Knallt es genau zum Jahrestag wieder?

Zur "Unterschichtsrevolte" in Frankreich

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"Alles Gute zum Geburtstag, liebe Riots...!" Genau ein Jahr nach dem Ausbruch der Unruhen in den französischen Trabantenstädten, die am Abend des 27. Oktober 2005 in Clichy-sous-Bois ihren Anfang nahmen, beherrscht eine angespannte Erwartung die französischen Medien. Wird es zum ersten Jahrestag, pünktlich, wieder losgehen? Am Ende könnten sie das Ereignis herbeischreiben oder durch äußerst geballtes Auftreten von Fernsehkameras herbeisuggerieren.

Bild: Lucio Auri

Abseits des Medienhypes allerdings bleibt auch richtig, was die Renseignements Généraux (RG), die eine für Staatsschutz und politische Entwicklung zuständige Abteilung der Polizei bilden und sehr entfernt den deutschen Verfassungsschutzbehörden ähneln, in einem Bericht vom 11. Oktober dieses Jahres feststellen. Darin heißt es:

Der Großteil der Bedingungen, die vor einem Jahr einen Ausbruch kollektiver Gewalt auf einem bedeutenden Teil des Staatsgebiets ausgelöst haben, ist nach wie vor beisammen.

"Wir schenken Euch ein Auto zum Abfackeln...."

Knallt es genau zum Jahrstag wieder? Einige Medienvertreter hätten es wohl gar zu gern, würde es genau so eintreten. Würde ihnen der Ablauf einer solchen angekündigten und erwarteten Revolte doch erlauben, von der ersten Minute an live dabei zu sein.

Die linksliberale Satirezeitung Charlie Hebdo zeichnet in ihrer Ausgabe von diesem Mittwoch entsprechende Szenen. In einer Karikatur sieht man ein dreiköpfiges Kamerateam, das sich an spielende Kinder offenbar migrantischer Herkunft vor den typischen Hochhauskulissen -- wie sie in bestimmten Banlieues, aber nicht in allen Banlieues vorherrschen -- wendet. Und zwar mit den Worten:

Wir schenken Euch ein Auto zum Abfackeln. Wenn Ihr uns versprecht, es vor den 20 Uhr-Nachrichten zu machen!

In einer anderen Zeichnung sieht man ein großes Baustellenschild am Straßenrand, vor einer Silhouette von Plattenbauten, das folgende Aufschrift trägt:

Hier entsteht demnächst: Die Krawallnacht. Großes pyrotechnisches Spektakel. Unter Teilnahme der Chöre des Innenministeriums. Flambierte Autos - Tränengas - Molotowcocktails. Unsicherheit garantiert ab 24 Uhr, Eintritt kostenlos.

Fiebrige Erwartung

Vergangene Woche in Clichy-sous-Bois (10 Kilomter nordöstlich von Paris): Es fällt schon schwer, nicht auf die Medienvertreter zu stoßen. Zum Beispiel hier, am Eingang des "Espace 93". Der Veranstaltungsraum beherbergt gerade eine von Einwohnern organisierte Fotoausstellung, die ein Stück Realität des Bezirks Nummer 93 abbilden soll.

Dieser Bezirk ist das Département Seine-Saint-Denis, das die nördlich und östlich von Paris liegenden Vorstädte umfasst und frankreichweit mit die höchsten Armutsraten, Arbeitslosenanteile, Immigrantenanteile und die niedrigste Ärztepräsenz (8,8 pro 10.000 Einwohner) aufweist. Der Titel der Ausstellung lautet "Clichy sans Cliché ", also die Stadt ohne Klischees. Sie zeigt ein Stück Lebensrealität der Vorstadt, die in den Augen der Bewohner der bürgerlichen Kernstädte nichts als ein verrufenes Ghetto darstellt.

Die in Wirklichkeit aber sehr weit entfernt davon ist, Zustände wie in der Bronx zu kennen, wie ein US-amerikanischer Fotograph ausdrücklich notiert hat, dessen Bilder einen Teil der Ausstellung ausmachen. Tote durch Gewalteinwirkung, Alltag in den Schwarzenghettos US-amerikanischer Großstädte (wo Schusswaffen legal zirkulieren und ihr Einsatz die erste Todesursache für männliche erwachsene Schwarze unter 40 bildet), hat es etwa in Clichy-sous-Bois nicht gegeben. Und sie bleiben generell in den französischen Banlieues eine schreckliche, aber wirklich seltene Ausnahme.

Man sieht fröhliche Schulkinder, Luftaufnahmen von Hochhausvierteln, Portraitfotos von Einwohnern mit Aufnahmen aus ihrer Wohnung und handgeschriebene Kommentare, aus denen man über die wirklichen sozialen Probleme ungleich mehr erfährt als aus den meisten Fernsehberichten. Dazwischen immer wieder Schulklassen, die die Ausstellung besuchen.

Clichy ohne Klischees. Auf der Suche nach Klischees scheinen unterdessen eine Menge Leute zu sein: Mal eben auf einen Sprung nach Clichy-sous-Bois fahren und die Reportage des Monats eintüten. Meine Gesprächspartner, zu denen ich in den letzten sechs Monaten allmählich Kontakte aufgebaut habe, zeigen sich zur Hälfte befremdet und zur Hälfte versucht, vielleicht doch noch eine Message platzieren zu können. Drei Leute mit dicker Kamera und US-amerikanischem Akzent kommen mir am Eingang der Ausstellung entgegen und löchern den freundlichen Herrn am Empfang mit Fragen. Ich gehe nach draußen und setze mich auf eine Bank.

Prompt baut sich zehn Meter daneben ein Kamerateam auf und befragt einen jungen Schwarzen, der eine verkehrt herum aufgesetzte Baseballkappe mit der Aufschrift "New York "trägt. Ein paar hundert Meter weiter betrete ich einen Imbiss und platziere mich unauffällig an einen Tisch, um zu speisen. Nach ein paar Minuten kommen Leute mit einer dicken Kamera unter dem Arm herein. "Die werden noch so lange rummachen, bis es wieder knallt wie im letzten Jahr, nur weil es sie offensichtlich interessant macht", meint der Mann vom Imbiss, mit dem ich auf Türkisch zu diskutieren begonnen hatte.

Sollte es also tatsächlich genau an dem Ort und an dem Tag, wo sich die Kamerateams aus aller Welt drängeln und sich im Moment gegenseitig die Füße platt treten, zu spektakulären Ereignissen kommen - man müsste davon ausgehen, dass das Medienspektakel sie selbst produziert hat. Dessen ungeachtet trifft es zu, dass die französischen Trabantenstädte sich nicht "beruhigt "haben. Es nähme auch Wunder, nachdem die gesellschaftlichen Ursachen dafür, dass es im vergangenen Jahr so weit kommen konnte, offenkundig nicht beseitigt worden sind.

Polizeieinsatz als Spektakel

Vor kurzem hat der französische Innenminister und erklärte konservative Präsidentschaftskandidat für die Wahl im April, Nicolas Sarkozy, nunmehr die Presse ermahnt, "aufzuhören, die Dinge anzuheizen. All der mediale Aufruhr rund um diesen Pseudo-Jahrestag hat überhaupt keinen Sinn". Nicht zu Unrecht merkte die sozialdemokratische Tageszeitung 'Libération' am Dienstag zu dieser Aufforderung oder diesem Vorwurf an:

Wenn es von jemandem kommt, der selbst die Fernsehkameras zu seinen Großdurchsuchungs-Spektakeln einlädt, dann wirkt das Argument zutiefst komisch.

In den letzten 6 Wochen kam es in mehreren französischen Trabantenstädten zu groß angelegten Polizeieinsätzen, die regelmäßig mit vorausgegangenen Angriffen auf Beamte gerechtfertigt wurden. Bei den beiden wichtigsten Großaufgeboten dieser Art, am 25. September in der Hochhaussiedlung Les Tarterêts in Corbeil-Essonnes (rund 20 Kilometer südlich von Paris) und am 4. Oktober in Les Mureaux westlich der Hauptstadt, hatte das Innenministerium zuvor rund 30 überregionale Medien eingeschaltet. Deren Repräsentanten waren um 6 Uhr morgens live dabei, als Wohnungstüren eingetreten oder mit Rammböcken aus Gusseisen aufgestoßen, zahlreiche Leute aus den Betten gescheucht und einige Verdächtige festgenommen oder aber vergeblich gesucht wurden.

Die Rede war dabei von "Hinterhalten" gegen die Polizeikräfte, bei denen es zuvor zu Gewalttaten gegen Beamte gekommen sei. Tatsächlich waren am 19. September, bei tätlichen Auseinandersetzungen in der Siedlung Les Tarterêts zwischen Polizeikräften und Jugendlichen, zwei Beamte der Bereitschaftspolizei CRS attackiert worden. Der CRS-Hauptmann Ludovic Aubriot wurde am Kopf verletzt und musste stationär behandelt werden. Am 1. Oktober ereignete sich ein erneuter Zwischenfall in der Siedlung Quartier des Musiciens in der Trabantenstadt Les Mureaux.

Offizielle Version steht in Frage

Allein über dessen Ausmaß variieren die Informationen allerdings bereits erheblich. Die daran beteiligten Polizisten behaupteten zunächst, von einer Menge von "150 bis 250 Personen" angegriffen worden zu sein. Im Nachhinein ergibt sich allerdings aus Zeugenaussagen ein anderes Bild und auch ein per Handy gedrehter Videofilm tauchte auf.

Demnach waren nur 20 Jugendliche beteiligt, und auch die Verantwortung für die Zwischenfälle scheint durchaus nicht allein bei ihnen zu liegen, sondern vielmehr zu erheblichen Teilen bei der Polizei selbst angesiedelt. Ein Journalist von Libération, der das Handy-Video ansehen konnte, berichtet in der Ausgabe vom 5. Oktober:

"Du willst sehen, was passiert ist?" fragt ein Junge, der den Bildschirm seines Handys herzeigt. Der Film zeigt ein Auto, das ein ihm entgegen kommendes Polizeifahrzeug streift. Der Fahrer wird, am Boden liegend, von Beamten geschlagen. Auseinandersetzungen brechen (darum herum) aus.

"Er war ein Drogenabhängiger, die keufs (Polizisten im Jugendjargon der Banlieues) kannten ihn sehr gut, und sie hätten ihn in aller Ruhe am nächsten Tag festnehmen können. Sie haben begonnen, ihn zusammenzuschlagen. Ein Jugendlicher ist hingegangen, um sie zu beruhigen. Er wurde mit Tränengas besprüht. Danach sind die Dinge aus dem Ruder gelaufen", erzählt Vincent, der mit seinen Kumpels am Fuße eines Hochhauses sitzt.
Sie betrachten zum wiederholten Male die Bilder der Polizisten, die an Bord eines zweiten Wagens (Anm: nicht des beschädigten) fliehen und ihre drei Kollegen, die noch vor Ort sind, im Stich lassen. "Sie haben Panik bekommen. Sie hatten Angst um ihr Leben."

Sie erzählen, wie "Pioupiou", ihr Kumpel, "einen anständigen Polizisten, den er kannte", beschützt hat und ihm hinter den Zaun des Kindergartens Jacques Prévert eine Zuflucht verschafft hat. Pioupou wird heute polizeilich gesucht. Seine Wohnung ist durchsucht, seine Frau vorgeladen worden. "Ich dachte, das sie ihn auszeichnen werden", empört sich Mohammed Hocine, der in einer Bürgeriniative aktiv ist. "Hinterher wird niemand mehr einem Beamten zu Hilfe kommen."

Der Großeinsatz von Les Mureaux hat übrigens nicht viel erbracht. Rund 100 Wohnungen wurden unter Einsatz von Prellböcken aufgebrochen, auf der Suche nach insgesamt fünf "Verdächtigen". Aber nur eine Person konnte festgenommen werden, und nach dem Stand der Ermittlungen scheint sie zudem nichts mit den Zwischenfällen vom 1. Oktober zu tun zu haben.

Der sozialdemokratischen Libération fällt es umso leichter, kritische Informationen zu veröffentlichen, die den offiziellen Ablauf der Ereignisse in Frage stellen, als die Zeitung dadurch ohnehin nichts zu verlieren hat. Über einen privilegierten Zugang zu Informationen (aus offizieller Sicht) und damit in Prime-time, wie er manchen anderen Medien gewährt wird, die dadurch -- um ihn zu bewahren -- zu einer konzilianten Haltung motiviert werden, verfügt die Redaktion nämlich nicht.

Denn Sarkozy hat nicht nur aus den von ihm angeordneten Polizeieinsätzen vorab ein Medienspektakel bereitet; sondern er filtert zusätzlich noch die Presseorgane, denen er vorab Mitteilungen über bevorstehende Ereignisse zukommen lässt. Rund 30 Medien waren im Morgendunkel der Einsätze vom 25. September und 4. Oktober dabei. Aber Libération war in keinem der beiden Fälle benachrichtigt worden, im Gegensatz etwa zu Boulevardzeitungen wie Le Parisien, anderen Printmedien oder dem Fernsehen.

Offenkundig sollen möglichst wenige Einzelheiten von den Einsätzen, die die offizielle Darstellung der Geschehnisse zumindest relativieren oder gar zu Kritik Anlass bieten könnten, nach außen dringen.

Allerdings hat das offenkundige Fiasko des Einsatzes von Les Mureaux inzwischen zu heftigen selbstkritischen Debatten in den Medien bis hinein in die Fernsehsender Anlass gegeben. Viele Medienschaffende stellen ihre "Instrumentalisierung" zu Zwecken der Showpolitik von Innenminister Sarkozy in Frage. Der Personalrat beim Radiosender Franc Inter schlägt eine ethische Selbstverpflichtung vor. Ihr zufolge solle Journalisten im Falle, dass sie live von solch einem Einsatz berichten, ihren Zuhörern stets auch Informationen über die Umstände ihrer Arbeit -- die Dichte der sonstigen Medienpräsenz, die Anzahl der eingesetzten Beamten, die Vorabinformation aus dem Staatsapparat -- mitteilen müssen.

Die Pose jener Journalisten, die aus einem größeren Pulk heraus filmen und gleichzeitig den Eindruck zu vermitteln versuchen, sie befänden sich todesmutig an vorderster Front in einem Kriegsgebiet, soll künftig etwas schwerer fallen.

Polizeitaktik provoziert oftmals Zusammenstöße

Auch zu den Zusammenstößen von Les Tarterêts, bei denen tatsächlich erhebliche Gewalt gegen den verletzten CRS-Hauptmann ausgeübt worden ist, stellen sich die Ereignisse im Nachhinein anders dar als zunächt vom Innenministerium präsentiert.

Dort war die offizielle These vom bandenmäßig organisierten Angriff darauf gestützt worden, dass in der Nähe des Orts der Auseinandersetzungen mit der Polizei Pizzareste gefunden worden waren. Also, so lautete die Vermutung, hätten die Jugendlichen auf die Beamten in einem Hinterhalt gewartet. DNA-Tests ergaben jedoch, dass die Speisen gar nicht durch die Beteiligten verzehrt worden waren. Vielmehr geht aus den Testergebnissen hervor, dass die DNA-Träger zwei Pizzaesser waren, die inzwischen auch durch die Polizei und durch die Justiz als an den Zusammenstößen völlig unbeteiligt bezeichnet werden.

Tatsächlich zugetragen hat sich allem Anschein nach eher folgendes: Ein Einsatzfahrzeug der CRS war von "zwei oder drei Individuen ", so der Ergebnisbericht des Untersuchungsverfahrens, mit Kieselsteinen (cailloux: Kieselsteine, nicht Steine) beworfen worden. Daraufhin stiegen zwei Bereitschaftspolizisten aus, um die Verfolgung der Kieselsteinattentäter aufzunehmen. Dabei trafen sie auf eine größere Gruppe von Jugendlichen, die aber nicht auf sie warteten, sondern am Fußballspielen waren und durch ihre Ankunft überrascht worden.

Der Zusammenstoß bahnte sich an; wohl auch deshalb, weil die jugendlichen Bewohner dieser Trabantenstädten mit Uniformträgern, solange diese in der Überzahl sind, regelmäßig negative Erfahrungen machen. Was nicht ausschließt, dass auch die dort eingesetzten Polizisten sich häufig deshalb aggressiv verhalten, weil sie verunsichert sind und Angst haben. Werden doch häufig Berufsanfänger, die direkt von den Polizeischulen kommen, in Gegenden eingesetzt, von denen sie keine Ahnung haben und die ihnen als besonders verrufen präsentiert werden.

Inzwischen wurden noch andere Zwischenfälle ähnlicher Natur aus den letzten Wochen bekannt, deren Häufung die Presse im allgemeinen schreiben lässt, dass die Spannungen in den Trabantenstädten und sozialen Brennpunkten zunehmen. Am 13. Oktober kam es zu einem gewalttätigen Übergriff einer Gruppe junger Männer auf einen Polizisten in Epinay-sur-Seine, das nordwestlich von Paris liegt. Er steht offenbar im Zusammenhang mit der Verhaftung eines 19jährigen Kleindealers eine Woche zuvor, die von dessen Milieu "gerächt "werden sollte.

Das letzte Ereignis dieser Art spielte sich am vorigen Sonntag in der Siedlung La Grande-Borne ab. Diese befindet sich in Grigny, rund 15 Kilometer Luftlinie südlich der Pariser Stadtgrenze (manche Zeitungen schreiben kurioserweise, die Stadt sei 30 Kilometer von Paris entfernt). Jugendliche und junge Erwachsene lieferten sich Auseinandersetzungen mit Polizeikräften, die sie einen Teil des Sonntagnachmittags über mit Wurfgeschossen attackierten. Dabei gingen auch ein Bus, dessen Passagiere die Beteiligten vorher hatten aussteigen lassen, sowie drei Privatfahrzeuge in Flammen auf. Vor allem die Bilder des ausgebrannten Busses machten in den Medien die Runde.

Voraus ging folgendes: Am vorigen Samstag Abend stürmten und umstellten größere CRS-Einheiten einen Teesalon, La Chicha (Die Wasserpfeife), in Grigny. Wie der Name andeutet, wird dieser vorwiegend von nordafrikanischen Immigranten aufgesucht. Der Teesalon war vor einem Jahr von zwei jungen Männern, den 23- und 17jährigen Brüdern Fatihi, eröffnet worden. Mit finanzieller Hilfe ihres Vaters, der ihnen Arbeitslosigkeit und die Versuchung, "auf dumme Ideen zu kommen", ersparen wollte.

"Virez-moi tout ça du café"

Der Erfolg der Jugendlichen aus einer Immigrantenfamilie war bei manchen Beamten allem Anschein nach nicht gern gesehen. Die Kontrollen ihrer Gewerbescheine häuften sich, so dass die Familie zwei mal eine Kopie davon direkt beim Kommissariat von Grigy hinterlegte. An diesem Samstag abend kam es erneut zu einer Kontrolle - dieses Mal angeführt von Beamten, die nicht aus Grigny selbst kamen, sondern aus der Nachbarstadt Juvisy. Der junge Geschäftsführer griff zum Telefon, um das Kommissariat zu kontaktieren, wurde jedoch durch einen Beamten daran gehindert. Ein junger Mann stellte sich dazwischen und wurde von einem Bereitschaftspolizisten geschubst, der jenen daraufhin seinerseits schubste.

Als daraufhin ein Jugendlicher die Szene mit seinem Handy zu filmen versuchte, erteilte der Einsatzleiter laut Augenzeugen, die in Libération zitiert werden, seinen Untergebenen eine Anordnung mit den Worten : "Virez-moi tout ça du café" ("Schmeißt mir all das aus dem Kaffee raus ", das Neutrum benutzend).

Im weiteren Verlauf der Ereignisse explodierte eine Tränengasgranate inmitten der zum Teil älteren Männer, die auf dem Vorplatz des Teesalons saßen. Daraufhin wurde der Platz großflächig durch Polizeieinheiten umstellt. In der Folge schworen die Jugendlichen der Siedlung Rache, "weil man sich an unseren Vätern vergriffen hat".

Rückblick auf die Ereignisse von Clichy-sous-Bois

Ähnliche Erfahrungen machen zahlreiche Bewohner der sozialen Brennpunkte in den Trabantenstädten häufig. Deshalb auch konnten sich die Unruhen im vergangenen Herbst, kurz nachdem die Nachricht von zwei Todesfällen aus Clichy-sous-Bois die Runde gemacht hatte, ähnlich einem Lauffeuer auf Vorstädte und (ehemalige) Arbeiterviertel auf fast dem gesamten Staatsgebiet ausbreiten. Gar zu viele junge Bewohner französische Banlieues schienen sich in den Ereignissen wieder zu erkennen.

Was war noch mal passiert, damals in Clichy-sous-Bois? Am Nachmittag jenes Donnerstag, 27. Oktober 2005 gegen 17 Uhr nahm das Verhängnis auf einem Fußballplatz an der Grenze zwischen Livry-Gargan und Clichy-sous-Bois seinen Ausgang. Dort ging eine Gruppe von Jugendlichen auf den Nachhauseweg. Nichts lag gegen sie vor.

Dann tauchte die BAC (Brigade Anti-Criminalité) auf, ein Sondereinsatzkommando der Polizei, und wollte eine Personenkontrolle vornehmen. Die BAC nahm die Verfolgung auf. Drei der Jugendlichen waren so erschreckt, dass sie in einem elektrischen Umspannhäuschen Zuflucht nahmen. Ihr Versteck sollte ihnen zum tödlichen Verhängnis werden. Die Polizisten wussten, dass ihnen Gefahr drohe, so klagen die Anwälte ihrer Familien - Jean-Paul Mignard und Emmanuel Tordjman - an, die in diesem Jahr ein Buch zur "Affaire Clichy "herausgegeben haben. Sie unternahmen nichts, es war ihnen egal.

Am Ende starben Bouna Traoré (15) und Zyed Benna (17) an einem Stromschlag, ein dritter erlitt schwere Verbrennungen. Sein Name wurde zuerst in allen Zeitungen mit "Metin" wiedergegeben. Er heißt in Wirklichkeit Mühittin Altun und war damals ebenfalls 17. Die drei widerspiegeln ein Bild der Einwohnerschaft von Clichy-sous-Bois: Die Eltern des einen stammen aus Mali, die des anderen aus Tunesien, jene des dritten aus der Türkei. Und während sie zu fünft gewesen, hätte sich sicherlich auch noch ein Herkunftsfranzose unter ihnen befunden. Denn die französischen Banlieues sind keine "ethnischen Ghettos", sondern solche sozialer Natur. Ausschlaggebend dafür, wer dort wohnt, ist nicht die Abstammung, sondern die Finanzkraft.

Offenkundige Lügen

Aber es waren vor allem auch die offenkundigen Lügen, die hoch- und höchstrangige Staatsvertreter noch Tage nach dem Todeszeitpunkt von Bouna und Zyed öffentlich verbreiteten, die beträchtlich zur Eskalation beitrugen. Die Wochenzeitung Le Canard enchaîné fasst in ihrer aktuellen Ausgabe unter dem Titel "Révisons Clichy "(Gehen wir Clichy noch mal durch) zusammen :

Kinder oder Gangster?

Bouna war nicht polizeibekannt. Zyed war nicht "im Jahr 2005 wegen Raubes aufgefallen", wie (Innenminister) Sarkozy wörtlich behauptete. Nach einem Streit mit einem anderen Jugendlichen um ein Fahrrad hatte sein Vater einen Sozialarbeiter eingeschaltet, der einen positiven Bericht über ihn abgab.

- An jenem Tag kamen sie von einem Einbruch zurück, behauptete (Premierminister) de Villepin. Originalton: "Es handelt sich nach mir vorliegenden Informationen um Einbrecher, die am Werk waren."

Falsch: Sie kamen von einem Fußballspiel zurück, mit ihren Freunden, insgesamt zehn (Jugendliche).

- Es wurde behauptet, dass sie gesehen worden seien, wie sie eine Hütte auf einer Baustelle aufbrachen.

Falsch. Eine Person hat das Kommissariat angerufen und behauptet, es könne sein, dass die Jugendlichen sich an der Hütte auf der Baustelle zu schaffen machen würden. Aber, so der Rechtsanwalt Jean-Paul Mignard, das Ermittlungsverfahren hat ergeben, dass es keinerlei Einbruchsversuch gegeben hat, nicht einmal die kleinste Sachbeschädigung. Die Jugendlichen hatten schlicht und einfach Fußball gespielt.

(Anm. des Verf.: Die fragliche Baustelle liegt auf einem Brachgelände an der Stadtgrenze von Livry-Gargan und Clichy-sous-Bois. Die Jugendlichen durchquerten die paar hundert Meter Brachgelände, weil es sich um den mit Abstand kürzesten Rückweg nach Clichy handelte. Nach ihrem Tod betrachteten sich Reporter von 'Le Parisien' und 'Libération' die angebliche Baustelle. Sie fanden nichts als ein paar Rohre, die an einer Stelle am Boden herumlagen, wo aber seit längerem nicht gearbeitet worden war. Ende der Anm.)

- Warum also sind sie weggelaufen, als die Polizisten ankamen?

Sobald sie eintrafen, nahmen die Polizisten sechs von den Jugendlichen fest. Sie wurden später freigelassen. Die anderen flohen, weil sie minderjährig waren und ihre Papiere nicht bei sich hatten. Sie fürchteten eine Festnahme, auf die mehrere Stunden auf der Wache folgen würden. Dabei kamen sie von einem Fußballspiel, hatten Durst und aufgrund des Ramadan tagsüber nichts gegessen. Es ist ganz einfach: Sie hatten Lust, nach Hause zu kommen.

- Aber niemand hat sie verfolgt! Sarkozy jedenfalls hat am Tag danach auf TF1 (Anm.: dem Fernsehsender mit der höchsten Einschaltquote) behauptet: "Die Polizisten haben diese Jugendlichen nicht verfolgt."

Falsch. Sie wurden durch mindestens vier Mannschaften von Polizisten verfolgt, von denen manche Flashballs (Anm.: Gewehre, aus denen Gummigeschosse verschossen werden und mit denen Sarkozy die Polizei in den Trabantenstädten seit 2002 ausgerüstet hat) trugen. Sie wurden erst in einem Wäldchen (Anm: auf dem Brachgelände) umstellt, dann auf einem Friedhofsgelände, das direkt neben dem Trafohäuschen von EDF (Electricité de France) liegt. Aus diesem Grund sind Bouna, Zyed und Mühittin über den Absperrzaun und dann über die hohe (Anm.: circa 3,50 m hohe) Umfassungsmauer des Umspannhäuschens geklettert, um sich zu verstecken.

- Die Polizisten wussten nichts davon.

Doch, sie wussten es. Aufzeichnung aus dem Polizeifunk von 17.36Uhr: "Die beiden Individuen sind verortet worden und sind dabei, zu überklettern, um auf das EDF-Gelände zu gehen. Man müsste Verstärkung herholen, damit man ein bisschen das Viertel umstellen kann, sie werden wohl wieder rauskommen." Dann, eine Minute später, ein anderer Beamter, der sich der Gefahr wohl bewusst ist: "Gleichzeitig, wenn sie auf dem EDF-Gelände bleiben, dann verwette ich nicht viel auf ihre Haut."

Dem ist nicht mehr viel hinzuzufügen. Gegen 18 Uhr wurde ein örtlicher Stromausfall vermeldet, der zeitlich mit dem Tod der beiden Jugendlichen Bouna und Zyed zusammenfiel. Der dritte erlitt schwere Verbrennungen. Die Polizei hatte nichts unternommen, um die gegenwärtige Gefahr abzustellen, beispielsweise durch einen simplen Telefonanruf bei Electricité de France.

Ferner muss berücksichtigt werden, welche vorausgegangenen Erfahrungen offenkundig das Bild der Polizei in den Köpfen dieser Jugendlichen beeinflusst haben -- aufgrund dessen sie es für dringend angeraten hielten, bei deren Ankunft davon zu laufen.

Polizeigewalt war nur Katalysator

Aber das Wirken der Polizei in Clichy-sous-Bois, und dessen fatale Konsequenzen, waren ihrerseits nur auslösende Momente für die im Anschluss ausbrechenden Riots. Nicht ihre tiefer liegenden Ursachen, die woanders sitzen. Sie müssen in den sozialen Verhältnissen gesucht werden. Also in der Konzentration des Elends der französischen Gesellsschaft in den Trabantenstädten, wohin alle diejenigen aus den kernstädtischen Zonen "abgeschoben" werden, die dort unerwünscht sind und sich vor allem das Wohnen dort unmöglich leisten können.

Man könnte von einer Form der Territorialisierung von Klassenverhältnissen sprechen. Andernorts erfüllt zum Beispiel das (Schwarzen-) Ghetto diese Funktion, das sich aber nochmals deutlich von den Trabantenstädten französischer urbaner Ballungsräume unterscheidet.

In US-amerikanischen Großstädten macht sich die Trennung zwischen "schwarzer" und "weißer" Wohnbevölkerung oftmals ganz unmittelbar an der Hautfarbe fest, und es kommt zur Bildung oftmals weitgehend "ethnisch" homogener Wohnbezirke. Dagegen leben in den französischen Banlieues überall Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft, Hautfarbe und Religion zusammen, die aber eine gemeinsame Situation nach sozialen Kriterien miteinander teilen.

Tatsächlich ist aber der Anteil von Einwanderern oder Franzosen migrantischer Herkunft (vor allem aus dem Maghreb und Westafrika) unter ihnen überdurchschnittlich hoch, aufgrund der Tatsache, dass diese Menschen oftmals auf der untersten Rangstufe der sozialen Hierarchie angesiedelt worden sind. Aber diese Feststellung ist nicht auf alle französischen Regionen zu übertragen.

Im Nord-Pas de Calais (dem Großraum rund um Lille, Tourcoing, Roubaix) etwa ist das Proletariat oder Subproletariat überwiegend weiß. Und dort waren es auch mehrheitlich junge "Weiße", die im Zusammenhang mit den Riots vom vorigen Jahr den Richter vorgeführt worden sind. Die Höchststrafe in ganz Frankreich im Zusammenhang mit diesen Unruhen erhielt ein 20jähriger Zeitarbeiter, Jérémy Van G., aus einem Unterschichtsviertel im nordfranzösischen Arras. Er erhielt 4 Jahre Haft dafür, dass er ein Möbellager in Flammen aufgehen ließ (bei zwölf Millionen Versicherungsschaden). Als Sohn französischer und flämischer Eltern könnte er weißer kaum sein. Der größere Teil des französischen Publikums allerdings dürfte sich die Teilnehmer an den Riots wohl eher ausnahmslos als "arabisch" oder "schwarz" vorstellen.

Ungeheure Zusammenballung von Problemen

Die ungeheure Zusammenballung von Problemen in den Trabantenstädten (sozialer, ökologischer, städtebaulicher Art zuzüglich einer realen Zunahme von Straftaten und Gewalt untereinander, wobei vor Fantasmen in diesem Zusammenhang zu warnen ist) sorgt dafür, dass es dort lebenden Menschen schwer fällt, eine Strategie zu ihrer Überwindung vorzustellen.

Hinzu kommt das politische und gesellschaftliche Vakuum, das der Niedergang der traditionellen französischen Arbeiterbewegung und namentlich der Kommunistischen Partei in den früher meist "rot" regierten Trabantenstädten hinterlassen hat. Früher versprachen diese Akteure eine gewisse Hoffnung auf ein besseres Morgen und eine Strategie dahin, gemäß ihren Vorstellungen von einer Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Zusammen mit den traditionellen Arbeitsformen und Industrien ist auch ihr Einfluss in den Banlieues zurückgegangen. Aber er wurde in der Regel nicht durch eine andere Form kollektiver Perspektiven ersetzt.

Deshalb sucht sich die soziale Frustration oftmals in anderen Formen einen Weg zum Ausbruch. In den letzten 25 Jahren, seit den Unruhen in den Trabantenstädten von Lyon von 1981, war es oftmals der Zyklus von "Polizeigewalt - Riot ohne explizite Forderungen und Strategie - zusätzliche Entsendung von Polizei zur Niederschlagung der Riots - Beruhigung der Lage ohne Veränderungen", der immer wieder von vorne los ging. Nur brachen die Unruhen, für die regelmäßig Erfahrungen mit Polizeigewalt als Auslöser wirkten, in räumlich begrenzten Zonen aus. Sie blieben lokal zersplittert und zeitlich begrenzt. Im vergangenen Herbst aber kam es zum allerersten Mal zu einem ebenso flächendeckenden wie länger (insgesamt drei Wochen) anhaltenden "Aufflammen der Banlieues".

Umdenken?

Kam es seitdem zu einem Umdenken, zu einer Veränderung der Situation? Nein, sagt der bereits oben zitierte Bericht der RG, der politischen Abteilung der französischen Polizei. Hinzu gefügt sei übrigens, dass die Zentraldirektion der Renseignements Généraux (DCRG) in einem Bericht, der im Dezember 2005 breit in der französischen Presse zitiert wurde, die These vom "ethnischen" oder konfessionnellen Charakter, von der "islamischen" Steuerung der Riots dezidiert verworfen hat. In ihrem Rapport werden die Unruhen als "Unterschichtsrevolte" qualifiziert.

Nein, meinen auch die meisten meiner Gesprächspartner in Clichy-sous-Bois. Manche führen als real eingetretene Verbesserung an, dass Clichy nun nicht mehr so völlig abgeschnitten von den öffentlichen Transportmitteln sei wie vor den Unruhen. Die Stadt hat keinen Bahnhof, weder für überregionale Züge noch für Regional- und S-Bahnen. Man muss über die übernächste Nachbarstadt anreisen und dann einen Bus nehmen. Bis zu den Unruhen im Oktober/November 2005 verkehrte sie täglich nur bis 21 Uhr, dann war Schluss. Wer danach noch nach Clichy wollte, musste entweder durch zwei Städte zu Fuß marschieren oder aber ein Taxi nehmen. Das kostete 30 Euro, wenn der Chauffeur überhaupt einverstanden war. Die Tour galt bei manchen Fahrern als verrufen.

Seitdem die Unruhen vorbei sind, verkehrt die Linie 601 jetzt plötzlich bis ein Uhr morgens - obwohl der Bürgermeister von Le Raincy, der ehemalige Städtebau- und Integrationsminister Eric Raoult, strikt gegen den Busverkehr war. Er wollte nicht, dass zu viele potenzielle Unruhestifter aus der ungeliebten Nachbarschaft seine schöne Stadt durchqueren. Auch ein Verständnis von Integration. Nach dem Herbst 2005 konnte er sich damit nicht länger durchsetzen. Mehrere Einwohner geben zu Protokoll, insofern hätten die Riots doch etwas gebracht. Das sei aber auch die einzige positive Veränderung seit "den Ereignissen", die ihnen einfalle.

Die Ereignisse als Ausgangspunkt für einen positiven Prozess nehmen dagegen möchte die Vereinigung AC le feu!, die sich im November 2005 unmittelbar nach den Unruhen gegründet hat. Der Name steht für Association du collectif liberté, égalité, fraternité ensemble et unis (Vereinigung des Kollektivs Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit, zusammen und vereint). Das Kürzel spricht sich zugleich wie "assez le feu ", genug vom Feuer.

Vom März dieses Jahres bis in den Sommer hinein waren die Mitglieder der Vereinigung ununterbrochen quer durch Frankreich unterwegs, besuchten 120 Städte und sammelten rund 20.000 Zeugnisse in einem "Cahier des doléances ". Diesen Namen, ungefähr Beschwerdeheft, trugen in der Geschichte ursprünglich die Forderungen an den König, die 1789 am Ausgangspunkt der bürgerlichen Revolution standen. Aus Besançon, Marseille, Tours oder Nantes kommen die Zeugnisse. Jeder Teilnehmende füllte ein Formular von AC le feu! aus, konnte ein Thema auswählen - etwa Prekarität, Einwanderung, Diskriminierung, Umwelt, "Praktiken der Polizei" - und dazu Festellungen und Forderungen formulieren.

Immer wieder kehren die Forderungen nach dem kommunalen Wahlrecht für alle, die in einer Kommune wohnen und Steuern zahlen - ob mit oder ohne französischen Pass -, nach einem Ende von Diskriminierungen bei der Einstellung oder Wohnungssuche, nach einer die späteren sozialen Rollen nicht so früh festlegenden Schule.

Am Mittwoch Nachmittag dieser Woche, so hatten die Organisatoren angekündigt, wollten sie mit einer Demo durch Paris ziehen und die Forderungen anschließend im französischen Parlament übergeben. Statt einer Demonstration hatte der Umzug allerdings eher den Charakter einer größeren Delegation. An jenem Nachmittag waren wohl 200 bis höchstens 400 Leute unterwegs, darunter die Hälfte, die aus den Pariser Banlieues oder auch aus "sozialen Brennpunkten" in anderen Bezirken angereist waren. Eine zehnköpfige Frauengruppe kam etwa aus den Trabantenstädten von Lyon, eine junge Frau berichtete, sie käme aus einem Unterschichtsviertel im südwestfranzösischen Pau.

Viele von ihnen trugen dickleibige Schnellhefter, die in Plastik eingewickelt waren und jeder die Nummer eines französischen Départements (Verwaltungsbezirks) trugen: Es waren die "Cahiers de doléance ". Die andere Hälfte bestanden aus Angehörigen der Pariser Linken, politisch oder gewerkschaftlich Aktive. Umringt waren alle von einem riesigen Aufgebot an Fernsehteams und Journalisten. Am Ende des Marsches, gegen 17 Uhr, konnten die Forderungshefte tatsächlich an den Senat und an die Nationalversammlung, die beiden Kammern des französischen Parlaments, übergeben werden.

Die Organisatoren legt Wert darauf, in ihrem Auftreten etwa in Gestalt von Transparenten und ihrer Abschlussreden den Akzent stark auf den positiven, staatstragenden Charakter ihrer Initiative zu legen. Die marginalisierten Bewohner der Trabantenstädte und ihre Jugend wurden dazu aufgerufen, sich in die Wählerlisten einzutragen, damit sie künftig nicht mehr länger übergangen werden könnten. Die jungen Teilnehmer, die aus den Banlieues angereist waren, wurden vom Lautsprecherwagen aus aufgefordert, mit ihren Wählerkarten zu wedeln, und ein Transparent affimierte: "Wählen bedeutet existieren". Dies mag durchaus ein Fortschritt sein aus der Sicht von Menschen in einer Trabantenstadt, die bis dahin nicht nur kaum wahrgenommen wurden, sondern die auch selbst keinerlei Bezug zu den "öffentlichen Angelegenheit "hatten.

Kein Glaube mehr an Veränderungen durch bürgerliche Institutionen

Dennoch bleibt ein leichter Nachgeschmack des Unzureichenden zurück: Wenn als alternative Handlungsmöglichkeiten nur das Riot oder das Setzen auf die vorhandenen institutionalisierten Formen der Politik übrigbleiben, dürfte der positive Ansatz rasch steckenbleiben.

Denn auch außerhalb der sozialen Krisenzonen und Trabantenstädten haben viele Menschen aufgehört, noch an tiefgreifende Verbesserungen durch die institutionelle bürgerliche Politik zu glauben. Das aktuelle Auftreten der französischen Sozialdemokraten und ihrer wahrscheinlichen Spitzenfrau für die kommenden Wahlen, Ségolène Royal, erweckt alles andere als den Eindruck, dass man sich von einem Regierungswechsel im kommenden Frühjahr irgendwelche größeren Veränderungen erwarten dürfte.

Über die Rathäuser in Trabantenstädten wie Clichy-sous-Bois (wo der sozialistische Bürgermeister Claude Dilain sich nach Ansicht vieler Einwohner um eine relativ offene Politik bemüht), die den Organisatoren des Marschs Infrastruktur und Material zur Verfügung stellt, und die Schicht dort beschäftigter Animateure und Sozialarbeiter beeinflusst die parlamentarische Oppositionspartei aber notwendig Initiativen wie die vom Mittwoch.

Deren Organisatoren müssten aber längerfristig ein Interesse haben, nach Ansätzen und Wegen irgendwo jenseits von etablierter Politik einerseits und Riots ohne artikulierte Forderungen und Strategie andererseits Ausschau zu halten. Immerhin: Durch ihr Sammeln von Bestandsaufnahmen und Forderungen, durch den Versuch eines Bewusstwerdungsprozesses, durch Kommunikation über die Grenzen der einzelnen Trabantenstädte hinweg haben sie einen wichtigen Anfang gesetzt. Hoffentlich bleibt er nicht irgendwo stecken.