Klug und voller Fleischeslust
Er verließ diese Welt vor 25.000 Jahren und steckt doch bis heute voller Überraschungen. Der Neandertaler war nicht dümmer als unsereins, und er stand überhaupt nicht auf Fisch!
Obwohl er uns kein Porträt hinterlassen hat, wissen wir, dass der europäische Ureinwohner kleiner und kräftiger gebaut war als wir; er hatte dicke Augenwülste, eine große Nase und ein fliehendes Kinn. Mit seinen kräftigen Zähnen kaute er vor allem Fleisch und seine technischen Fertigkeiten waren genau so gut wie des Homo sapiens, der ihn überlebte.
Die versteinerten Knochen des Homo neanderthalensis wurden 1856 erstmals im Neandertal bei Mettmann aus dem Boden geborgen. Lange galt dieser vor 25.000-30.000 Jahren ausgestorbene Mensch als eine Art primitiver und grausamer Halbaffe, ein gebückt gehender, stark behaarter und wilder Mann, der nur Grunzlaute ausstieß, keine Kultur besaß und Keule schwingend das Land durchstreifte. Ein Bild, das inzwischen völlig revidiert wurde: Neues vom wilden Mann.
Dennoch bleibt das Rätsel, warum er ausstarb und unsere Vorfahren – die neu in Europa zugewanderte Art des Menschen – überlebten. Es ist unwahrscheinlich, dass ein großer Krieg stattfand, denn mindestens 10.000 Jahre lebten die beiden Menschenarten, die sich in vielem sehr ähnlich waren, parallel auf diesem Kontinent. Und der war so dünn besiedelt, dass sie sich wahrscheinlich nicht oft begegnet sind.
Am Ende verschwand der Neandertaler, der sich tief in den Südwesten zurückgezogen hatte (vgl. Letzte Zuflucht Gibraltar), und in uns findet sich keinerlei genetische Spur von ihm (siehe Neandertaler in der Sackgasse).
Experimentelle Archäologie: Drei Jahre lang Feuersteinklingen zurecht klopfen
Die experimentelle Archäologie ist eine spannende Fachrichtung. Wissenschaftler leben selbst nach, wie die Menschen längst vergangener Zeiten ihre Werkzeuge verwendeten, Feuer machten, ihre Kleidung oder Keramik herstellten. Sie rekonstruieren ganz praktisch den Alltag, z.B. der Steinzeit (vgl. Experimentelle Archäologie mit Lothar Breinl).
Ein britisch-amerikanisches Forscherteam hat sich nun eingehend mit der Feuerstein-Bearbeitung des Neandertalers beschäftigt und kommt zu dem Schluss, dass sie in nichts der des modernen Menschen unterlegen werden. Unser Onkel, der ohne eigenen Nachkommen verstarb, war genauso geschickt und clever wie unsere Urväter.
Metin Eren von der University of Exeter und Kollegen von der Southern Methodist University, der Texas State University und der Think Computer Corporation veröffentlichten ihre Ergebnisse im Journal of Human Evolution. Drei Jahre lang klopften die Forscher sich Feuersteinklingen zurecht und nutzten sie ausgiebig – sowohl solche, die denen des Neandertalers ähnelten, als auch Modelle, wie Homo sapiens sie nutzte.
Letztere waren schmaler und sahen eleganter aus, aber boten sie auch reale Vorteile über ihre Schönheit hinaus? Es erwies sich bei den praktischen Versuchen, dass die Werkzeuge des Ureinwohners genauso effizient wie die des Zuwanderers waren, und in mancher Hinsicht sogar ein wenig effizienter. Untersucht wurden die Anzahl der produzierten Schneidewerkzeuge, der dabei entstehende Abfall und die Schärfe sowie die Haltbarkeit der Klingen.
Das ist ein klarer Beweis für die Intelligenz des Homo neanderthalensis, ein weiterer Beleg, dass er unseren direkten Vorfahren nicht so hoffnungslos unterlegen war, wie lange angenommen. Zumindest nicht in den Techniken, die er für sein Überleben nutzte.
"Wir müssen aufhören, sie als "dumm" oder "weniger entwickelt" zu betrachten"
Vergangene Studien hatten bereits belegt, dass der Neandertaler ein hervorragender Jäger war, und dass es ihm auch nicht an der Fähigkeit mangelte, sich sprachlich auszudrücken (vgl. Stimme der Neandertaler simuliert). Neue Funde aus Deutschland beweisen nun darüber hinaus, dass der entfernte, steinzeitliche Cousin wahrscheinlich Hütten baute oder stabile Zelte errichtete, und nicht nur in Höhlen lebte.
Er war also nicht so blöd, wie lange angenommen – und der unterstellte Mangel an Intelligenz ist nicht der Grund, warum er aus der Geschichte abtrat. Metin Eren erklärt:
Unsere Forschung stellt einen Hauptpfeiler der lange gehegten Annahme in Frage, dass der Homo sapiens dem Neandertaler überlegen war. Es ist für die Archäologen an der Zeit, nach neuen Gründen zu suchen, warum der Neandertaler ausstarb während unsere Vorfahren überlebten. Technisch gesehen gibt es keine klare Überlegenheit einer Werkzeugform über die andere. Wenn wir an Neandertaler denken, müssen wir aufhören, sie als "dumm" oder "weniger entwickelt" zu betrachten – sondern mehr im Sinn von "anders".
Kein Fisch auf dem Tisch
Der Neandertaler ernährte sich vor allem von Fleisch, das ist schon geraume Zeit bekannt. Anhand von Analysen der Knochensubstanz zeigte sich, dass er sich zu 90 Prozent von tierischer Kost ernährte, er war ein sehr erfolgreicher Jäger und verspeiste Mammuts, Riesenhirsche und Wollnashörner, aber auch Hasen und andere kleine Säugetiere. Pflanzliche Kost spielte bei ihm nur eine sehr untergeordnete Rolle. In seinem Ernährungsverhalten erinnerte er die Experten immer wieder eher an einen Wolf, als an einen modernen Menschen.
Jetzt nahmen sich Michael Richards vom Max Planck Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und Ralf Schmitz von der Universität Tübingen erneut die Knochen des 1856 entdeckten „Ur-Neandertalers“ vor. Dass er sich intensiv der Lust am Fleischverzehr widmete, war bereits bekannt. Auf Beeren, Samen und Knollen war er offensichtlich alles andere als scharf – aber wie war das mit Fisch? Schließlich lebte er im Neandertal, in dessen Mitte das Flüsschen Düssel fließt.
Er hätte sich nur bedienen müssen, das Jagdwerkzeug dafür stand ihm zur Verfügung. Aber er verzichtete auf diese Bereicherung seines Speiseeplans, wie die beiden Forscher anhand der Untersuchung von Isotopen in den uralten Knochen beweisen konnten. Sie veröffentlichten ihre Analyse im Fachjournal Antiquity.
Der Homo sapiens war dagegen schon in der Vorzeit kein Kostverächter, er aß, was auf den Tisch kam, neben Pflanzen auch gerne hin und wieder Fisch. Was die Fähigkeit angeht, Werkzeuge herzustellen, zu sprechen oder Großwild zu jagen, war der Neandertaler ihm nicht unterlegen. Aber vielleicht war es die Mischung aus Flexibilität und sozialer Überlegenheit durch die ständige Kommunikation untereinander in größeren Gruppen, die am Ende unseren Vorfahren das Überleben sicherte.