Koalitionsverhandlungen: Wenn 22 Arbeitsgruppen an einer "Enttäuschung" feilen
Ende November soll der Koalitionsvertrag für die "Ampel" in Sack und Tüten sein. Welche Wahlberechtigten sich darin wiederfinden und ob er verfassungskonform wird, ist unklar
Die Koalitionsverhandlungen sind eine schwere Geburt - und schon jetzt ist klar: Für den Geschmack vieler Wahlberechtigter, die einer der "Ampel"-Parteien ihre Stimme gegeben haben, wird es ein hässliches Baby, falls SPD, Grüne und FDP sich überhaupt einig werden. In 22 Arbeitsgruppen wird seit dem heutigen Mittwoch der Koalitionsvertrag geschmiedet, der bis Ende November stehen soll. Öffentliche Verlautbarungen dazu sind zunächst nicht vorgesehen, aber es ist klar, dass sich die Arbeitsgruppen am kürzlich veröffentlichten Sondierungspapier orientieren.
Das Netzwerk Campact, das im Wahlkampf deutliche Sympathien für die Grünen erkennen ließ, spricht deshalb schon jetzt von einer "Ampel-Enttäuschung": Beim Klimaschutz gebe es "vage Absichtserklärungen, klaffende Leerstellen" - und einen "krassen Rückschritt": Die Parteien wollten die Durchsetzung der Klimaziele abschwächen, indem sie nicht mehr für jedes Jahr und jeden einzelnen Bereich wie Landwirtschaft, Energie oder Mobilität definierten. Dabei habe die SPD die strenge Prüfung erst vor zwei Jahren durchgesetzt, erinnert Campact in einer Analyse vom Dienstag. Etwas hilflos ruft die Organisation dazu auf, diese Einschätzung über Mailinglisten und soziale Netzwerke weiterzuverbreiten.
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) ist hingegen schon alarmiert, weil im Sondierungspapier steht, dass der Kohleausstieg "idealerweise" bis 2030 vollzogen sein solle. "Wir brauchen einen vernünftigen Übergangszeitraum bis 2038", sagte Kretschmer am Dienstag laut einem Bericht der Sächsischen Zeitung nach einem Gespräch mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Brüssel. Campact und zahlreichen Umweltgruppen ist "idealerweise" viel zu unverbindlich.
Die Formulierung dürfte nicht zuletzt dem widersprüchlichen Wahlkampf von SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz geschuldet sein, der einerseits einen "sofortigen Neustart" in Sachen Klimaschutz in Aussicht gestellt hatte, dann aber doch an 2038 als Enddatum für die Kohleverstromung festhalten wollte. (Subtext: "Natürlich wasche ich mich, wenn ihr mich wählt. Nein, ich mache mich nicht nass.")
Fest steht: Zentrale Versprechen von SPD und Grünen, die den Aufbau einer klimaneutralen Infrastruktur oder soziale Projekte wie eine Kindergrundsicherung betreffen, sind ohne einen höheren Spitzensteuersatz beziehungsweise eine Vermögenssteuer kaum finanzierbar. Dergleichen soll es aber nicht geben, sonst droht die FDP als kleinerer, aber selbstbewusster Juniorpartner nicht mehr mitzuspielen.
Vorspiegelung von Versprechen
Eine Investitionsoffensive im Umfang von 500 Milliarden Euro zusätzlich innerhalb von zehn Jahren haben die Grünen in ihrem Wahlprogramm versprochen, um eine klimaneutrale Energie- und Verkehrsinfrastruktur sowie flächendeckend "schnelles Internet" in Deutschland zu schaffen.
Versprochen? Moment: Ein Telepolis-Leser schrieb kürzlich an die Autorin, es sei doch klar, dass nur Diktatoren und Alleinherrscher etwas versprechen könnten. "Bei den heutigen Mehrheitsverhältnissen, sei es in Europa, im Bund, in den Ländern oder Kommunen hat keine Partei eine ausreichende Mehrheit, um etwas versprechen zu können. Sie können Ziele formulieren und dann versuchen, dafür Mehrheiten zu bekommen. Demokraten müssen deshalb bereit sein, Kompromisse einzugehen."
Allerdings gibt es für Wahlprogramme keine Kennzeichnungspflicht, was Verhandlungsmasse ist und wo sich die roten Haltelinien befinden. Prozentangaben wie auf den Zutatenlisten verarbeiteter Lebensmittel gibt es dazu schon gar nicht. Die Parteien wollen aber durchaus, dass ihre Wahlkampfaussagen für bare Münze genommen werden. Jedenfalls solange, bis die Stimmzettel in der Urne gelandet und ausgezählt sind. Erst danach berufen sich Parteien auf die Notwendigkeit von Kompromissen. Wer sie beim Wort nimmt, ist am Ende selbst schuld. Klar, um wirklich enttäuscht zu sein, muss man zumindest einer der beteiligten Parteien noch geglaubt haben, was sie versprechen zu können vorgab.
Sowohl beim Klimaschutz als auch in der Sozialpolitik hat in der bundesdeutschen Demokratie aber zumindest theoretisch auch das Bundesverfassungsgericht mitzureden - auch im Namen derjenigen, die bei dieser Wahl noch nicht stimmberechtigt waren. "Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen", heißt es in Artikel 20a des Grundgesetzes. Und auf dieser Grundlage wurde im Frühjahr das deutsche Klimaschutzgesetz in Teilen für rechtswidrig erklärt. Weder die darin genannten Reduktionsziele noch die Maßnahmen zu deren Umsetzung waren ausreichend.
Auch zum menschenwürdigen Existenzminimum, das beim Arbeitslosengeld II und der Grundsicherung im Alter nicht unterschritten werden darf, hat das Bundesverfassungsgericht Aussagen getroffen - in einem Urteil von 2014. Laut einem Gutachten, das die Rechtswissenschaftlerin Anne Lenze im Auftrag des Paritätischen Gesamtverbandes erstellt hat, ist auch die Erhöhung der Regelsätze um nur drei Euro im Monat aufgrund der hohen Inflation verfassungswidrig. "Faktisch ist damit die vermeintliche Fortschreibung eine versteckte Kürzung der Leistungen, die eigentlich das menschenwürdige Existenzminimum garantieren sollen", so der Paritätische am 7. Oktober.
Sollte der Zeitplan für den Koalitionsvertrag eingehalten werden, könnte Scholz Anfang Dezember zum neuen Regierungschef gewählt werden. Zuvor müssten allerdings die drei Parteien in Basisbefragungen oder auf Parteitagen das ausgehandelte Regierungsprogramm billigen. Ob es darüber hinaus auch verfassungskonform wird, steht auf einem anderen Blatt.