gegensatz zum Rest des Planeten ist es dort im Durchschnitt kälter geworden.

Sollte der Wirbel, der unter anderem für die Verteilung von Nährstoffen und Sauerstoff wichtig ist, tatsächlich zum Erliegen kommen, könnte sich der Jetstream, ein starker Höhenwind, an dem sich die Tiefdruckgebiete entlang bewegen, nach Norden verlagern, heißt es in dem Bericht.

Für Europa wären die Folge mehr Wetterextreme. Außerdem würde das Algenwachstum abnehmen, was potenziell schwerwiegende Auswirkungen auf die Fischbestände in der Region und somit auf die Fischerei hätte.

Bedrohte Permafrostgebiete und die Eisschilde

Drittens sind verschiedene Permafrostgebiete bedroht, und viertens und fünftens sind schließlich die Eisschilde auf Grönland und in Teilen der Antarktis gefährdet, destabilisiert zu werden.

Das Eis auf Grönland könnte die Meere um sieben Meter steigen lassen, und in den antarktischen Eispanzern ist genug Wasser für weitere 58 Meter gespeichert. Auf dem südlichen Eiskontinent ist allerdings gegenwärtig nur der kleinere Teil, der westantarktische Eisschild, bedroht.

Der Eisverlust der großen Eisschilde hat sich seit den 1990er-Jahren bereits verdreifacht, was ein Teil der Erklärung für den deutlich beschleunigten Anstieg der Meere ist, über den wir am Dienstag berichtet haben.

Bisher trägt Grönland rund die Hälfte dazu bei. Dort, wie in allen untersuchten Subsystemen, gibt es ein Zusammenspiel diverser positiver, das heißt, verstärkender, und negativer, also dämpfender Wechselwirkungen, die hier für Grönland beispielhaft näher beschrieben werden sollen.

Während in der deutlich kälteren Antarktis das Eis überwiegend an der Unterseite der ins Meer reichenden Eiszungen, dem Schelfeis, verloren geht, verliert Grönland das Eis vor allem durch das Tauen an der Oberfläche und das Abbrechen von Eisbergen.

Einerseits fällt dort in einem wärmeren Klima mehr Schnee, was den Eisverlust zum Teil ausgleichen kann.

Andererseits führt das Tauen an der Oberfläche dazu, dass diese dunkler wird und mehr Sonnenlicht absorbiert, also den Eisverlust noch verstärkt. Wenn der Schnee ganz wegtaut, können sich auf dem Eis auch dunkle Algen ansiedeln, was das Abtauen ebenfalls weiter fördert.

Außerdem kann sich durch Abtauen die Dicke des Schildes verringern, wodurch seine Oberfläche tiefer, das heißt, in wärmere Luftschichten sinkt. Ein weiterer Faktor, der das Abtauen beschleunigt.

Welcher der Mechanismen – ein paar weitere spielen ebenfalls kleinere Rollen, sollen hier aber nicht weiter erörtert werden – letztlich die Oberhand behält, und an welchem Punkt das Eisschild unwiederbringlich verloren ist, hängt letztlich von der globalen Temperatur ab.

Die 1,5-Grad-Grenze

Der Bericht zitiert in Kapitel 1.2.2.1 verschiedene Studien, wonach dieser Punkt irgendwo zwischen 0,8 und drei Grad Celsius Erwärmung gegenüber dem vorindustriellen Niveau und am wahrscheinlichsten bei 1,5 Grad Celsius liegt.

Bis das Eisschild gänzlich verschwindet, würde es allerdings mehrere Jahrtausende dauern.

Allerdings gilt, je weiter die Erwärmung über den kritischen Punkt steigt, desto schneller wird das Eis schrumpfen. Andererseits sorgt die Trägheit der großen Eismassen auch dafür, dass zumindest Grönland einige Jahrzehnte und eventuell gar mehr als ein Jahrhundert braucht, bevor wirklich ein unumkehrbarer Prozess angestoßen ist.

Sollte es also gelingen, nach einem Überschießen die globale Erwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts wieder unter die 1,5-Grad-Celsius-Marke zu drücken, so der Bericht, könnte noch eine Chance bestehen, den grönländischen Eisschild wieder zu stabilisieren.

Es ist also noch lange nicht alles verloren, und ein schnelles Umsteuern, wie etwa ein rascher Ausbau der erneuerbaren Energieträger, kann das Schlimmste noch verhindern, aber die Zeit läuft langsam ab. Jonathan Donges, ein weiterer Bericht-Hauptautor vom PIK dazu:

Unsere Analyse zeigt übereinstimmende Kernaussagen in der bisher veröffentlichten Forschung zu Kipppunkten im Erdsystem auf. Sie verdeutlicht, dass der gegenwärtige Klimawandel und der Verlust der Natur grundlegende Veränderungen in Schlüsselelementen des Erdsystems verursachen könnten, mit weitreichenden Folgen für Milliarden von Menschen auf der ganzen Welt.

Zu diesen Auswirkungen gehören ein beschleunigter Anstieg des Meeresspiegels, veränderte Wettermuster und geringere landwirtschaftliche Erträge – diese haben das Potenzial, negative soziale Kipppunkte auszulösen, die zu gewaltsamen Konflikten oder dem Zusammenbruch politischer Institutionen führen könnten.

Kipppunkte sind auch nicht unabhängig voneinander, sondern stehen in enger Wechselwirkung: Die Überschreitung eines Kipppunkts im Erdsystem oder in der Gesellschaft könnte wiederum ein anderes Kippsystem destabilisieren, wodurch Kippkaskaden möglich werden.

Jonathan Donges, PIK