Klosterschüler Streibl lächelte Exportbombe Bayern in die EWU
Seite 2: Zwischenrufe vom Starnberger See zu Waigels Maastricht-Predigten
- Klosterschüler Streibl lächelte Exportbombe Bayern in die EWU
- Zwischenrufe vom Starnberger See zu Waigels Maastricht-Predigten
- "Stabilisieren" als Vorwand für das Privatisieren von Post und Bahn
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In den Jahren der Vorbereitung und Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion gab es nur wenige Untersuchungen zu den sozialen Schäden der dogmatischen Stabilitätspolitik des deutschen Finanzministers. Immerhin analysierte Berndt Keller 1993 in der renommierten Vierteljahresschrift der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft die gelegentlich und als Lippenbekenntnis angesprochene "soziale Dimension" des Binnenmarktes als in Wahrheit "soziales Defizit" dieses Vorhabens.
Es war ausgerechnet Oberbayern, von woher Waigels Maastricht-Suaden durch fortgesetzte Zwischenrufe gestört wurden.
Mitte der 1980er Jahre hatte der damals noch kritisch-progressive Sozialverband VdK Bayern jährliche Forumsveranstaltungen in Schloss Tutzing am Starnberger See eingerichtet, bei denen jeweils fundamentale sozialpolitische Themen erörtert wurden. Als Berater für diese Foren hatte der Verband den Direktor der in dieser Serie schon mehrfach erwähnten Studiengruppe für Sozialforschung e.V.gewonnen.
Im Rahmen seiner Tutzinger Foren startete der Sozialverband VdK dann 1989 eine sich über ein Jahrzehnt erstreckende europapolitische Offensive mit unverhohlener Kritik an der Schmalspurigkeit und Sozialdürftigkeit der Bonner Europapolitik.
Im Unterschied zu der in der regierungsamtlichen Europa- und Eurokonzeption mehr oder minder beschwiegenen Notwendigkeit einer flächendeckenden, erreichbaren, bedarfsgerechten und leistungsfähigen Gesundheitsversorgung und einer ausreichenden Sozialsicherung der europäischen Bevölkerungen konfrontierte eines der Tutzinger Europa-Foren die politische Klasse mit dem Thema eines mittlerweile längst bestehenden Weltmarktes für Gesundheitsversorgung und Sozialsicherung.
Vor allem die Verbände der deutschen Krankenkassen wehrten sich damals gegen Konzepte und Programme zum verstärkten "Export" insbesondere von Krankenhausleistungen durch Krankenhausbehandlung von EU-Ausländern und Ausländern überhaupt. Es war nur einschlägigen Urteilen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) zur Öffnung der Krankenhauswirtschaften der EU-Länder für grenzüberschreitende Behandlungsleistungen zu verdanken, dass die Blockadepolitik der Mehrheit der Kassenoligopole beendet werden musste. Und es war allen voran der Freistaat Bayern, der dafür Sorge trug, dass die Krankenhäuser Erlöse aus der Behandlung ausländischer Privatpatienten nicht mehr an die Krankenkassen abführen mussten.
Unter der Überschrift "Gesundheitsstandort Bayern" erteilte das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit dem "schwäbischen Hausmann" Waigel schallende Nachhilfe darin, dass die Gesundheitswirtschaft längst zu einem bedeutenden Wirtschaftsbereich geworden war.1 Das sehbehinderte Ignorieren von Gesundheitsversorgung und Sozialsicherung als förderliche Bereiche des europäischen und internationalen Wettbewerbs ließ das Waigelsche "Maastricht"-Konzept als Missgeburt offenkundig werden.
Der als Foren-Berater wirkende Direktor der Studiengruppe für Sozialforschung e.V. formulierte den Kardinalfehler einer reinen "Stabilitäts-EU" in seinem Beitrag zum 1998er Europa-Forum in Schloss Tutzing wie folgt: "Globales Wirtschaftswachstum durch Gesundheitsversorgung und Sozialsicherung - die Zukunftsmärkte liegen dort, wo heute noch die Sparpolitik überwiegt."2 Der aktuelle, inzwischen wütende internationale Konkurrenzkampf um die Alterssicherungssysteme und die Kampagne in Deutschland gegen die wohnortnahen Non-Profit-Krankenhäuser3 bestätigen die Richtigkeit dieser vor über zwei Jahrzehnten gestellten Diagnose.
"Gesundheitsregion Alpen" als ein Gegenkonzept zum EU-Zentralismus
Schon in seinem Tagungsbeitrag zum ersten Tutzinger Europa-Forum im Jahre 1989 kritisierte der Bayerische Staatsminister für Arbeit und Sozialordnung, Gebhard Glück, dass die EU-Kommission den Bereich der sozialen Sicherheit "aufschieben", aber nicht lösen würde. Deutlich sprach sich der Minister gegen "soziales Dumping" und für eine "Bewahrung der sozialen Errungenschaften" aus - er vertrat also genau solche Anliegen, die durch Waigels Stabilitätsdogmatismus gefährdet wurden.
Gebhard Glück erkannte in seinem Tagungsbeitrag richtig, dass die deutlich schwache Ausprägung der "Sozialen Dimension" der EU durch das Überwiegen zentralistischer Strukturen, Prozesse und Politikkulturen in der EU bedingt sei. Nach seiner Auffassung liege daher ein "Europäischer Föderalismus" insbesondere im Interesse der Sozial- und Gesundheitspolitik in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion.4
Die Studiengruppe für Sozialforschung e. V. war seit Anfang der 1970er Jahre mit Beratungsprogrammen zur Gesundheitsversorgung peripherer Kommunen und zur Erhaltung und Weiterentwicklung dezentraler Krankenhausstandorte, aber auch zur Beibehaltung der regionalen autonomen Krankenkassen befasst. Sie sah in der kommenden EU die Chance, durch auch grenzüberschreitende Koordination und Kooperation vor allem im Bereich der Akutkrankenhäuser und Rehakliniken eine Gegenposition zu den mittlerweile geschaffenen Krankenkassen-Oligopolen in Deutschland bzw. Gesundheits- und Sozialbürokratien in den europäischen Nachbarländern aufzubauen.
Auch grenzüberschreitende "Gesundheitsregionen" sollten dabei das räumliche Grundmuster für die Aufrechterhaltung bzw. die Durchsetzung einer bevölkerungsnahen, leistungsfähigen und wirtschaftlich möglichst unabhängigen Gesundheitsversorgung in Europa sein.
Als erstes bot sich hier eine Kooperation zwischen den Krankenhäusern und Kliniken in Süddeutschland und den Krankenhäusern und Kliniken in Oberitalien an. Dabei sollten die Hoch- und Überkapazitäten der stationären Versorgung in Süddeutschland zum Ausgleich der teilweisen Mangelzustände der stationären Versorgung zunächst in den Autonomen Provinzen Bolzano-Alto Adige und Trentino genutzt werden.
Das Institut veranstaltete zur Initiierung dieses Vorhabens in Riva am Gardasee in den Jahren 1998 und 2000 zwei gut besuchte Fachkonferenzen zu einer italienisch-deutschen Krankenhauszusammenarbeit. Referenten diese Konferenzen waren u.a. hohe Beamte der Bayerischen Staatsregierung einerseits und der Italienprovinzen Bolzano-Alto Adige und Trentino andererseits. Die Ergebnisse der Konferenzen wurden unter dem Titel "Gesundheitsregion Alpen" vom Institut veröffentlicht.5
Um die "Gesundheitsregion Alpen" auch für die Gesundheitswirtschaft in anderen als den süddeutschen Bundesländern bzw. in anderen als den genannten oberitalienischen Provinzen attraktiv zu machen, wurden ein Vorsorge- und Behandlungsangebot zum Kernangebot der "Gesundheitsregion Alpen" gemacht, das damals zunächst nur in Großbritannien und in Österreich, aber in keiner Weise in Deutschland und Italien ein Thema war: Der Aufbau eines spezifisch auf die Gesundheitsbedürfnisse und Erkrankungsbesonderheiten der Männerbevölkerung ausgerichteten Vorsorge- und Behandlungsangebotes, eines neuen Fachgebietes "Andrologie - Männerheilkunde" ,vergleichbar der Gynäkologie - Frauenheilkunde. Auch hierzu veranstaltete die Studiengruppe für Sozialforschung e.V. 1999 eine viel beachtete Fachkonferez in Riva am Gardasee.6
Aus diesen Ansätzen entwickelten sich dann in den folgenden fünfzehn Jahren eine Vielzahl von italienisch-deutschen Gemeinschaftsvorhaben, die italienische oder deutsche Auftraggeber hatten. Unter anderem wurde auf der Grundlage einer Auftrages der Provinz Bolzano-Alto Adige ein Atlas zur Gesundheitlichen Lage der Männer und Frauen in den Regionen Italiens erstellt.7
Derzeit wird bei der EU-Kommission ein von der Regierung von Bolzano-Alto Adige finanziertes Projekt zur Entwicklung einer spezifischen autobahnnahen Infrastruktur zur gesundheitlichen Betreuung und Versorgung der weiter wachsenden Zahl von Lkw-Fahrern auf den europäischen Autobahnen erörtert. Das Konzept war von der Studiengruppe für Sozialforschung e.V. als ein weiteres Kernangebot der "Gesundheitsregion Alpen" entwickelt worden.8 Das Institut betrieb in dieser Zeit auch ein Europabüro am Gardasee.